1 Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe
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4 Hamburger Ausgabe, Band 6
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14 Wie froh bin ich, dass ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz
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15 des Menschen! Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich
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16 unzertrennlich war, und froh zu sein! Ich weiss, du verzeihst mir's.
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17 Waren nicht meine uebrigen Verbindungen recht ausgesucht vom Schicksal,
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18 um ein Herz wie das meine zu aengstigen? Die arme Leonore! Und doch
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19 war ich unschuldig. Konnt' ich dafuer, dass, waehrend die eigensinnigen
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20 Reize ihrer Schwester mir eine angenehme Unterhaltung verschafften,
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21 dass eine Leidenschaft in dem armen Herzen sich bildete? Und doch--bin
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22 ich ganz unschuldig? Hab' ich nicht ihre Empfindungen genaehrt? Hab'
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23 ich mich nicht an den ganz wahren Ausdruecken der Natur, die uns so oft
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24 zu lachen machten, so wenig laecherlich sie waren, selbst ergetzt?
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25 Hab' ich nicht--o was ist der Mensch, dass er ueber sich klagen darf!
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26 Ich will, lieber Freund, ich verspreche dir's, ich will mich bessern,
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27 will nicht mehr ein bisschen UEbel, das uns das Schicksal vorlegt,
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28 wiederkaeuen, wie ich's immer getan habe; ich will das Gegenwaertige
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29 geniessen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Gewiss, du hast
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30 recht, Bester, der Schmerzen waeren minder unter den Menschen, wenn sie
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31 nicht--Gott weiss, warum sie so gemacht sind!--mit so viel Emsigkeit
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32 der Einbildungskraft sich beschaeftigten, die Erinnerungen des
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33 vergangenen UEbels zurueckzurufen, eher als eine gleichgueltige Gegenwart
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36 Du bist so gut, meiner Mutter zu sagen, dass ich ihr Geschaeft bestens
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37 betreiben und ihr ehstens Nachricht davon geben werde. Ich habe meine
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38 Tante gesprochen und bei weitem das boese Weib nicht gefunden, das man
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39 bei uns aus ihr macht. Sie ist eine muntere, heftige Frau von dem
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40 besten Herzen. Ich erklaerte ihr meiner Mutter Beschwerden ueber den
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41 zurueckgehaltenen Erbschaftsanteil; sie sagte mir ihre Gruende, Ursachen
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42 und die Bedingungen, unter welchen sie bereit waere, alles
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43 herauszugeben, und mehr als wir verlangten--kurz, ich mag jetzt nichts
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44 davon schreiben, sage meiner Mutter, es werde alles gut gehen. Und
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45 ich habe, mein Lieber, wieder bei diesem kleinen Geschaeft gefunden,
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46 dass Missverstaendnisse und Traegheit vielleicht mehr Irrungen in der Welt
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47 machen als List und Bosheit. Wenigstens sind die beiden letzteren
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50 UEbrigens befinde ich mich hier gar wohl. Die Einsamkeit ist meinem
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51 Herzen koestlicher Balsam in dieser paradiesischen Gegend, und diese
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52 Jahreszeit der Jugend waermt mit aller Fuelle mein oft schauderndes Herz.
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53 Jeder Baum, jede Hecke ist ein Strauss von Blueten, und man moechte zum
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54 Maienkaefer werden, um in dem Meer von Wohlgeruechen herumschweben und
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55 alle seine Nahrung darin finden zu koennen.
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57 Die Stadt selbst ist unangenehm, dagegen rings umher eine
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58 unaussprechliche Schoenheit der Natur. Das bewog den verstorbenen
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59 Grafen von M., einen Garten auf einem der Huegel anzulegen, die mit der
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60 schoensten Mannigfaltigkeit sich kreuzen und die lieblichsten Taeler
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61 bilden. Der Garten ist einfach, und man fuehlt gleich bei dem
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62 Eintritte, dass nicht ein wissenschaftlicher Gaertner, sondern ein
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63 fuehlendes Herz den Plan gezeichnet, das seiner selbst hier geniessen
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64 wollte. Schon manche Traene hab' ich dem Abgeschiedenen in dem
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65 verfallenen Kabinettchen geweint, das sein Lieblingsplaetzchen war und
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66 auch meines ist. Bald werde ich Herr vom Garten sein; der Gaertner ist
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67 mir zugetan, nur seit den paar Tagen, und er wird sich nicht uebel
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73 Eine wunderbare Heiterkeit hat meine ganze Seele eingenommen, gleich
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74 den suessen Fruehlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen geniesse. Ich bin
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75 allein und freue mich meines Lebens in dieser Gegend, die fuer solche
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76 Seelen geschaffen ist wie die meine. Ich bin so gluecklich, mein
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77 Bester, so ganz in dem Gefuehle von ruhigem Dasein versunken, dass meine
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78 Kunst darunter leidet. Ich koennte jetzt nicht zeichnen, nicht einen
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79 Strich, und bin nie ein groesserer Maler gewesen als in diesen
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80 Augenblicken. Wenn das liebe Tal um mich dampft, und die hohe Sonne
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81 an der Oberflaeche der undurchdringlichen Finsternis meines Waldes ruht,
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82 und nur einzelne Strahlen sich in das innere Heiligtum stehlen, ich
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83 dann im hohen Grase am fallenden Bache liege, und naeher an der Erde
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84 tausend mannigfaltige Graeschen mir merkwuerdig werden; wenn ich das
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85 Wimmeln der kleinen Welt zwischen Halmen, die unzaehligen,
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86 unergruendlichen Gestalten der Wuermchen, der Mueckchen naeher an meinem
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87 Herzen fuehle, und fuehle die Gegenwart des Allmaechtigen, der uns nach
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88 seinem Bilde schuf, das Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne
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89 schwebend traegt und erhaelt; mein Freund! Wenn's dann um meine Augen
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90 daemmert, und die Welt um mich her und der Himmel ganz in meiner Seele
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91 ruhn wie die Gestalt einer Geliebten--dann sehne ich mich oft und
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92 denke : ach koenntest du das wieder ausdruecken, koenntest du dem Papiere
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93 das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, dass es wuerde der
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94 Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen
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95 Gottes!--mein Freund--aber ich gehe darueber zugrunde, ich erliege
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96 unter der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen.
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98 Ich weiss nicht, ob taeuschende Geister um diese Gegend schweben, oder
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99 ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen ist, die mir alles
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100 rings umher so paradiesisch macht. Das ist gleich vor dem Orte ein
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101 Brunnen, ein Brunnen, an den ich gebannt bin wie Melusine mit ihren
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102 Schwestern.--Du gehst einen kleinen Huegel hinunter und findest dich
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103 vor einem Gewoelbe, da wohl zwanzig Stufen hinabgehen, wo unten das
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104 klarste Wasser aus Marmorfelsen quillt. Die kleine Mauer, die oben
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105 umher die Einfassung macht, die hohen Baeume, die den Platz rings umher
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106 bedecken, die Kuehle des Orts; das hat alles so was Anzuegliches, was
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107 Schauerliches. Es vergeht kein Tag, dass ich nicht eine Stunde da
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108 sitze. Da kommen die Maedchen aus der Stadt und holen Wasser, das
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109 harmloseste Geschaeft und das noetigste, das ehemals die Toechter der
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110 Koenige selbst verrichteten. Wenn ich da sitze, so lebt die
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111 patriarchalische Idee so lebhaft um mich, wie sie, alle die Altvaeter,
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112 am Brunnen Bekanntschaft machen und freien, und wie um die Brunnen und
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113 Quellen wohltaetige Geister schweben. O der muss nie nach einer
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114 schweren Sommertagswanderung sich an des Brunnens Kuehle gelabt haben,
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115 der das nicht mitempfinden kann.
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120 Du fragst, ob du mir meine Buecher schicken sollst?--lieber, ich bitte
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121 dich um Gottes willen, lass mir sie vom Halse! Ich will nicht mehr
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122 geleitet, ermuntert, angefeuert sein, braust dieses Herz doch genug
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123 aus sich selbst; ich brauche Wiegengesang, und den habe ich in seiner
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124 Fuelle gefunden in meinem Homer. Wie oft lull' ich mein empoertes Blut
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125 zur Ruhe, denn so ungleich, so unstet hast du nichts gesehn als dieses
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126 Herz. Lieber! Brauch' ich dir das zu sagen, der du so oft die Last
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127 getragen hast, mich vom Kummer zur Ausschweifung und von suesser
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128 Melancholie zur verderblichen Leidenschaft uebergehen zu sehn? Auch
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129 halte ich mein Herzchen wie ein krankes Kind; jeder Wille wird ihm
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130 gestattet. Sage das nicht weiter; es gibt Leute, die mir es veruebeln
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136 Die geringen Leute des Ortes kennen mich schon und lieben mich,
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137 besonders die Kinder. Eine traurige Bemerkung hab' ich gemacht. Wie
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138 ich im Anfange mich zu ihnen gesellte, sie freundschaftlich fragte
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139 ueber dies und das, glaubten einige, ich wollte ihrer spotten, und
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140 fertigten mich wohl gar grob ab. Ich liess mich das nicht verdriessen;
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141 nur fuehlte ich, was ich schon oft bemerkt habe, auf das lebhafteste :
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142 Leute von einigem Stande werden sich immer in kalter Entfernung vom
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143 gemeinen Volke halten, als glaubten sie durch Annaeherung zu verlieren;
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144 und dann gibt's Fluechtlinge und ueble Spassvoegel, die sich herabzulassen
\r
145 scheinen, um ihren UEbermut dem armen Volke desto empfindlicher zu
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148 Ich weiss wohl, dass wir nicht gleich sind, noch sein koennen; aber ich
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149 halte dafuer, dass der, der noetig zu haben glaubt, vom so genannten
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150 Poebel sich zu entfernen, um den Respekt zu erhalten, ebenso tadelhaft
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151 ist als ein Feiger, der sich vor seinem Feinde verbirgt, weil er zu
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152 unterliegen fuerchtet.
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154 Letzthin kam ich zum Brunnen und fand ein junges Dienstmaedchen, das
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155 ihr Gefaess auf die unterste Treppe gesetzt hatte und sich umsah, ob
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156 keine Kameraedin kommen wollte, ihr es auf den Kopf zu helfen. Ich
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157 stieg hinunter und sah sie an.--"Soll ich Ihr helfen, Jungfer?" sagte
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158 ich.--sie ward rot ueber und ueber.--"O nein, Herr!" sagte sie.--"Ohne
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159 Umstaende".--sie legte ihren Kragen zurecht, und ich half ihr. Sie
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160 dankte und stieg hinauf.
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165 Ich habe allerlei Bekanntschaft gemacht, Gesellschaft habe ich noch
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166 keine gefunden. Ich weiss nicht, was ich Anzuegliches fuer die Menschen
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167 haben muss; es moegen mich ihrer so viele und haengen sich an mich, und
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168 da tut mir's weh, wenn unser Weg nur eine kleine Strecke miteinander
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169 geht. Wenn du fragst, wie die Leute hier sind, muss ich dir sagen: wie
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170 ueberall! Es ist ein einfoermiges Ding um das Menschengeschlecht. Die
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171 meisten verarbeiten den groessten Teil der Zeit, um zu leben, und das
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172 bisschen, das ihnen von Freiheit uebrig bleibt, aengstigt sie so, dass sie
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173 alle Mittel aufsuchen, um es los zu werden. O Bestimmung des Menschen!
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176 Aber eine recht gute Art Volks! Wenn ich mich manchmal vergesse,
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177 manchmal mit ihnen die Freuden geniesse, die den Menschen noch gewaehrt
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178 sind, an einem artig besetzten Tisch mit aller Offen--und
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179 Treuherzigkeit sich herumzuspassen, eine Spazierfahrt, einen Tanz zur
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180 rechten Zeit anzuordnen, und dergleichen, das tut eine ganz gute
\r
181 Wirkung auf mich; nur muss mir nicht einfallen, dass noch so viele
\r
182 andere Kraefte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich
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183 sorgfaeltig verbergen muss. Ach das engt das ganze Herz so ein.--Und
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184 doch! Missverstanden zu werden, ist das Schicksal von unsereinem.
\r
186 Ach, dass die Freundin meiner Jugend dahin ist, ach, dass ich sie je
\r
187 gekannt habe!--ich wuerde sagen: du bist ein Tor! Du suchst, was
\r
188 hienieden nicht zu finden ist! Aber ich habe sie gehabt, ich habe das
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189 Herz gefuehlt, die grosse Seele, in deren Gegenwart ich mir schien mehr
\r
190 zu sein, als ich war, weil ich alles war, was ich sein konnte. Guter
\r
191 Gott! Blieb da eine einzige Kraft meiner Seele ungenutzt? Konnt' ich
\r
192 nicht vor ihr das ganze wunderbare Gefuehl entwickeln, mit dem mein
\r
193 Herz die Natur umfasst? War unser Umgang nicht ein ewiges Weben von
\r
194 der feinsten Empfindung, dem schaerfsten Witze, dessen Modifikationen,
\r
195 bis zur Unart, alle mit dem Stempel des Genies bezeichnet waren? Und
\r
196 nun!--ach ihre Jahre, die sie voraus hatte, fuehrten sie frueher ans
\r
197 Grab als mich. Nie werde ich sie vergessen, nie ihren festen Sinn und
\r
198 ihre goettliche Duldung.
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200 Vor wenig Tagen traf ich einen jungen V. an, einen offnen Jungen, mit
\r
201 einer gar gluecklichen Gesichtsbildung. Er kommt erst von Akademien
\r
202 duenkt sich eben nicht weise, aber glaubt doch, er wisse mehr als
\r
203 andere. Auch war er fleissig, wie ich an allerlei spuere, kurz, er hat
\r
204 huebsche Kenntnisse. Da er hoerte, dass ich viel zeichnete und
\r
205 Griechisch koennte (zwei Meteore hierzulande), wandte er sich an mich
\r
206 und kramte viel Wissens aus, von Batteux bis zu Wood, von de Piles zu
\r
207 Winckelmann, und versicherte mich, er habe Sulzers Theorie, den ersten
\r
208 Teil, ganz durchgelesen und besitze ein Manuskript von Heynen ueber das
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209 Studium der Antike. Ich liess das gut sein.
\r
211 Noch gar einen braven Mann habe ich kennen lernen, den fuerstlichen
\r
212 Amtmann, einen offenen, treuherzigen Menschen. Man sagt, es soll eine
\r
213 Seelenfreude sein, ihn unter seinen Kindern zu sehen, deren er neun
\r
214 hat; besonders macht man viel Wesens von seiner aeltesten Tochter. Er
\r
215 hat mich zu sich gebeten, und ich will ihn ehster Tage besuchen. Er
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216 wohnt auf einem fuerstlichen Jagdhofe, anderthalb Stunden von hier,
\r
217 wohin er nach dem Tode seiner Frau zu ziehen die Erlaubnis erhielt, da
\r
218 ihm der Aufenthalt hier in der Stadt und im Amthause zu weh tat.
\r
220 Sonst sind mir einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen, an
\r
221 denen alles unausstehlich ist, am unertraeglichsten
\r
222 Freundschaftsbezeigungen.
\r
224 Leb' wohl! Der Brief wird dir recht sein, er ist ganz historisch.
\r
229 Dass das Leben des Menschen nur ein Traum sei, ist manchem schon so
\r
230 vorgekommen, und auch mit mir zieht dieses Gefuehl immer herum. Wenn
\r
231 ich die Einschraenkung ansehe, in welcher die taetigen und forschenden
\r
232 Kraefte des Menschen eingesperrt sind; wenn ich sehe, wie alle
\r
233 Wirksamkeit dahinaus laeuft, sich die Befriedigung von Beduerfnissen zu
\r
234 verschaffen, die wieder keinen Zweck haben, als unsere arme Existenz
\r
235 zu verlaengern, und dann, dass alle Beruhigung ueber gewisse Punkte des
\r
236 Nachforschens nur eine traeumende Regignation ist, da man sich die
\r
237 Waende, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und
\r
238 lichten Aussichten bemalt--das alles, Wilhelm, macht mich stumm. Ich
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239 kehre in mich selbst zurueck, und finde eine Welt! Wieder mehr in
\r
240 Ahnung und dunkler Begier als in Darstellung und lebendiger Kraft.
\r
241 Und da schwimmt alles vor meinen Sinnen, und ich laechle dann so
\r
242 traeumend weiter in die Welt.
\r
244 Dass die Kinder nicht wissen, warum sie wollen, darin sind alle
\r
245 hochgelahrten Schul--und Hofmeister einig; dass aber auch Erwachsene
\r
246 gleich Kindern auf diesem Erdboden herumtaumeln und wie jene nicht
\r
247 wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, ebensowenig nach wahren
\r
248 Zwecken handeln, ebenso durch Biskuit und Kuchen und Birkenreiser
\r
249 regiert werden: das will niemand gern glauben, und mich duenkt, man
\r
250 kann es mit Haenden greifen.
\r
252 Ich gestehe dir gern, denn ich weiss, was du mir hierauf sagen moechtest,
\r
253 dass diejenigen die Gluecklichsten sind, die gleich den Kindern in den
\r
254 Tag hinein leben, ihre Puppen herumschleppen, aus--und anziehen und
\r
255 mit grossem Respekt um die Schublade umherschleichen, wo Mama das
\r
256 Zuckerbrot hineingeschlossen hat, und, wenn sie das gewuenschte endlich
\r
257 erhaschen, es mit vollen Backen verzehren und rufen:"mehr!"--das sind
\r
258 glueckliche Geschoepfe. Auch denen ist's wohl, die ihren
\r
259 Lumpenbeschaeftigungen oder wohl gar ihren Leidenschaften praechtige
\r
260 Titel geben und sie dem Menschengeschlechte als Riesenoperationen zu
\r
261 dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben.--Wohl dem, der so sein kann!
\r
262 Wer aber in seiner Demut erkennt, wo das alles hinauslaeuft, wer da
\r
263 sieht, wie artig jeder Buerger, dem es wohl ist, sein Gaertchen zum
\r
264 Paradiese zuzustutzen weiss, und wie unverdrossen auch der Unglueckliche
\r
265 unter der Buerde seinen Weg fortkeucht, und alle gleich interessiert
\r
266 sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute laenger zu sehn--ja, der
\r
267 ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst und ist auch
\r
268 gluecklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschraenkt er ist,
\r
269 haelt er doch immer im Herzen das suesse Gefuehl der Freiheit, und dass er
\r
270 diesen Kerker verlassen kann, wann er will.
\r
275 Du kennst von alters her meine Art, mich anzubauen, mir irgend an
\r
276 einem vertraulichen Orte ein Huettchen aufzuschlagen und da mit aller
\r
277 Einschraenkung zu herbergen. Auch hier habe ich wieder ein Plaetzchen
\r
278 angetroffen, das mich angezogen hat.
\r
280 Ungefaehr eine Stunde von der Stadt liegt ein Ort, den sie Wahlheim
\r
281 nennen. Die Lage an einem Huegel ist sehr interessant, und wenn man
\r
282 oben auf dem Fusspfade zum Dorf herausgeht, uebersieht man auf einmal
\r
283 das ganze Tal. Eine gute Wirtin, die gefaellig und munter in ihrem
\r
284 Alter ist, schenkt Wein, Bier, Kaffee; und was ueber alles geht, sind
\r
285 zwei Linden, die mit ihren ausgebreiteten [sten den kleinen Platz vor
\r
286 der Kirche bedecken, der ringsum mit Bauerhaeusern, Scheunen und Hoefen
\r
287 eingeschlossen ist. So vertraulich, so heimlich hab' ich nicht leicht
\r
288 ein Plaetzchen gefunden, und dahin lass' ich mein Tischchen aus dem
\r
289 Wirtshause bringen und meinen Stuhl, trinke meinen Kaffee da und lese
\r
290 meinen Homer. Das erstenmal, als ich durch einen Zufall an einem
\r
291 schoenen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plaetzchen so
\r
292 einsam. Es war alles im Felde; nur ein Knabe von ungefaehr vier Jahren
\r
293 sass an der Erde und hielt ein anderes, etwa halbjaehriges, vor ihm
\r
294 zwischen seinen Fuessen sitzendes Kind mit beiden Armen wider seine
\r
295 Brust, so dass er ihm zu einer Art von Sessel diente und ungeachtet der
\r
296 Munterkeit, womit er aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz
\r
297 ruhig sass. Mich vergnuegte der Anblick: ich setzte mich auf einen
\r
298 Pflug, der gegenueber stand, und zeichnete die bruederliche Stellung mit
\r
299 vielem Ergetzen. Ich fuegte den naechsten Zaun, ein Scheunentor und
\r
300 einige gebrochene Wagenraeder bei, alles, wie es hinter einander stand,
\r
301 und fand nach Verlauf einer Stunde, dass ich eine wohlgeordnete, sehr
\r
302 interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeste von dem
\r
303 Meinen hinzuzutun. Das bestaerkte mich in meinem Vorsatze, mich
\r
304 kuenftig allein an die Natur zu halten. Sie allein ist unendlich reich,
\r
305 und sie allein bildet den grossen Kuenstler. Man kann zum Vorteile der
\r
306 Regeln viel sagen, ungefaehr was man zum Lobe der buergerlichen
\r
307 Gesellschaft sagen kann. Ein Mensch, der sich nach ihnen bildet, wird
\r
308 nie etwas Abgeschmacktes und Schlechtes hervorbringen, wie einer, der
\r
309 sich durch Gesetze und Wohlstand modeln laesst, nie ein unertraeglicher
\r
310 Nachbar, nie ein merkwuerdiger Boesewicht werden kann; dagegen wird aber
\r
311 auch alle Regel, man rede was man wolle, das wahre Gefuehl von Natur
\r
312 und den wahren Ausdruck derselben zerstoeren! Sag' du: 'das ist zu
\r
313 hart! Sie schraenkt nur ein, beschneidet die geilen Reben' etc.--guter
\r
314 Freund, soll ich dir ein Gleichnis geben? Es ist damit wie mit der
\r
315 Liebe. Ein junges Herz haengt ganz an einem Maedchen, bringt alle
\r
316 Stunden seines Tages bei ihr zu, verschwendet alle seine Kraefte, all
\r
317 sein Vermoegen, um ihr jeden Augenblick auszudruecken, dass er sich ganz
\r
318 ihr hingibt. Und da kaeme ein Philister, ein Mann, der in einem
\r
319 oeffentlichen Amte steht, und sagte zu ihm: 'feiner junger Herr!
\r
320 Lieben ist menschlich, nur muesst Ihr menschlich lieben! Teilet Eure
\r
321 Stunden ein, die einen zur Arbeit, und die Erholungsstunden widmet
\r
322 Eurem Maedchen. Berechnet Euer Vermoegen, und was Euch von Eurer
\r
323 Notdurft uebrig bleibt, davon verwehr' ich Euch nicht, ihr ein Geschenk,
\r
324 nur nicht zu oft, zu machen, etwa zu ihrem Geburts--und Namenstage '
\r
325 etc.--folgt der Mensch, so gibt's einen brauchbaren jungen Menschen,
\r
326 und ich will selbst jedem Fuersten raten, ihn in ein Kollegium zu
\r
327 setzen; nur mit seiner Liebe ist's am Ende und, wenn er ein Kuenstler
\r
328 ist, mit seiner Kunst. O meine Freunde! Warum der Strom des Genies
\r
329 so selten ausbricht, so selten in hohen Fluten hereinbraust und eure
\r
330 staunende Seele erschuettert?--liebe Freunde, da wohnen die gelassenen
\r
331 Herren auf beiden Seiten des Ufers, denen ihre Gartenhaeuschen,
\r
332 Tulpenbeete und Krautfelder zugrunde gehen wuerden, die daher in Zeiten
\r
333 mit Daemmen und Ableiten der kuenftig drohenden Gefahr abzuwehren wissen.
\r
339 Ich bin, wie ich sehe, in Verzueckung, Gleichnisse und Deklamation
\r
340 verfallen und habe darueber vergessen, dir auszuerzaehlen, was mit den
\r
341 Kindern weiter geworden ist. Ich sass, ganz in malerische Empfindung
\r
342 vertieft, die dir mein gestriges Blatt sehr zerstueckt darlegt, auf
\r
343 meinem Pfluge wohl zwei Stunden. Da kommt gegen Abend eine junge Frau
\r
344 auf die Kinder los, die sich indes nicht geruehrt hatten, mit einem
\r
345 Koerbchen am Arm und ruft von weitem: "Philipps, du bist recht brav".
\r
346 --Sie gruesste mich, ich dankte ihr, stand auf, trat naeher hin und
\r
347 fragte sie, ob sie Mutter von den Kindern waere? Sie bejahte es, und
\r
348 indem sie dem aeltesten einen halben Weck gab, nahm sie das kleine auf
\r
349 und kuesste es mit aller muetterlichen Liebe.--"ich habe", sagte sie,
\r
350 "meinem Philipps das Kleine zu halten gegeben und bin mit meinem
\r
351 AEltesten in die Stadt gegangen, um weiss Brot zu holen und Zucker und
\r
352 ein irden Breipfaennchen".--Ich sah das alles in dem Korbe, dessen
\r
353 Deckel abgefallen war.--"Ich will meinem Hans (das war der Name des
\r
354 Juengsten) ein Sueppchen kochen zum Abende; der lose Vogel, der Grosse,
\r
355 hat mir gestern das Pfaennchen zerbrochen, als er sich mit Philippsen
\r
356 um die Scharre des Breis zankte".--ich fragte nach dem AEltesten, und
\r
357 sie hatte mir kaum gesagt, dass er sich auf der Wiese mit ein paar
\r
358 Gaensen herumjage, als er gesprungen kam und dem Zweiten eine
\r
359 Haselgerte mitbrachte. Ich unterhielt mich weiter mit dem Weibe und
\r
360 erfuhr, dass sie des Schulmeisters Tochter sei, und dass ihr Mann eine
\r
361 Reise in die Schweiz gemacht habe, um die Erbschaft eines Vetters zu
\r
362 holen.--"Sie haben ihn drum betriegen wollen", sagte sie,"und ihm auf
\r
363 seine Briefe nicht geantwortet; da ist er selbst hineingegangen. Wenn
\r
364 ihm nur kein Unglueck widerfahren ist, ich hoere nichts von ihm".--Es
\r
365 ward mir schwer, mich von dem Weibe los zu machen, gab jedem der
\r
366 Kinder einen Kreuzer, und auch fuers juengste gab ich ihr einen, ihm
\r
367 einen Weck zur Suppe mitzubringen, wenn sie in die Stadt ginge, und so
\r
368 schieden wir von einander.
\r
370 Ich sage dir, mein Schatz, wenn meine Sinne gar nicht mehr halten
\r
371 wollen, so lindert all den Tumult der Anblick eines solchen Geschoepfs,
\r
372 das in gluecklicher Gelassenheit den engen Kreis seines Daseins hingeht,
\r
373 von einem Tage zum andern sich durchhilft, die Blaetter abfallen sieht
\r
374 und nichts dabei denkt, als dass der Winter kommt.
\r
376 Seit der Zeit bin ich oft draussen. Die Kinder sind ganz an mich
\r
377 gewoehnt, sie kriegen Zucker, wenn ich Kaffee trinke, und teilen das
\r
378 Butterbrot und die saure Milch mit mir des Abends. Sonntags fehlt
\r
379 ihnen der Kreuzer nie, und wenn ich nicht nach der Betstunde da bin,
\r
380 so hat die Wirtin Ordre, ihn auszuzahlen.
\r
382 Sie sind vertraut, erzaehlen mir allerhand, und besonders ergetze ich
\r
383 mich an ihren Leidenschaften und simpeln Ausbruechen des Begehrens,
\r
384 wenn mehr Kinder aus dem Dorfe sich versammeln.
\r
386 Viele Muehe hat mich's gekostet, der Mutter ihre Besorgnis zu nehmen,
\r
387 sie moechten den Herrn inkommodieren.
\r
392 Was ich dir neulich von der Malerei sagte, gilt gewiss auch von der
\r
393 Dichtkunst; es ist nur, dass man das Vortreffliche erkenne und es
\r
394 auszusprechen wage, und das ist freilich mit wenigem viel gesagt. Ich
\r
395 habe heute eine Szene gehabt, die, rein abgeschrieben, die schoenste
\r
396 Idylle von der Welt gaebe; doch was soll Dichtung, Szene und Idylle?
\r
397 Muss es denn immer gebosselt sein, wenn wir teil an einer
\r
398 Naturerscheinung nehmen sollen?
\r
400 Wenn du auf diesen Eingang viel Hohes und Vornehmes erwartest, so bist
\r
401 du wieder uebel betrogen; es ist nichts als ein Bauerbursch, der mich
\r
402 zu dieser lebhaften Teilnehmung hingerissen hat. Ich werde, wie
\r
403 gewoehnlich, schlecht erzaehlen, und du wirst mich, wie gewoehnlich,
\r
404 denk' ich, uebertrieben finden; es ist wieder Wahlheim, und immer
\r
405 Wahlheim, das diese Seltenheiten hervorbringt.
\r
407 Es war eine Gesellschaft draussen unter den Linden, Kaffee zu trinken.
\r
408 Weil sie mir nicht ganz anstand, so blieb ich unter einem Vorwande
\r
411 Ein Bauerbursch kam aus einem benachbarten Hause und beschaeftigte sich,
\r
412 an dem Pfluge, den ich neulich gezeichnet hatte, etwas zurecht zu
\r
413 machen. Da mir sein Wesen gefiel, redete ich ihn an, fragte nach
\r
414 seinen Umstaenden, wir waren bald bekannt und, wie mir's gewoehnlich mit
\r
415 dieser Art Leuten geht, bald vertraut. Er erzaehlte mir, dass er bei
\r
416 einer Witwe in Diensten sei und von ihr gar wohl gehalten werde. Er
\r
417 sprach so vieles von ihr und lobte sie dergestalt, dass ich bald merken
\r
418 konnte, er sei ihr mit Leib und Seele zugetan. Sie sei nicht mehr
\r
419 jung, sagte er, sie sei von ihrem ersten Mann uebel gehalten worden,
\r
420 wolle nicht mehr heiraten, und aus seiner Erzaehlung leuchtete so
\r
421 merklich hervor, wie schoen, wie reizend sie fuer ihn sei, wie sehr er
\r
422 wuenschte, dass sie ihn waehlen moechte, um das Andenken der Fehler ihres
\r
423 ersten Mannes auszuloeschen, dass ich Wort fuer Wort wiederholen muesste,
\r
424 um dir die reine Neigung, die Liebe und Treue dieses Menschen
\r
425 anschaulich zu machen. Ja, ich muesste die Gabe des groessten Dichters
\r
426 besitzen, um dir zugleich den Ausdruck seiner Gebaerden, die Harmonie
\r
427 seiner Stimme, das heimliche Feuer seiner Blicke lebendig darstellen
\r
428 zu koennen. Nein, es sprechen keine Worte die Zartheit aus, die in
\r
429 seinem ganzen Wesen und Ausdruck war; es ist alles nur plump, was ich
\r
430 wieder vorbringen koennte. Besonders ruehrte mich, wie er fuerchtete,
\r
431 ich moechte ueber sein Verhaeltnis zu ihr ungleich denken und an ihrer
\r
432 guten Auffuehrung zweifeln. Wie reizend es war, wenn er von ihrer
\r
433 Gestalt, von ihrem Koerper sprach, der ihn ohne jugendliche Reize
\r
434 gewaltsam an sich zog und fesselte, kann ich mir nur in meiner
\r
435 innersten Seele wiederholen. Ich hab' in meinem Leben die dringende
\r
436 Begierde und das heisse, sehnliche Verlangen nicht in dieser Reinheit
\r
437 gesehen, ja wohl kann ich sagen, in dieser Reinheit nicht gedacht und
\r
438 getraeumt. Schelte mich nicht, wenn ich dir sage, dass bei der
\r
439 Erinnerung dieser Unschuld und Wahrheit mir die innerste Seele glueht,
\r
440 und dass mich das Bild dieser Treue und Zaertlichkeit ueberall verfolgt,
\r
441 und dass ich, wie selbst davon entzuendet, lechze und schmachte.
\r
443 Ich will nun suchen, auch sie ehstens zu sehn, oder vielmehr, wenn
\r
444 ich's recht bedenke, ich will's vermeiden. Es ist besser, ich sehe
\r
445 sie durch die Augen ihres Liebhabers; vielleicht erscheint sie mir vor
\r
446 meinen eigenen Augen nicht so, wie sie jetzt vor mir steht, und warum
\r
447 soll ich mir das schoene Bild verderben?
\r
452 Warum ich dir nicht schreibe?--Fragst du das und bist doch auch der
\r
453 Gelehrten einer. Du solltest raten, dass ich mich wohl befinde, und
\r
454 zwar--kurz und gut, ich habe eine Bekanntschaft gemacht, die mein Herz
\r
455 naeher angeht. Ich habe--ich weiss nicht.
\r
457 Dir in der Ordnung zu erzaehlen, wie's zugegangen ist, dass ich eins der
\r
458 liebenswuerdigsten Geschoepfe habe kennen lernen, wird schwer halten.
\r
459 Ich bin vergnuegt und gluecklich, und also kein guter Historienschreiber.
\r
462 Einen Engel!--pfui! Das sagt jeder von der Seinigen, nicht wahr? Und
\r
463 doch bin ich nicht imstande, dir zu sagen, wie sie vollkommen ist,
\r
464 warum sie vollkommen ist; genug, sie hat allen meinen Sinn
\r
467 So viel Einfalt bei so viel Verstand, so viel Guete bei so viel
\r
468 Festigkeit, und die Ruhe der Seele bei dem wahren Leben und der
\r
469 Taetigkeit.--Das ist alles garstiges Gewaesch, was ich da von ihr sage,
\r
470 leidige Abstraktionen, die nicht einen Zug ihres Selbst ausdruecken.
\r
471 Ein andermal--nein, nicht ein andermal, jetzt gleich will ich dir's
\r
472 erzaehlen. Tu' ich 's jetzt nicht, so geschaeh' es niemals. Denn,
\r
473 unter uns, seit ich angefangen habe zu schreiben, war ich schon
\r
474 dreimal im Begriffe, die Feder niederzulegen, mein Pferd satteln zu
\r
475 lassen und hinauszureiten. Und doch schwur ich mir heute frueh, nicht
\r
476 hinauszureiten, und gehe doch alle Augenblick' ans Fenster, zu sehen,
\r
477 wie hoch die Sonne noch steht.--Ich hab's nicht ueberwinden koennen,
\r
478 ich musste zu ihr hinaus. Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein
\r
479 Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das fuer
\r
480 meine Seele ist, sie in dem Kreise der lieben, muntern Kinder, ihrer
\r
481 acht Geschwister, zu sehen!--Wenn ich so fortfahre, wirst du am Ende
\r
482 so klug sein wie am Anfange. Hoere denn, ich will mich zwingen, ins
\r
485 Ich schrieb dir neulich, wie ich den Amtmann S. habe kennen lernen,
\r
486 und wie er mich gebeten habe, ihn bald in seiner Einsiedelei oder
\r
487 vielmehr seinem kleinen Koenigreiche zu besuchen. Ich vernachlaessigte
\r
488 das, und waere vielleicht nie hingekommen, haette mir der Zufall nicht
\r
489 den Schatz entdeckt, der in der stillen Gegend verborgen liegt.
\r
491 Unsere jungen Leute hatten einen Ball auf dem Lande angestellt, zu dem
\r
492 ich mich denn auch willig finden liess. Ich bot einem hiesigen guten,
\r
493 schoenen, uebrigens unbedeutenden Maedchen die Hand, und es wurde
\r
494 ausgemacht, dass ich eine Kutsche nehmen, mit meiner Taenzerin und ihrer
\r
495 Base nach dem Orte der Lustbarkeit hinausfahren und auf dem Wege
\r
496 Charlotten S. mitnehmen sollte.--"Sie werden ein schoenes Frauenzimmer
\r
497 kennenlernen", sagte meine Gesellschafterin, da wir durch den weiten,
\r
498 ausgehauenen Wald nach dem Jagdhause fuhren.--"Nehmen Sie sich in
\r
499 acht", versetzte die Base, "dass Sie sich nicht verlieben!"--"Wieso?"
\r
500 sagte ich.--"Sie ist schon vergeben,"antwortete jene,"an einen sehr
\r
501 braven Mann, der weggereist ist, seine Sachen in Ordnung zu bringen,
\r
502 weil sein Vater gestorben ist, und sich um eine ansehnliche Versorgung
\r
503 zu bewerben".--Die Nachricht war mir ziemlich gleichgueltig.
\r
505 Die Sonne war noch eine Viertelstunde vom Gebirge, als wir vor dem
\r
506 Hoftore anfuhren. Es war sehr schwuel, und die Frauenzimmer aeusserten
\r
507 ihre Besorgnis wegen eines Gewitters, das sich in weissgrauen,
\r
508 dumpfichten Woelkchen rings am Horizonte zusammenzuziehen schien. Ich
\r
509 taeuschte ihre Furcht mit anmasslicher Wetterkunde, ob mir gleich selbst
\r
510 zu ahnen anfing, unsere Lustbarkeit werde einen Stoss leiden.
\r
512 Ich war ausgestiegen, und eine Magd, die ans Tor kam, bat uns, einen
\r
513 Augenblick zu verziehen, Mamsell Lottchen wuerde gleich kommen. Ich
\r
514 ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die
\r
515 vorliegenden Treppen hinaufgestiegen war und in die Tuer trat, fiel mir
\r
516 das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. in
\r
517 dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von eilf zu zwei Jahren um ein
\r
518 Maedchen von schoener Gestalt, mittlerer Groesse, die ein simples weisses
\r
519 Kleid, mit blassroten Schleifen an Arm und Brust, anhatte. Sie hielt
\r
520 ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen rings herum jedem sein
\r
521 Stueck nach Proportion ihres Alters und Appetits ab, gab's jedem mit
\r
522 solcher Freundlichkeit, und jedes rief so ungekuenstelt sein "danke!",
\r
523 indem es mit den kleinen Haendchen lange in die Hoehe gereicht hatte,
\r
524 ehe es noch abgeschnitten war, und nun mit seinem Abendbrote vergnuegt
\r
525 entweder wegsprang, oder nach seinem stillern Charakter gelassen
\r
526 davonging nach dem Hoftore zu, um die Fremden und die Kutsche zu sehen,
\r
527 darin ihre Lotte wegfahren sollte.--"Ich bitte um Vergebung", sagte
\r
528 sie, "dass ich Sie hereinbemuehe und die Frauenzimmer warten lasse.
\r
529 UEber dem Anziehen und allerlei Bestellungen fuers Haus in meiner
\r
530 Abwesenheit habe ich vergessen, meinen Kindern ihr Vesperbrot zu geben,
\r
531 und sie wollen von niemanden Brot geschnitten haben als von mir".
\r
533 Ich machte ihr ein unbedeutendes Kompliment, meine ganze Seele ruhte
\r
534 auf der Gestalt, dem Tone, dem Betragen, und ich hatte eben Zeit, mich
\r
535 von der UEberraschung zu erholen, als sie in die Stube lief, ihre
\r
536 Handschuhe und den Faecher zu holen. Die Kleinen sahen mich in einiger
\r
537 Entfernung so von der Seite an, und ich ging auf das juengste los, das
\r
538 ein Kind von der gluecklichsten Gesichtsbildung war. Es zog sich
\r
539 zurueck, als eben Lotte zur Tuere herauskam und sagte:"Louis, gib dem
\r
540 Herrn Vetter eine Hand".--das tat der Knabe sehr freimuetig, und ich
\r
541 konnte mich nicht enthalten, ihn, ungeachtet seines kleinen
\r
542 Rotznaeschens, herzlich zu kuessen.
\r
544 "Vetter?" sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte," glauben Sie, dass
\r
545 ich des Gluecks wert sei, mit Ihnen verwandt zu sein?"--"O", sagte sie
\r
546 mit einem leichtfertigen Laecheln, "unsere Vetterschaft ist sehr
\r
547 weitlaeufig, und es waere mir leid, wenn Sie der schlimmste drunter sein
\r
548 sollten".--Im Gehen gab sie Sophien, der aeltesten Schwester nach ihr,
\r
549 einem Maedchen von ungefaehr elf Jahren, den Auftrag, wohl auf die
\r
550 Kinder acht zu haben und den Papa zu gruessen, wenn er vom Spazierritte
\r
551 nach Hause kaeme. Den Kleinen sagte sie, sie sollten ihrer Schwester
\r
552 Sophie folgen, als wenn sie's selber waere, das denn auch einige
\r
553 ausdruecklich versprachen. Eine kleine, naseweise Blondine aber, von
\r
554 ungefaehr sechs Jahren, sagte: "du bist's doch nicht, Lottchen, wir
\r
555 haben dich doch lieber".--die zwei aeltesten Knaben waren hinten auf
\r
556 die Kutsche geklettert, und auf mein Vorbitten erlaubte sie ihnen, bis
\r
557 vor den Wald mitzufahren, wenn sie verspraechen, sich nicht zu necken
\r
558 und sich recht festzuhalten.
\r
560 Wir hatten uns kaum zurecht gesetzt, die Frauenzimmer sich bewillkommt,
\r
561 wechselsweise ueber den Anzug, vorzueglich ueber die Huete ihre
\r
562 Anmerkungen gemacht und die Gesellschaft, die man erwartete, gehoerig
\r
563 durchgezogen, als Lotte den Kutscher halten und ihre Brueder
\r
564 herabsteigen liess, die noch einmal ihre Hand zu kuessen begehrten, das
\r
565 denn der aelteste mit aller Zaertlichkeit, die dem Alter von fuenfzehn
\r
566 Jahren eigen sein kann, der andere mit viel Heftigkeit und Leichtsinn
\r
567 tat. Sie liess die Kleinen noch einmal gruessen, und wir fuhren weiter.
\r
569 Die Base fragte, ob sie mit dem Buche fertig waere, das sie ihr neulich
\r
570 geschickt haette.--"nein", sagte Lotte,"es gefaellt mir nicht, Sie
\r
571 koennen's wiederhaben. Das vorige war auch nicht besser".--Ich
\r
572 erstaunte, als ich fragte, was es fuer Buecher waeren, und sie mir
\r
573 antwortete:--ich fand so viel Charakter in allem, was sie sagte, ich
\r
574 sah mit jedem Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus ihren
\r
575 Gesichtszuegen hervorbrechen, die sich nach und nach vergnuegt zu
\r
576 entfalten schienen, weil sie an mir fuehlte, dass ich sie verstand.
\r
578 "Wie ich juenger war", sagte sie, "liebte ich nichts so sehr als Romane.
\r
579 Weiss Gott, wie wohl mir's war, wenn ich mich Sonntags in so ein
\r
580 Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glueck und Unstern einer
\r
581 Miss Jonny teilnehmen konnte. Ich leugne auch nicht, dass die Art noch
\r
582 einige Reize fuer mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch komme,
\r
583 so muss es auch recht nach meinem Geschmack sein. Und der Autor ist
\r
584 mir der liebste, in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht
\r
585 wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und
\r
586 herzlich wird als mein eigen haeuslich Leben, das freilich kein
\r
587 Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsaeglicher Glueckseligkeit
\r
590 Ich bemuehte mich, meine Bewegungen ueber diese Worte zu verbergen. Das
\r
591 ging freilich nicht weit: denn da ich sie mit solcher Wahrheit im
\r
592 Vorbeigehen vom Landpriester von Wakefield, vom--reden hoerte, kam ich
\r
593 ganz ausser mich, sagte ihr alles, was ich musste, und bemerkte erst
\r
594 nach einiger Zeit, da Lotte das Gespraech an die anderen wendete, dass
\r
595 diese die Zeit ueber mit offenen Augen, als saessen sie nicht da,
\r
596 dagesessen hatten. Die Base sah mich mehr als einmal mit einem
\r
597 spoettischen Naeschen an, daran mir aber nichts gelegen war.
\r
599 Das Gespraech fiel aufs Vergnuegen am Tanze.--"wenn diese Leidenschaft
\r
600 ein Fehler ist,"sagte Lotte, "so gestehe ich Ihnen gern, ich weiss mir
\r
601 nichts uebers Tanzen. Und wenn ich was im Kopfe habe und mir auf
\r
602 meinem verstimmten Klavier einen Contretanz vortrommle, so ist alles
\r
605 Wie ich mich unter dem Gespaeche in den schwarzen Augen weidete--wie
\r
606 die lebendigen Lippen und die frischen, muntern Wangen meine ganze
\r
607 Seele anzogen--wie ich, in den herrlichen Sinn ihrer Rede ganz
\r
608 versunken, oft gar die Worte nicht hoerte, mit denen sie sich
\r
609 ausdrueckte--davon hast du eine Vorstellung, weil du mich kennst. Kurz,
\r
610 ich stieg aus dem Wagen wie ein Traeumender, als wir vor dem Lusthause
\r
611 stille hielten, und war so in Traeumen rings in der daemmernden Welt
\r
612 verloren, dass ich auf die Musik kaum achtete, die uns von dem
\r
613 erleuchteten Saal herunter entgegenschallte.
\r
615 Die zwei Herren Audran und ein gewisser N. N.--wer behaelt alle die
\r
616 Namen--, die der Base und Lottens Taenzer waren, empfingen uns am
\r
617 Schlage, bemaechtigten sich ihrer Frauenzimmer, und ich fuehrte das
\r
620 Wir schlangen uns in Menuetts um einander herum; ich forderte ein
\r
621 Frauenzimmer nach dem andern auf, und just die unleidlichsten konnten
\r
622 nicht dazu kommen, einem die Hand zu reichen und ein Ende zu machen.
\r
623 Lotte und ihr Taenzer fingen einen Englischen an, und wie wohl mir's
\r
624 war, als sie auch in der Reihe die Figur mit uns anfing, magst du
\r
625 fuehlen. Tanzen muss man sie sehen! Siehst du, sie ist so mit ganzem
\r
626 Herzen und mit ganzer Seele dabei, ihr ganzer Koerper eine Harmonie, so
\r
627 sorglos, so unbefangen, als wenn das eigentlich alles waere, als wenn
\r
628 sie sonst nichts daechte, nichts empfaende; und in dem Augenblicke gewiss
\r
629 schwindet alles andere vor ihr.
\r
631 Ich bat sie um den zweiten Contretanz; sie sagte mit den dritten zu,
\r
632 und mit der liebenswuerdigsten Freimuetigkeit von der Welt versicherte
\r
633 sie mir, dass sie herzlich gern deutsch tanze.--"Es ist hier so Mode,
\r
634 "fuhr sie fort," dass jedes Paar, das zusammen gehoert, beim Deutschen
\r
635 zusammenbleibt, und mein Chapeau walzt schlecht und dankt mir's, wenn
\r
636 ich ihm die Arbeit erlasse. Ihr Frauenzimmer kann's auch nicht und
\r
637 mag nicht, und ich habe im Englischen gesehen, dass Sie gut walzen;
\r
638 wenn Sie nun mein sein wollen fuers Deutsche, so gehen Sie und bitten
\r
639 sich's von meinem Herrn aus, und ich will zu Ihrer Dame gehen".--ich
\r
640 gab ihr die Hand darauf, und wir machten aus, dass ihr Taenzer
\r
641 inzwischen meine Taenzerin unterhalten sollte.
\r
643 Nun ging's an, und wir ergetzten uns eine Weile an manigfaltigen
\r
644 Schlingungen der Arme. Mit welchem Reize, mit welcher Fluechtigkeit
\r
645 bewegte sie sich! Und da wir nun gar ans Walzen kamen und wie die
\r
646 Sphaeren um einander herumrollten, ging's freilich anfangs, weil's die
\r
647 wenigsten koennen, ein bisschen bunt durcheinander. Wir waren klug und
\r
648 liessen sie austoben, und als die Ungeschicktesten den Plan geraeumt
\r
649 hatten, fielen wir ein und hielten mit noch einem Paare, mit Audran
\r
650 und seiner Taenzerin, wacker aus. Nie ist mir's so leicht vom Flecke
\r
651 gegangen. Ich war kein Mensch mehr. Das liebenswuerdigste Geschoepf in
\r
652 den Armen zu haben und mit ihr herumzufliegen wie Wetter, dass alles
\r
653 rings umher verging, und--Wilhelm, um ehrlich zu sein, tat ich aber
\r
654 doch den Schwur, dass ein Maedchen, das ich liebte, auf das ich
\r
655 Ansprueche haette, mir nie mit einem andern walzen sollte als mit mir,
\r
656 und wenn ich drueber zugrunde gehen muesste. Du verstehst mich!
\r
658 Wir machten einige Touren gehend im Saale, um zu verschnaufen. Dann
\r
659 setzte sie sich, und die Orangen, die ich beiseite gebracht hatte, die
\r
660 nun die einzigen noch uebrigen waren, taten vortreffliche Wirkung, nur
\r
661 dass mir mit jedem Schnittchen, das sie einer unbescheidenen Nachbarin
\r
662 ehrenhalben zuteilte, ein Stich durchs Herz ging.
\r
664 Beim dritten englischen Tanz waren wir das zweite Paar. Wie wir die
\r
665 Reihe durchtanzten und ich, weiss Gott mit wieviel Wonne, an ihrem Arm
\r
666 und Auge hing, das voll vom wahrsten Ausdruck des offensten, reinsten
\r
667 Vergnuegens war, kommen wir an eine Frau, die mit wegen ihrer
\r
668 liebenswuerdigen Miene auf einem nicht mehr ganz jungen Gesichte
\r
669 merkwuerdig gewesen war. Sie sieht Lotten laechelnd an, hebt einen
\r
670 drohenden Finger auf und nennt den Namen Albert zweimal im
\r
671 Vorbeifliegen mit viel Bedeutung.
\r
673 "Wer ist Albert?" sagte ich zu Lotten, "wenn's nicht Vermessenheit
\r
674 ist zu fragen".--Sie war im Begriff zu antworten, als wir uns scheiden
\r
675 mussten, um die grosse Achte zu machen, und mich duenkte einiges
\r
676 Nachdenken auf ihrer Stirn zu sehen, als wir so vor einander
\r
677 vorbeikreuzten.--"Was soll ich's Ihnen leugnen," sagte sie, indem sie
\r
678 mir die Hand zur Promenade bot. "Albert ist ein braver Mensch, dem
\r
679 ich so gut als verlobt bin".--nun war mir das nichts Neues (denn die
\r
680 Maedchen hatten mir's auf dem Wege gesagt) und war mir doch so ganz neu,
\r
681 weil ich es noch nicht im Verhaeltnis auf sie, die mir in so wenig
\r
682 Augenblicken so wert geworden war, gedacht hatte. Genug, ich
\r
683 verwirrte mich, vergass mich und kam zwischen das unrechte Paar hinein,
\r
684 dass alles drunter und drueber ging und Lottens ganze Gegenwart und
\r
685 Zerren und Ziehen noetig war, um es schnell wieder in Ordnung zu
\r
688 Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange
\r
689 am Horizonte leuchten gesehn und die ich immer fuer Wetterkuehlen
\r
690 ausgegeben hatte, viel staerker zu werden anfingen und der Donner die
\r
691 Musik ueberstimmte. Drei Frauenzimmer liefen aus der Reihe, denen ihre
\r
692 Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hoerte auf.
\r
693 Es ist natuerlich, wenn uns ein Unglueck oder etwas Schreckliches im
\r
694 Vergnuegen ueberrascht, dass es staerkere Eindruecke auf uns macht als
\r
695 sonst, teils wegen des Gegensatzes, der sich so lebhaft empfinden laesst,
\r
696 teils und noch mehr, weil unsere Sinne einmal der Fuehlbarkeit
\r
697 geoeffnet sind und also desto schneller einen Eindruck annehmen.
\r
698 Diesen Ursachen muss ich die wunderbaren Grimassen zuschreiben, in die
\r
699 ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die kluegste setzte sich in
\r
700 eine Ecke, mit dem Ruecken gegen vor ihr nieder und verbarg den Kopf in
\r
701 der erster Schoss. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und
\r
702 umfasste ihre Schwesterchen mit tausend Traenen. Einige wollten nach
\r
703 Hause; andere, die noch weniger wussten, was sie taten, hatten nicht so
\r
704 viel Besinnungskraft, den Keckheiten unserer jungen Schlucker zu
\r
705 steuern, die sehr beschaeftigt zu sein schienen, alle die aengstlichen
\r
706 Gebete, die dem Himmel bestimmt waren, von den Lippen der schoenen
\r
707 Bedraengten wegzufangen. Einige unserer Herren hatten sich
\r
708 hinabbegeben, um ein Pfeifchen in Ruhe zu rauchen; und die uebrige
\r
709 Gesellschaft schlug es nicht aus, als die Wirtin auf den klugen
\r
710 Einfall kam, uns ein Zimmer anzuweisen, das Laeden und Vorhaenge haette.
\r
711 Kaum waren wir da angelangt, als Lotte beschaeftigt war, einen Kreis
\r
712 von Stuehlen zu stellen und, als sich die Gesellschaft auf ihre Bitte
\r
713 gesetzt hatte, den Vortrag zu einem Spiele zu tun.
\r
715 Ich sah manchen, der in Hoffnung auf ein saftiges Pfand sein Maeulchen
\r
716 spitzte und seine Glieder reckte.--"Wir spielen Zaehlens!" sagte sie.
\r
717 "Nun gebt acht! Ich geh' im Kreise herum von der Rechten zur Linken,
\r
718 und so zaehlt ihr auch rings herum, jeder die Zahl, die an ihn kommt,
\r
719 und das muss gehen wie ein Lauffeuer, und wer stockt oder sich irrt,
\r
720 kriegt eine Ohrfeige, und so bis tausend".--nun war das lustig
\r
721 anzusehen: sie ging mit ausgestrecktem Arm im Kreise herum. "Eins",
\r
722 fing der erste an, der Nachbar "zwei", "drei" der folgende, und so
\r
723 fort. Dann fing sie an, geschwinder zu gehen, immer geschwinder; da
\r
724 versah's einer: Patsch! Eine Ohrfeige, und ueber das Gelaechter der
\r
725 folgende auch: Patsch! Und immer geschwinder. Ich selbst kriegte
\r
726 zwei Maulschellen und glaubte mit innigem Vergnuegen zu bemerken, dass
\r
727 sie staerker seien, als sie den uebrigen zuzumessen pflegte. Ein
\r
728 allgemeines Gelaechter und Geschwaerm endigte das Spiel, ehe noch das
\r
729 Tausend ausgezaehlt war. Die Vertrautesten zogen einander beiseite,
\r
730 das Gewitter war vorueber, und ich folgte Lotten in den Saal.
\r
731 Unterwegs sagte sie:"ueber die Ohrfeigen haben sie Wetter und alles
\r
732 vergessen!"--ich konnte ihr nichts antworten.--"ich war", fuhr sie
\r
733 fort, "eine der Furchtsamsten, und indem ich mich herzhaft stellte, um
\r
734 den andern Mut zu geben, bin ich mutig geworden".--Wir traten ans
\r
735 Fenster. Es donnerte abseitwaerts, und der herrliche Regen saeuselte
\r
736 auf das Land, und der erquickendste Wohlgeruch stieg in aller Fuelle
\r
737 einer warmen Luft zu uns auf. Sie stand auf ihren Ellenbogen gestuetzt,
\r
738 ihr Blick durchdrang die Gegend; sie sah gen Himmel und auf mich, ich
\r
739 sah ihr Auge traenenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte:
\r
740 "Klopstock!"--Ich erinnerte mich sogleich der herrlichen Ode, die ihr
\r
741 in Gedanken lag, und versank in dem Strome von Empfindungen, den sie
\r
742 in dieser Losung ueber mich ausgoss. Ich ertrug's nicht, neigte mich
\r
743 auf ihre Hand und kuesste sie unter den wonnevollsten Traenen. Und sah
\r
744 nach ihrem Auge wieder--Edler! Haettest du deine Vergoetterung in
\r
745 diesem Blicke gesehen, und moecht' ich nun deinen so oft entweihten
\r
746 Namen nie wieder nennen hoeren!
\r
751 Wo ich neulich mit meiner Erzaehlung geblieben bin, weiss ich nicht mehr;
\r
752 das weiss ich, dass es zwei Uhr des Nachts war, als ich zu Bette kam,
\r
753 und dass, wenn ich dir haette vorschwatzen koennen, statt zu schreiben,
\r
754 ich dich vielleicht bis an den Morgen aufgehalten haette.
\r
756 Was auf unserer Hereinfahrt vom Balle geschehen ist, habe ich noch
\r
757 nicht erzaehlt, habe auch heute keinen Tag dazu.
\r
759 Es war der herrlichste Sonnenaufgang. Der troepfelnde Wald und das
\r
760 erfrischte Feld umher! Unsere Gesellschafterinnen nickten ein. Sie
\r
761 fragte mich, ob ich nicht auch von der Partie sein wollte; ihretwegen
\r
762 sollt' ich unbekuemmert sein.--"So lange ich diese Augen offen sehe",
\r
763 sagte ich und sah sie fest an,"so lange hat's keine Gefahr".--Und wir
\r
764 haben beide ausgehalten bis an ihr Tor, da ihr die Magd leise
\r
765 aufmachte und auf ihr Fragen versicherte, dass Vater und Kleine wohl
\r
766 seien und alle noch schliefen. Da verliess ich sie mit der Bitte, sie
\r
767 selbigen Tags noch sehen zu duerfen; sie gestand mir's zu, und ich bin
\r
768 gekommen--und seit der Zeit koennen Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre
\r
769 Wirtschaft treiben, ich weiss weder dass Tag noch dass Nacht ist, und die
\r
770 ganze Welt verliert sich um mich her.
\r
775 Ich lebe so glueckliche Tage, wie sie Gott seinen Heiligen ausspart;
\r
776 und mit mir mag werden was will, so darf ich nicht sagen, dass ich die
\r
777 Freuden, die reinsten Freuden des Lebens nicht genossen habe.--du
\r
778 kennst mein Wahlheim; dort bin ich voellig etabliert, von da habe ich
\r
779 nur eine halbe Stunde zu Lotten, dort fuehl' ich mich selbst und alles
\r
780 Glueck, das dem Menschen gegeben ist.
\r
782 Haett' ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwecke meiner Spaziergaenge
\r
783 waehlte, dass es so nahe am Himmel laege! Wie oft habe ich das Jagdhaus,
\r
784 das nun alle meine Wuensche einschliesst, auf meinen weiten Wanderungen,
\r
785 bald vom Berge, bald von der Ebne ueber den Fluss gesehn!
\r
787 Lieber Wilhelm, ich habe allerlei nachgedacht, ueber die Begier im
\r
788 Menschen, sich auszubreiten, neue Entdeckungen zu machen,
\r
789 herumzuschweifen; und dann wieder ueber den inneren Trieb, sich der
\r
790 Einschraenkung willig zu ergeben, in dem Gleise der Gewohnheit so
\r
791 hinzufahren und sich weder um Rechts noch um Links zu bekuemmern.
\r
793 Es ist wunderbar: wie ich hierher kam und vom Huegel in das schoene Tal
\r
794 schaute, wie es mich rings umher anzog.--dort das Waeldchen!--ach
\r
795 koenntest du dich in seine Schatten mischen!--dort die Spitze des
\r
796 Berges!--ach koenntest du von da die weite Gegend ueberschauen!--die in
\r
797 einander geketteten Huegel und vertraulichen Taeler!--o koennte ich mich
\r
798 in ihnen verlieren!--ich eilte hin, und kehrte zurueck, und hatte nicht
\r
799 gefunden, was ich hoffte. O es ist mit der Ferne wie mit der Zukunft!
\r
800 Ein grosses daemmerndes Ganze ruht vor unserer Seele, unsere Empfindung
\r
801 verschwimmt darin wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach! Unser
\r
802 ganzes Wesen hinzugeben, uns mit aller Wonne eines einzigen, grossen,
\r
803 herrlichen Gefuehls ausfuellen zu lassen.--und ach! Wenn wir hinzueilen,
\r
804 wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor wie nach, und wir stehen
\r
805 in unserer Armut, in unserer Eingeschraenktheit, und unsere Seele
\r
806 lechzt nach entschluepftem Labsale.
\r
808 So sehnt sich der unruhigste Vagabund zuletzt wieder nach seinem
\r
809 Vaterlande und findet in seiner Huette, an der Brust seiner Gattin, in
\r
810 dem Kreise seiner Kinder, in den Geschaeften zu ihrer Erhaltung die
\r
811 Wonne, die er in der weiten Welt vergebens suchte.
\r
813 Wenn ich des Morgens mit Sonnenaufgange hinausgehe nach meinem
\r
814 Wahlheim und dort im Wirtsgarten mir meine Zuckererbsen selbst pfluecke,
\r
815 mich hinsetze, sie abfaedne und dazwischen in meinem Homer lese; wenn
\r
816 ich in der kleinen Kueche mir einen Topf waehle, mir Butter aussteche,
\r
817 Schoten ans Feuer stelle, zudecke und mich dazusetze, sie manchmal
\r
818 umzuschuetteln: da fuehl' ich so lebhaft, wie die uebermuetigen Freier der
\r
819 Penelope Ochsen und Schweine schlachten, zerlegen und braten. Es ist
\r
820 nichts, das mich so mit einer stillen, wahren Empfindung ausfuellte als
\r
821 die Zuege patriarchalischen Lebens, die ich, Gott sei Dank, ohne
\r
822 Affektation in meine Lebensart verweben kann.
\r
824 Wie wohl ist mir's, dass mein Herz die simple, harmlose Wonne des
\r
825 Menschen fuehlen kann, der ein Krauthaupt auf seinen Tisch bringt, das
\r
826 er selbst gezogen, und nun nicht den Kohl allein, sondern all die
\r
827 guten Tage, den schoenen Morgen, da er ihn pflanzte, die lieblichen
\r
828 Abende, da er ihn begoss, und da er an dem fortschreitenden Wachstum
\r
829 seine Freude hatte, alle in einem Augenblicke wieder mitgeniesst.
\r
834 Vorgestern kam der Medikus hier aus der Stadt hinaus zum Amtmann und
\r
835 fand mich auf der Erde unter Lottens Kindern, wie einige auf mir
\r
836 herumkrabbelten, andere mich neckten, und wie ich sie kitzelte und ein
\r
837 grosses Geschrei mit ihnen erregte. Der Doktor, der eine sehr
\r
838 dogmatische Drahtpuppe ist, unterm Reden seine Manschetten in Falten
\r
839 legt und einen Kraeusel ohne Ende herauszupft, fand dieses unter der
\r
840 Wuerde eines gescheiten Menschen; das merkte ich an seiner Nase. Ich
\r
841 liess mich aber in nichts stoeren, liess ihn sehr vernuenftige Sachen
\r
842 abhandeln und baute den Kindern ihre Kartenhaeuser wieder, die sie
\r
843 zerschlagen hatten. Auch ging er darauf in der Stadt herum und
\r
844 beklagte, des Amtmanns Kinder waeren so schon ungezogen genug, der
\r
845 Werther verderbe sie nun voellig.
\r
847 Ja, lieber Wilhelm, meinem Herzen sind die Kinder am naechsten auf der
\r
848 Erde. Wenn ich ihnen zusehe und in dem kleinen Dinge die Keime aller
\r
849 Tugenden, aller Kraefte sehe, die sie einmal so noetig brauchen werden;
\r
850 wenn ich in dem Eigensinne kuenftige Standhaftigkeit und Festigkeit des
\r
851 Charakters, in dem Mutwillen guten Humor und Leichtigkeit, ueber die
\r
852 Gefahren der Welt hinzuschluepfen, erblicke, alles so unverdorben, so
\r
853 ganz!--immer, immer wiederhole ich dann die goldenen Worte des Lehrers
\r
854 der Menschen:"wenn ihr nicht werdet wie eines von diesen!" und nun,
\r
855 mein Bester, sie, die unseresgleichen sind, die wir als unsere Muster
\r
856 ansehen sollten, behandeln wir als Untertanen. Sie sollen keinen
\r
857 Willen haben!--haben wir denn keinen? Und wo liegt das
\r
858 Vorrecht?--weil wir aelter sind und gescheiter!--guter Gott von deinem
\r
859 Himmel, alte Kinder siehst du und junge Kinder, und nichts weiter; und
\r
860 an welchen du mehr Freude hast, das hat dein Sohn schon lange
\r
861 verkuendigt. Aber sie glauben an ihn und hoeren ihn nicht--das ist auch
\r
862 was Altes!--und bilden ihre Kinder nach sich und--Adieu, Wilhelm! Ich
\r
863 mag darueber nicht weiter radotieren.
\r
868 Was Lotte einem Kranken sein muss, fuehl' ich an meinem eigenen Herzen,
\r
869 das uebler dran ist als manches, das auf dem Siechbette verschmachtet.
\r
870 Sie wird einige Tage in der Stadt bei einer rechtschaffnen Frau
\r
871 zubringen, die sich nach der Aussage der AErzte ihrem Ende naht und in
\r
872 diesen letzten Augenblicken Lotten um sich haben will. Ich war vorige
\r
873 Woche mir ihr, den Pfarrer von St. zu besuchen; ein OErtchen, das eine
\r
874 Stunde seitwaerts im Gebirge liegt. Wir kamen gegen vier dahin. Lotte
\r
875 hatte ihre zweite Schwester mitgenommen. Als wir in den mit zwei
\r
876 hohen Nussbaeumen ueberschatteten Pfarrhof traten, sass der gute alte Mann
\r
877 auf einer Bank vor der Haustuer, und da er Lotten sah, ward er wie neu
\r
878 belebt, vergass seinen Knotenstock und wagte sich auf, ihr entgegen.
\r
879 Sie lief hin zu ihm, noetigte ihn sich niederzulassen, indem sie sich
\r
880 zu ihm setzte, brachte viele Gruesse von ihrem Vater, herzte seinen
\r
881 garstigen, schmutzigen juengsten Buben, das Quakelchen seines Alters.
\r
882 Du haettest sie sehen sollen, wie sie den Alten beschaeftigte, wie sie
\r
883 ihre Stimme erhob, um seinen halb tauben Ohren vernehmlich zu werden,
\r
884 wie sie ihm von jungen, robusten Leuten erzaehlte, die unvermutet
\r
885 gestorben waeren, von der Vortrefflichkeit des Karlsbades, und wie sie
\r
886 seinen Entschluss lobte, kuenftigen Sommer hinzugehen, wie sie fand, dass
\r
887 er viel besser aussaehe, viel munterer sei als das letztemal, da sie
\r
888 ihn gesehn.--ich hatte indes der Frau Pfarrerin meine Hoeflichkeiten
\r
889 gemacht. Der Alte wurde ganz munter, und da ich nicht umhin konnte,
\r
890 die schoenen Nussbaeume zu loben, die uns so lieblich beschatteten, fing
\r
891 er an, uns, wiewohl mit einiger Beschwerlichkeit, die Geschichte davon
\r
892 zu geben.--"den alten", sagte er,"wissen wir nicht, wer den gepflanzt
\r
893 hat; einige sagen dieser, andere jener Pfarrer. Der juengere aber dort
\r
894 hinten ist so alt als meine Frau, im Oktober funfzig Jahr. Ihr Vater
\r
895 pflanzte ihn des Morgens, als sie gegen Abend geboren wurde. Er war
\r
896 mein Vorfahr im Amt, und wie lieb ihm der Baum war, ist nicht zu sagen;
\r
897 mir ist er's gewiss nicht weniger. Meine Frau sass darunter auf einem
\r
898 Balken und strickte, da ich vor siebenundzwanzig Jahren als ein armer
\r
899 Student zum erstenmale hier in den Hof kam".--Lotte fragte nach seiner
\r
900 Tochter; es hiess, sie sei mit Herrn Schmidt auf die Wiese hinaus zu
\r
901 den Arbeitern, und der Alte fuhr in seiner Erzaehlung fort: wie sein
\r
902 Vorfahr ihn liebgewonnen und die Tochter dazu, und wie er erst sein
\r
903 Vikar und dann sein Nachfolger geworden. Die Geschichte war nicht
\r
904 lange zu Ende, als die Jungfer Pfarrerin mit dem sogenannten Herrn
\r
905 Schmidt durch den Garten herkam: sie bewillkommte Lotten mit
\r
906 herzlicher Waerme, und ich muss sagen, sie gefiel mir nicht uebel; eine
\r
907 rasche, wohlgewachsene Bruenette, die einen die kurze Zeit ueber auf dem
\r
908 Lande wohl unterhalten haette. Ihr Liebhaber (denn als solchen stellte
\r
909 sich Herr Schmidt gleich dar), ein feiner, doch stiller Mensch, der
\r
910 sich nicht in unsere Gespraeche mischen wollte, ob ihn gleich Lotte
\r
911 immer hereinzog. Was mich am meisten betruebte, war, dass ich an seinen
\r
912 Gesichtszuegen zu bemerken schien, es sei mehr Eigensinn und uebler
\r
913 Humor als Eingeschraenktheit des Verstandes, der ihn sich mitzuteilen
\r
914 hinderte. In der Folge ward dies leider nur zu deutlich; denn als
\r
915 Friederike beim Spazierengehen mit Lotten und gelegentlich auch mit
\r
916 mir ging, wurde des Herrn Angesicht, das ohnedies einer braeunlichen
\r
917 Farbe war, so sichtlich verdunkelt, dass es Zeit war, dass Lotte mich
\r
918 beim AErmel zupfte und mir zu verstehn gab, dass ich mit Friederiken zu
\r
919 artig getan. Nun verdriesst mich nichts mehr, als wenn die Menschen
\r
920 einander plagen, am meisten, wenn junge Leute in der Bluete des Lebens,
\r
921 da sie am offensten fuer alle Freuden sein koennten, einander die paar
\r
922 guten Tage mit Fratzen verderben und nur erst zu spaet das
\r
923 Unersetzliche ihrer Verschwendung einsehen. Mich wurmte das, und ich
\r
924 konnte nicht umhin, da wir gegen Abend in den Pfarrhof zurueckkehrten
\r
925 und an einem Tische Milch assen und das Gespraech auf Freude und Leid
\r
926 der Welt sich wendete, den Faden zu ergreifen und recht herzlich gegen
\r
927 die ueble Laune zu reden.--"wir Menschen beklagen uns oft", fing ich an,
\r
928 "dass der guten Tage so wenig sind und der schlimmen so viel, und, wie
\r
929 mich duenkt, meist mit Unrecht. Wenn wir immer ein offenes Herz haetten,
\r
930 das Gute zu geniessen, das uns Gott fuer jeden Tag bereitet, wir wuerden
\r
931 alsdann auch Kraft genug haben, das UEbel zu tragen, wenn es kommt".
\r
932 --"Wir haben aber unser Gemuet nicht in unserer Gewalt", versetzte die
\r
933 Pfarrerin, "wie viel haengt vom Koerper ab! Wenn einem nicht wohl ist,
\r
934 ist's einem ueberall nicht recht".--Ich gestand ihr das ein.--"Wir
\r
935 wollen es also", fuhr ich fort,"als eine Krankheit ansehen und fragen,
\r
936 ob dafuer kein Mittel ist?"--"Das laesst sich hoeren", sagte Lotte, "ich
\r
937 glaube wenigstens, dass viel von uns abhaengt. Ich weiss es an mir.
\r
938 Wenn mich etwas neckt und mich verdriesslich machen will, spring' ich
\r
939 auf und sing' ein paar Contretaenze den Garten auf und ab, gleich ist's
\r
940 weg".--"das war's, was ich sagen wollte,"versetzte ich,"es ist mit der
\r
941 ueblen Laune voellig wie mit der Traegheit, denn es ist eine Art von
\r
942 Traegheit. Unsere Natur haengt sehr dahin, und doch, wenn wir nur
\r
943 einmal die Kraft haben, uns zu ermannen, geht uns die Arbeit frisch
\r
944 von der Hand, und wir finden in der Taetigkeit ein wahres Vergnuegen".
\r
945 --Friederike war sehr aufmerksam, und der junge Mensch wandte mir ein,
\r
946 dass man nicht Herr ueber sich selbst sei und am wenigsten ueber seine
\r
947 Empfindungen gebieten koenne.--"es ist hier die Frage von einer
\r
948 unangenehmen Empfindung", versetzte ich, "die doch jedermann gerne los
\r
949 ist; und niemand weiss, wie weit seine Kraefte gehen, bis er sie
\r
950 versucht hat. Gewiss, wer krank ist, wird bei allen AErzten herumfragen,
\r
951 und die groessten Resignationen, die bittersten Arzeneien wird er nicht
\r
952 abweisen, um seine gewuenschte Gesundheit zu erhalten".--ich bemerkte,
\r
953 dass der ehrliche Alte sein Gehoer anstrengte, um an unserm Diskurse
\r
954 teilzunehmen, ich erhob die Stimme, indem ich die Rede gegen ihn
\r
955 wandte". Man predigt gegen so viele Laster", sagte ich, "ich habe
\r
956 noch nie gehoert, dass man gegen die ueble Laune vom Predigtstuhle
\r
957 gearbeitet haette.--"Das muessten die Stadtpfarrer tun", sagte er, "die
\r
958 Bauern haben keinen boesen Humor; doch koennte es auch zuweilen nicht
\r
959 schaden, es waere eine Lektion fuer seine Frau wenigstens und fuer den
\r
960 Herrn Amtmann".--Die Gesellschaft lachte, und er herzlich mit, bis er
\r
961 in einen Husten verfiel, der unsern Diskurs eine Zeitlang unterbrach;
\r
962 darauf denn der junge Mensch wieder das Wort nahm: "Sie nannten den
\r
963 boesen Humor ein Laster; mich deucht, das ist uebertrieben".--"Mit
\r
964 nichten", gab ich zur Antwort, "wenn das, womit man sich selbst und
\r
965 seinem Naechsten schadet, diesen Namen verdient. Ist es nicht genug,
\r
966 dass wir einander nicht gluecklich machen koennen, muessen wir auch noch
\r
967 einander das Vergnuegen rauben, das jedes Herz sich noch manchmal
\r
968 selbst gewaehren kann? Und nennen Sie mir den Menschen, der uebler
\r
969 Laune ist und so brav dabei, sie zu verbergen, sie allein zu tragen,
\r
970 ohne die Freude um sich her zu zerstoeren! Oder ist sie nicht vielmehr
\r
971 ein innerer Unmut ueber unsere eigene Unwuerdigkeit, ein Missfallen an
\r
972 uns selbst, das immer mit einem Neide verknuepft ist, der durch eine
\r
973 toerichte Eitelkeit aufgehetzt wird? Wir sehen glueckliche Menschen,
\r
974 die wir nicht gluecklich machen, und das ist unertraeglich".--Lotte
\r
975 laechelte mich an, da sie die Bewegung sah, mit der ich redete, und
\r
976 eine Traene in Friederikens Auge spornte mich fortzufahren.--"Wehe
\r
977 denen", sagte ich, "die sich der Gewalt bedienen, die sie ueber ein
\r
978 Herz haben, um ihm die einfachen Freuden zu rauben, die aus ihm selbst
\r
979 hervorkeimen. Alle Geschenke, alle Gefaelligkeiten der Welt ersetzen
\r
980 nicht einen Augenblick Vergnuegen an sich selbst, den uns eine
\r
981 neidische Unbehaglichkeit unsers Tyrannen vergaellt hat".
\r
983 Mein ganzes Herz war voll in diesem Augenblicke; die Erinnerung so
\r
984 manches Vergangenen draengte sich an meine Seele, und die Traenen kamen
\r
987 "Wer sich das nur taeglich sagte",rief ich aus,"du vermagst nichts auf
\r
988 deine Freunde, als ihnen ihre Freuden zu lassen und ihr Glueck zu
\r
989 vermehren, indem du es mit ihnen geniessest. Vermagst du, wenn ihre
\r
990 innere Seele von einer aengstigenden Leidenschaft gequaelt, vom Kummer
\r
991 zerruettet ist, ihnen einen Tropfen Linderung zu geben?
\r
993 Und wenn die letzte, bangste Krankheit dann ueber das Geschoepf herfaellt,
\r
994 das du in bluehenden Tagen untergraben hast, und sie nun daliegt in
\r
995 dem erbaermlichsten Ermatten, das Auge gefuehllos gen Himmel sieht, der
\r
996 Todesschweiss auf der blassen Stirne abwechselt, und du vor dem Bette
\r
997 stehst wie ein Verdammter, in dem innigsten Gefuehl, dass du nichts
\r
998 vermagst mit deinem ganzen Vermoegen, und die Angst dich inwendig
\r
999 krampft, dass du alles hingeben moechtest, dem untergehenden Geschoepfe
\r
1000 einen Tropfen Staerkung, einen Funken Mut einfloessen zu koennen".
\r
1002 Die Erinnerung einer solchen Szene, wobei ich gegenwaertig war, fiel
\r
1003 mit ganzer Gewalt bei diesen Worten ueber mich. Ich nahm das
\r
1004 Schnupftuch vor die Augen und verliess die Gesellschaft, und nur
\r
1005 Lottens Stimme, die mir rief, wir wollten fort, brachte mich zu mir
\r
1006 selbst. Und wie sie mich auf dem Wege schalt ueber den zu warmen
\r
1007 Anteil an allem, und dass ich drueber zugrunde gehen wuerde! Dass ich
\r
1008 mich schonen sollte!--O der Engel! Um deinetwillen muss ich leben!
\r
1013 Sie ist immer um ihre sterbende Freundin, und ist immer dieselbe,
\r
1014 immer das gegenwaertige, holde Geschoepf, das, wo sie hinsieht,
\r
1015 Schmerzen lindert und Glueckliche macht. Sie ging gestern abend mit
\r
1016 Marianen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wusste es und traf sie
\r
1017 an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb Stunden
\r
1018 kamen wir gegen die Stadt zurueck, an den Brunnen, der mir so wert und
\r
1019 nun tausendmal werter ist. Lotte setzte sich aufs Maeuerchen, wir
\r
1020 standen vor ihr. Ich sah umher, ach, und die Zeit, da mein Herz so
\r
1021 allein war, lebte wieder vor mir auf.--"Lieber Brunnen", sagte ich,
\r
1022 "seither hab' ich nicht mehr an deiner Kuehle geruht, hab' in eilendem
\r
1023 Voruebergehn dich manchmal nicht angesehn".--Ich blickte hinab und sah,
\r
1024 dass Malchen mit einem Glase Wasser sehr beschaeftigt heraufstieg.--Ich
\r
1025 sah Lotten an und fuehlte alles, was ich an ihr habe. Indem kommt
\r
1026 Malchen mit einem Glase. Mariane wollt' es ihr abnehmen: "nein!"
\r
1027 rief das Kind mit dem suessesten Ausdrucke,"nein, Lottchen, du sollst
\r
1028 zuerst trinken!"--ich ward ueber die Wahrheit, ueber die Guete, womit sie
\r
1029 das ausrief, so entzueckt, dass ich meine Empfindung mit nichts
\r
1030 ausdruecken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und kuesste es
\r
1031 lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfing.--"Sie haben
\r
1032 uebel getan", sagte Lotte.--Ich war betroffen.--"komm, Malchen, "fuhr
\r
1033 sie fort, indem sie es bei der Hand nahm und die Stufen hinabfuehrte,
\r
1034 "da wasche dich aus der frischen Quelle geschwind, geschwind, da tut's
\r
1035 nichts".--Wie ich so dastand und zusah, mit welcher Emsigkeit das
\r
1036 Kleine seinen nassen Haendchen die Backen rieb, mit welchem Glauben,
\r
1037 dass durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespuelt und die
\r
1038 Schmach abgetan wuerde, einen haesslichen Bart zu kriegen; wie Lotte
\r
1039 sagte: "es ist genug!" und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als
\r
1040 wenn Viel mehr taete als Wenig--ich sage dir, Wilhelm, ich habe mit
\r
1041 mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt; und als Lotte
\r
1042 heraufkam, haette ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem
\r
1043 Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.
\r
1045 Des Abends konnte ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den
\r
1046 Vorfall einem Manne zu erzaehlen, dem ich Menschensinn zutraute, weil
\r
1047 er Verstand hat; aber wie kam ich an! Er sagte, das sei sehr uebel von
\r
1048 Lotten gewesen; man solle den Kindern nichts weis machen; dergleichen
\r
1049 gebe zu unzaehligen Irrtuemern und Aberglauben Anlass, wovor man die
\r
1050 Kinder fruehzeitig bewahren muesse.--nun fiel mir ein, dass der Mann vor
\r
1051 acht Tagen hatte taufen lassen, drum liess ich's vorbeigehen und blieb
\r
1052 in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir sollen es mit den Kindern
\r
1053 machen wie Gott mit uns, der uns am gluecklichsten macht, wenn er uns
\r
1054 in freundlichem Wahne so hintaumeln laesst.
\r
1059 Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man
\r
1060 ein Kind ist!--Wir waren nach Wahlheim gegangen. Die Frauenzimmer
\r
1061 fuhren hinaus, und waehrend unserer Spaziergaenge glaubte ich in Lottens
\r
1062 schwarzen Augen--ich bin ein Tor, verzeih mir's! Du solltest sie
\r
1063 sehen, diese Augen.--Dass ich kurz bin (denn die Augen fallen mir zu
\r
1064 vor Schlaf): siehe, die Frauenzimmer stiegen ein, da standen um die
\r
1065 Kutsche der junge W., Selstadt und Audran und ich. Da ward aus dem
\r
1066 Schlage geplaudert mit den Kerlchen, die freilich leicht und lueftig
\r
1067 genug waren.--ich suchte Lottens Augen: ach, sie gingen von einem zum
\r
1068 andern! Aber auf mich! Mich! Mich! Der ganz allein auf sie
\r
1069 resigniert dastand, fielen sie nicht!--Mein Herz sagte ihr tausend
\r
1070 Adieu! Und sie sah mich nicht! Die Kutsche fuhr vorbei, und eine
\r
1071 Traene stand mir im Auge. Ich sah ihr nach und sah Lottens Kopfputz
\r
1072 sich zum Schlage herauslehnen, und sie wandte sich um zu sehen, ach!
\r
1073 Nach mir?--Lieber! In dieser Ungewissheit schwebe ich; das ist mein
\r
1074 Trost: vielleicht hat sie sich nach mir umgesehen! Vielleicht!--Gute
\r
1075 Nacht! O, was ich ein Kind bin!
\r
1080 Die alberne Figur, die ich mache, wenn in Gesellschaft von ihr
\r
1081 gesprochen wird, solltest du sehen! Wenn man mich nun gar fragt, wie
\r
1082 sie mir gefaellt?--gefaellt! Das Wort hasse ich auf den Tod. Was muss
\r
1083 das fuer ein Mensch sein, dem Lotte gefaellt, dem sie nicht alle Sinne,
\r
1084 alle Empfindungen ausfuellt! Gefaellt! Gefaellt! Neulich fragte mich
\r
1085 einer, wie mir Ossian gefiele!
\r
1090 Frau M. ist sehr schlecht; ich bete fuer ihr Leben, weil ich mit Lotten
\r
1091 dulde. Ich sehe sie selten bei einer Freundin, und heute hat sie mir
\r
1092 einen wunderbaren Vorfall erzaehlt.--der alte M. ist ein geiziger,
\r
1093 rangiger Filz, der seine Frau im Leben was Rechts geplagt und
\r
1094 eingeschraenkt hat; doch hat sich die Frau immer durchzuhelfen gewusst.
\r
1095 Vor wenigen Tagen, als der Arzt ihr das Leben abgesprochen hatte, liess
\r
1096 sie ihren Mann kommen (Lotte war im Zimmer) und redete ihn also an:
\r
1097 "ich muss dir eine Sache gestehen, die nach meinem Tode Verwirrung und
\r
1098 Verdruss machen koennte. Ich habe bisher die Haushaltung gefuehrt, so
\r
1099 ordentlich und sparsam als moeglich; allein du wirst mir verzeihen, dass
\r
1100 ich dich diese dreissig Jahre her hintergangen habe. Du bestimmtest im
\r
1101 Anfange unserer Heirat ein Geringes fuer die Bestreitung der Kueche und
\r
1102 anderer haeuslichen Ausgaben. Als unsere Haushaltung staerker wurde,
\r
1103 unser Gewerbe groesser, warst du nicht zu bewegen, mein Wochengeld nach
\r
1104 dem Verhaeltnisse zu vermehren; kurz, du weisst, dass du in den Zeiten,
\r
1105 da sie am groessten war, verlangtest, ich solle mit sieben Gulden die
\r
1108 Die habe ich denn ohne Widerrede genommen und mir den UEberschuss
\r
1109 woechentlich aus der Losung geholt, da niemand vermutete, dass die Frau
\r
1110 die Kasse bestehlen wuerde. Ich habe nichts verschwendet und waere auch,
\r
1111 ohne es zu bekennen, getrost der Ewigkeit entgegengegangen, wenn
\r
1112 nicht diejenige, die nach mir das Hauswesen zu fuehren hat, sich nicht
\r
1113 zu helfen wissen wuerde, und du doch immer darauf bestehen koenntest,
\r
1114 deine erste Frau sei damit ausgekommen".
\r
1116 Ich redete mit Lotten ueber die unglaubliche Verblendung des
\r
1117 Menschensinns, dass einer nicht argwohnen soll, dahinter muesse was
\r
1118 anders stecken, wenn eins mit sieben Gulden hinreicht, wo man den
\r
1119 Aufwand vielleicht um zweimal so viel sieht. Aber ich habe selbst
\r
1120 Leute gekannt, die des Propheten ewiges OElkrueglein ohne Verwunderung
\r
1121 in ihrem Hause angenommen haetten.
\r
1126 Nein, ich betruege mich nicht! Ich lese in ihren schwarzen Augen wahre
\r
1127 Teilnehmung an mir und meinem Schicksal. Ja ich fuehle, und darin darf
\r
1128 ich meinem Herzen trauen, dass sie--o darf ich, kann ich den Himmel in
\r
1129 diesen Worten aussprechen?--dass sie mich liebt!
\r
1131 Mich liebt!--und wie wert ich mir selbst werde, wie ich--dir darf
\r
1132 ich's wohl sagen, du hast Sinn fuer so etwas--wie ich mich selbst
\r
1133 anbete, seitdem sie mich liebt!
\r
1135 Ob das Vermessenheit ist oder Gefuehl des wahren Verhaeltnisses?--ich
\r
1136 kenne den Menschen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen
\r
1137 fuerchtete. Und doch--wenn sie von ihrem Braeutigam spricht, mit
\r
1138 solcher Waerme, solcher Liebe von ihm spricht--da ist mir's wie einem,
\r
1139 der aller seiner Ehren und Wuerden entsetzt und dem der Degen genommen
\r
1145 Ach wie mir das durch alle Adern laeuft, wenn mein Finger unversehens
\r
1146 den ihrigen beruehrt, wenn unsere Fuesse sich unter dem Tische begegnen!
\r
1147 Ich ziehe zurueck wie vom Feuer, und eine geheime Kraft zieht mich
\r
1148 wieder vorwaerts--mir wird's so schwindelig vor allen Sinnen.--O! Und
\r
1149 ihre Unschuld, ihre unbefangene Seele fuehlt nicht, wie sehr mich die
\r
1150 kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn sie gar im Gespraech ihre
\r
1151 Hand auf die meinige legt und im Interesse der Unterredung naeher zu
\r
1152 mir rueckt, dass der himmlische Atem ihres Mundes meine Lippen erreichen
\r
1153 kann:--ich glaube zu versinken, wie vom Wetter geruehrt.--und, Wilhelm!
\r
1154 Wenn ich mich jemals unterstehe, diesen Himmel, dieses Vertrauen--!
\r
1155 Du verstehst mich. Nein, mein Herz ist so verderbt nicht! Schwach!
\r
1156 Schwach genug!--und ist das nicht Verderben?--sie ist mir heilig.
\r
1157 Alle Begier schweigt in ihrer Gegenwart. Ich weiss nie, wie mir ist,
\r
1158 wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen
\r
1159 Nerven umkehrte.--sie hat eine Melodie, die sie auf dem Klaviere
\r
1160 spielet mit der Kraft eines Engels, so simpel und so geistvoll! Es
\r
1161 ist ihr Leiblied, und mich stellt es von aller Pein, Verwirrung und
\r
1162 Grillen her, wenn sie nur die erste Note davon greift.
\r
1164 Kein Wort von der Zauberkraft der alten Musik ist mir unwahrscheinlich.
\r
1165 Wie mich der einfache Gesang angreift! Und wie sie ihn anzubringen
\r
1166 weiss, oft zur Zeit, wo ich mir eine Kugel vor den Kopf schiessen moechte!
\r
1167 Die Irrung und Finsternis meiner Seele zerstreut sich, und ich atme
\r
1173 Wilhelm, was ist unserem Herzen die Welt ohne Liebe! Was eine
\r
1174 Zauberlaterne ist ohne Licht! Kaum bringst du das Laempchen hinein, so
\r
1175 scheinen dir die buntesten Bilder an deine weisse Wand! Und wenn's
\r
1176 nichts waere als das, als voruebergehende Phantome, so macht's doch
\r
1177 immer unser Glueck, wenn wir wie frische Jungen davor stehen und uns
\r
1178 ueber die Wundererscheinungen entzuecken. Heute konnte ich nicht zu
\r
1179 Lotten, eine unvermeidliche Gesellschaft hielt mich ab. Was war zu
\r
1180 tun? Ich schickte meinen Diener hinaus, nur um einen Menschen um mich
\r
1181 zu haben, der ihr heute nahe gekommen waere. Mit welcher Ungeduld ich
\r
1182 ihn erwartete, mit welcher Freude ich ihn wiedersah! Ich haette ihn
\r
1183 gern beim Kopfe genommen und gekuesst, wenn ich mich nicht geschaemt
\r
1186 Man erzaehlt von dem Bononischen Steine, dass er, wenn man ihn in die
\r
1187 Sonne legt, ihre Strahlen anzieht und eine Weile bei Nacht leuchtet.
\r
1188 So war mir's mit dem Burschen. Das Gefuehl, dass ihre Augen auf seinem
\r
1189 Gesichte, seinen Backen, seinen Rockknoepfen und dem Kragen am Surtout
\r
1190 geruht hatten, machte mir das alles so heilig, so wert! Ich haette in
\r
1191 dem Augenblick den Jungen nicht um tausend Taler gegeben. Es war mir
\r
1192 so wohl in seiner Gegenwart.--bewahre dich Gott, dass du darueber
\r
1193 lachest. Wilhelm, sind das Phantome, wenn es uns wohl ist?
\r
1198 "Ich werde sie sehen!" ruf' ich morgens aus, wenn ich mich ermuntere
\r
1199 und mit aller Heiterkeit der schoenen Sonne entgegenblicke; "ich werde
\r
1200 sie sehen!" und da habe ich fuer den ganzen Tag keinen Wunsch weiter.
\r
1201 Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.
\r
1203 Eure Idee will noch nicht die meinige werden, dass ich mit dem Gesandten
\r
1204 nach *** gehen soll. Ich liebe die Subordination nicht sehr, und wir
\r
1205 wissen alle, dass der Mann noch dazu ein widriger Mensch ist. Meine
\r
1206 Mutter moechte mich gern in Aktivitaet haben, sagst du, das hat mich zu
\r
1207 lachen gemacht. Bin ich jetzt nicht auch aktiv, und ist's im Grunde
\r
1208 nicht einerlei, ob ich Erbsen zaehle oder Linsen? Alles in der Welt
\r
1209 laeuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer
\r
1210 willen, ohne dass es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Beduerfnis
\r
1211 ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein
\r
1217 Da dir so sehr daran gelegen ist, dass ich mein Zeichnen nicht
\r
1218 vernachlaessige, moechte ich lieber die ganze Sache uebergehen als dir
\r
1219 sagen, dass zeither wenig getan wird.
\r
1221 Noch nie war ich gluecklicher, noch nie war meine Empfindung an der
\r
1222 Natur, bis aufs Steinchen, aufs Graeschen herunter, voller und inniger,
\r
1223 und doch--ich weiss nicht, wie ich mich ausdruecken soll, meine
\r
1224 vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt und schwankt so vor
\r
1225 meiner Seele, dass ich keinen Umriss packen kann; aber ich bilde mir ein,
\r
1226 wenn ich Ton haette oder Wachs, so wollte ich's wohl herausbilden.
\r
1227 Ich werde auch Ton nehmen, wenn's laenger waehrt, und kneten, uns
\r
1228 sollten's Kuchen werden!
\r
1230 Lottens Portraet habe ich dreimal angefangen, und habe mich dreimal
\r
1231 prostituiert; das mich um so mehr verdriesst, weil ich vor einiger Zeit
\r
1232 sehr gluecklich im Treffen war. Darauf habe ich denn ihren Schattenriss
\r
1233 gemacht, und damit soll mir g'nuegen.
\r
1235 Ja, liebe Lotte, ich will alles besorgen und bestellen; geben Sie mir
\r
1236 nur mehr Auftraege, nur recht oft. Um eins bitte ich Sie: keinen Sand
\r
1237 mehr auf die Zettelchen, die Sie mir schreiben. Heute fuehrte ich es
\r
1238 schnell nach der Lippe, und die Zaehne knisterten mir.
\r
1243 Ich habe mir schon manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja
\r
1244 wer das halten koennte! Alle Tage unterlieg' ich der Versuchung und
\r
1245 verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben. Und wenn
\r
1246 der Morgen kommt, finde ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache,
\r
1247 und ehe ich mich's versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des
\r
1248 Abends gesagt: "Sie kommen doch morgen?"--wer koennte da wegbleiben?
\r
1249 Oder sie gibt mir einen Auftrag, und ich finde schicklich, ihr selbst
\r
1250 die Antwort zu bringen; oder der Tag ist gar zu schoen, ich gehe nach
\r
1251 Wahlheim, und wenn ich nun da bin, ist's nur noch eine halbe Stunde zu
\r
1252 ihr!--ich bin zu nah in der Atmosphaere--zuck! So bin ich dort. Meine
\r
1253 Grossmutter hatte ein Maerchen vom Magnetenberg: die Schiffe, die zu
\r
1254 nahe kamen, wurden auf einmal alles Eisenwerks beraubt, die Naegel
\r
1255 flogen dem Berge zu, und die armen Elenden scheiterten zwischen den
\r
1256 uebereinander stuerzenden Brettern.
\r
1261 Albert ist angekommen, und ich werde gehen; und wenn er der beste, der
\r
1262 edelste Mensch waere, unter den ich mich in jeder Betrachtung zu
\r
1263 stellen bereit waere, so waer's unertraeglich, ihn vor meinem Angesicht
\r
1264 im Besitz so vieler Vollkommenheit zu sehen.--Besitz!--genug, Wilhelm,
\r
1265 der Braeutigam ist da! Ein braver, lieber Mann, dem man gut sein muss.
\r
1266 Gluecklicherweise war ich nicht beim Empfange! Das haette mir das Herz
\r
1267 zerrissen. Auch ist er so ehrlich und hat Lotten in meiner Gegenwart
\r
1268 noch nicht ein einzigmal gekuesst. Das lohn' ihm Gott! Um des Respekts
\r
1269 willen, den er vor dem Maedchen hat, muss ich ihn lieben. Er will mir
\r
1270 wohl, und ich vermute, das ist Lottens Werk mehr als seiner eigenen
\r
1271 Empfindung; denn darin sind die Weiber fein und haben recht; wenn sie
\r
1272 zwei Verehrer in gutem Vernehmen mit einander erhalten koennen, ist der
\r
1273 Vorteil immer ihr, so selten es auch angeht.
\r
1275 Indes kann ich Alberten meine Achtung nicht versagen. Seine gelassene
\r
1276 Aussenseite sticht gegen die Unruhe meines Charakters sehr lebhaft ab,
\r
1277 die sich nicht verbergen laesst. Er hat viel Gefuehl und weiss, was er an
\r
1278 Lotten hat. Erscheint wenig ueble Laune zu haben, und du weisst, das
\r
1279 ist die Suende, die ich aerger hasse am Menschen als alle andre.
\r
1281 Er haelt mich fuer einen Menschen von Sinn; und meine Anhaenglichkeit zu
\r
1282 Lotten, meine warme Freude, die ich an allen ihren Handlungen habe,
\r
1283 vermehrt seinen Triumph, und er liebt sie nur desto mehr. Ob er sie
\r
1284 nicht einmal mit keiner Eifersuechtelei peinigt, das lasse ich
\r
1285 dahingestellt sein, wenigstens wuerd' ich an seinem Platz nicht ganz
\r
1286 sicher vor diesem Teufel bleiben.
\r
1288 Dem sei nun wie ihm wolle, meine Freude, bei Lotten zu sein, ist hin.
\r
1289 Soll ich das Torheit nennen oder Verblendung?--was braucht's Namen!
\r
1290 Erzaehlt die Sache an sich!--ich wusste alles, was ich jetzt weiss, ehe
\r
1291 Albert kam; ich wusste, dass ich keine Praetension an sie zu machen hatte,
\r
1292 machte auch keine--das heisst, insofern es moeglich ist, bei so viel
\r
1293 Liebenswuerdigkeit nicht zu begehren--und jetzt macht der Fratze grosse
\r
1294 Augen, da der andere nun wirklich kommt und ihm das Maedchen wegnimmt.
\r
1296 Ich beisse die Zaehne auf einander und spott ueber mein Elend, und
\r
1297 spottete derer doppelt und dreifach, die sagen koennten, ich sollte
\r
1298 mich resignieren, und weil es nun einmal nicht anders sein koennte.
\r
1299 --schafft mir diese Strohmaenner vom Halse!--ich laufe in den Waeldern
\r
1300 herum, und wenn ich zu Lotten komme, und Albert bei ihr sitzt im
\r
1301 Gaertchen unter der Laube, und ich nicht weiter kann, so bin ich
\r
1302 ausgelassen naerrisch und fange viel Possen, viel verwirrtes Zeug an.
\r
1303 --"um Gottes willen", sagte mir Lotte heut, "ich bitte Sie, keine Szene
\r
1304 wie die von gestern abend! Sie sind fuerchterlich, wenn Sie so lustig
\r
1305 sind".--Unter uns, ich passe die Zeit ab, wenn er zu tun hat; wutsch!
\r
1306 Bin ich drauss, und da ist mir's immer wohl, wenn ich sie allein finde.
\r
1311 Ich bitte dich, lieber Wilhelm, es war gewiss nicht auf dich geredet,
\r
1312 wenn ich die Menschen unertraeglich schalt, die von uns Ergebung in
\r
1313 unvermeidliche Schicksale fordern. Ich dachte wahrlich nicht daran,
\r
1314 dass du von aehnlicher Meinung sein koenntest. Und im Grunde hast du
\r
1315 recht. Nur eins, mein Bester! In der Welt ist es sehr selten mit dem
\r
1316 Entweder-Oder getan; die Empfindungen und Handlungsweisen schattieren
\r
1317 sich so mannigfaltig, als Abfaelle zwischen einer Habichts--und
\r
1320 Du wirst mir also nicht uebelnehmen, wenn ich dir dein ganzes Argument
\r
1321 einraeume und mich doch zwischen dem Entweder-Oder durchzustehlen suche.
\r
1324 Entweder, sagst du, hast du Hoffnung auf Lotten, oder du hast keine.
\r
1325 Gut, im ersten Fall suche sie durchzutreiben, suche die Erfuellung
\r
1326 deiner Wuensche zu umfassen: im anderen Fall ermanne dich und suche
\r
1327 einer elenden Empfindung los zu werden, die alle deine Kraefte
\r
1328 verzehren muss.--Bester! Das ist wohl gesagt, und--bald gesagt.
\r
1330 Und kannst du von dem Ungluecklichen, dessen Leben unter einer
\r
1331 schleichenden Krankheit unaufhaltsam allmaehlich abstirbt, kannst du
\r
1332 von ihm verlangen, er solle durch einen Dolchstoss der Qual auf einmal
\r
1333 ein Ende machen? Und raubt das UEbel, das ihm die Kraefte verzehrt, ihm
\r
1334 nicht auch zugleich den Mut, sich davon zu befreien?
\r
1336 Zwar koenntest du mir mit einem verwandten Gleichnisse antworten: wer
\r
1337 liesse sich nicht lieber den Arm abnehmen, als dass er durch Zaudern und
\r
1338 Zagen sein Leben aufs Spiel setzte?--Ich weiss nicht!--Und wir wollen
\r
1339 uns nicht in Gleichnissen herumbeissen. Genug--ja, Wilhelm, ich habe
\r
1340 manchmal so einen Augenblick aufspringenden, abschuettelnden Muts, und
\r
1341 da--wenn ich nur wuesste wohin, ich ginge wohl.
\r
1348 Mein Tagebuch, das ich seit einiger Zeit vernachlaessiget, fiel mir
\r
1349 heut wieder in die Haende, und ich bin erstaunt, wie ich so wissentlich
\r
1350 in das alles, Schritt vor Schritt, hineingegangen bin! Wie ich ueber
\r
1351 meinen Zustand immer so klar gesehen und doch gehandelt habe wie ein
\r
1352 Kind, jetzt noch so klar sehe, und es noch keinen Anschein zur
\r
1358 Ich koennte das beste, gluecklichste Leben fuehren, wenn ich nicht ein
\r
1359 Tor waere. So schoene Umstaende vereinigen sich nicht leicht, eines
\r
1360 Menschen Seele zu ergetzen, als die sind, in denen ich mich jetzt
\r
1361 befinde. Ach so gewiss ist's, dass unser Herz allein sein Glueck macht.
\r
1362 --ein Glied der liebenswuerdigen Familie zu sein, von dem Alten geliebt
\r
1363 zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater, und von Lotten!
\r
1364 --dann der ehrliche Albert, der durch keine launische Unart mein Glueck
\r
1365 stoert; der mich mit herzlicher Freundschaft umfasst; dem ich nach
\r
1366 Lotten das Liebste auf der Welt bin!--Wilhelm, es ist eine Freude, uns
\r
1367 zu hoeren, wenn wir spazierengehen und uns einander von Lotten
\r
1368 unterhalten: es ist in der Welt nichts Laecherlichers erfunden worden
\r
1369 als dieses Verhaeltnis, und doch kommen mir oft darueber die Traenen in
\r
1372 Wenn er mir von ihrer rechtschaffenen Mutter erzaehlt: wie sie auf
\r
1373 ihrem Todbette Lotten ihr Haus und ihre Kinder uebergeben und ihm
\r
1374 Lotten anbefohlen habe, wie seit der Zeit ein ganz anderer Geist
\r
1375 Lotten belebt habe, wie sie, in der Sorge fuer ihre Wirtschaft und in
\r
1376 dem Ernste, eine wahre Mutter geworden, wie kein Augenblick ihrer Zeit
\r
1377 ohne taetige Liebe, ohne Arbeit verstrichen, und dennoch ihre
\r
1378 Munterkeit, ihr leichter Sinn sie nie dabei verlassen habe.--Ich gehe
\r
1379 so neben ihm hin und pfluecke Blumen am Wege, fuege sie sehr sorgfaeltig
\r
1380 in einen Strauss und--werfe sie in den vorueberfliessenden Strom und sehe
\r
1381 ihnen nach, wie sie leise hinunterwallen.--Ich weiss nicht, ob ich dir
\r
1382 geschrieben habe, dass Albert hier bleiben und ein Amt mit einem
\r
1383 artigen Auskommen vom Hofe erhalten wird, wo er sehr beliebt ist. In
\r
1384 Ordnung und Emsigkeit in Geschaeften habe ich wenig seinesgleichen
\r
1390 Gewiss, Albert ist der beste Mensch unter dem Himmel. Ich habe gestern
\r
1391 eine wunderbare Szene mit ihm gehabt. Ich kam zu ihm, um Abschied von
\r
1392 ihm zu nehmen; denn mich wandelte die Lust an, ins Gebirge zu reiten,
\r
1393 von woher ich dir auch jetzt schreibe, und wie ich in der Stube auf
\r
1394 und ab gehe, fallen mir seine Pistolen in die Augen.--"Borge mir die
\r
1395 Pistolen", sagte ich, "zu meiner Reise".--"Meinetwegen", sagte er,
\r
1396 "wenn du dir die Muehe nehmen willst, sie zu laden; bei mir haengen sie
\r
1397 nur pro forma".--Ich nahm eine herunter, und er fuhr fort: "seit mir
\r
1398 meine Vorsicht einen so unartigen Streich gespielt hat, mag ich mit
\r
1399 dem Zeuge nichts mehr zu tun haben".--Ich war neugierig, die
\r
1400 Geschichte zu wissen.--"Ich hielt mich", erzaehlte er, "wohl ein
\r
1401 Vierteljahr auf dem Lande bei einem Freunde auf, hatte ein paar
\r
1402 Terzerolen ungeladen und schlief ruhig. Einmal an einem regnichten
\r
1403 Nachmittage, da ich muessig sitze, weiss ich nicht, wie mir einfaellt: wir
\r
1404 koennten ueberfallen werden, wir koennten die Terzerolen noetig haben und
\r
1405 koennten--du weisst ja, wie das ist.--ich gab sie dem Bedienten, sie zu
\r
1406 putzen und zu laden; und der dahlt mit den Maedchen, will sie schrecken,
\r
1407 und Gott weiss wie, das Gewehr geht los, da der Ladstock noch drin
\r
1408 steckt, und schiesst den Ladstock einem Maedchen zur Maus herein an der
\r
1409 rechten Hand und zerschlaegt ihr den Daumen. Da hatte ich das
\r
1410 Lamentieren, und die Kur zu bezahlen obendrein, und seit der Zeit
\r
1411 lass' ich alles Gewehr ungeladen. Lieber Schatz, was ist Vorsicht?
\r
1412 Die Gefahr laesst sich nicht auslernen! Zwar.--Nun weisst du, dass ich
\r
1413 den Menschen sehr lieb habe bis auf seine Zwar; denn versteht sich's
\r
1414 nicht von selbst, dass jeder allgemeine Satz Ausnahmen leidet? Aber so
\r
1415 rechtfertig ist der Mensch! Wenn er glaubt, etwas UEbereiltes,
\r
1416 Allgemeines, Halbwahres gesagt zu haben, so hoert er dir nicht auf zu
\r
1417 limitieren, zu modifizieren und ab--und zuzutun, bis zuletzt gar
\r
1418 nichts mehr an der Sache ist.
\r
1420 Und bei diesem Anlass kam er sehr tief in Text: ich hoerte endlich gar
\r
1421 nicht weiter auf ihn, verfiel in Grillen, und mit einer auffahrenden
\r
1422 Gebaerde drueckte ich mir die Muendung der Pistole uebers rechte Aug' an
\r
1423 die Stirn.--"Pfui!" sagte Albert, indem er mir die Pistole herabzog,
\r
1424 "was soll das?"--"Sie ist nicht geladen", sagte ich.--"Und auch so,
\r
1425 was soll's?" versetzte er ungeduldig. "Ich kann mir nicht vorstellen,
\r
1426 wie ein Mensch so toericht sein kann, sich zu erschiessen; der blosse
\r
1427 Gedanke erregt mir Widerwillen".
\r
1429 "Dass ihr Menschen", rief ich aus, "um von einer Sache zu reden, gleich
\r
1430 sprechen muesst: 'das ist toericht, das ist klug, das ist gut, das ist
\r
1431 boes!' und was will das alles heissen? Habt ihr deswegen die innern
\r
1432 Verhaeltnisse einer Handlung erforscht? Wisst ihr mit Bestimmtheit die
\r
1433 Ursachen zu entwickeln, warum sie geschah, warum sie geschehen musste?
\r
1434 Haettet ihr das, ihr wuerdet nicht so eilfertig mit euren Urteilen sein".
\r
1435 "Du wirst mir zugeben", sagte Albert, "dass gewisse Handlungen
\r
1436 lasterhaft bleiben, sie moegen geschehen, aus welchem Beweggrunde sie
\r
1437 wollen". Ich zuckte die Achseln und gab's ihm zu.--"Doch, mein
\r
1438 Lieber", fuhr ich fort, "finden sich auch hier einige Ausnahmen. Es
\r
1439 ist wahr, der Diebstahl ist ein Laster: aber der Mensch, der, um sich
\r
1440 und die Seinigen vom gegenwaertigen Hungertode zu erretten, auf Raub
\r
1441 ausgeht, verdient der Mitleiden oder Strafe? Wer hebt den ersten
\r
1442 Stein auf gegen den Ehemann, der im gerechten Zorne sein untreues Weib
\r
1443 und ihren nichtswuerdigen Verfuehrer aufopfert? Gegen das Maedchen, das
\r
1444 in einer wonnevollen Stunde sich in den unaufhaltsamen Freuden der
\r
1445 Liebe verliert? Unsere Gesetze selbst, diese kaltbluetigen Pedanten,
\r
1446 lassen sich ruehren und halten ihre Strafe zurueck".
\r
1448 "Das ist ganz was anders", versetzte Albert, "weil ein Mensch, den
\r
1449 seine Leidenschaften hinreissen, alle Besinnungskraft verliert und als
\r
1450 ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird". "Ach ihr
\r
1451 vernuenftigen Leute!" rief ich laechelnd aus. "Leidenschaft!
\r
1452 Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da,
\r
1453 ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den
\r
1454 Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der
\r
1455 Pharisaeer, dass er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich
\r
1456 bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie
\r
1457 weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in einem
\r
1458 Masse begreifen lernen, wie man alle ausserordentlichen Menschen, die
\r
1459 etwas Grosses, etwas Unmoeglichscheinendes wirkten, von jeher fuer
\r
1460 Trunkene und Wahnsinnige ausschreiten musste. Aber auch im gemeinen
\r
1461 Leben ist's unertraeglich, fast einem jeden bei halbweg einer freien,
\r
1462 edlen, unerwarteten Tat nachrufen zu hoeren: ' der Mensch ist trunken,
\r
1463 der ist naerrisch!' Schaemt euch, ihr Nuechternen! Schaemt euch, ihr
\r
1464 Weisen!" "Das sind nun wieder von deinen Grillen", sagte Albert, "du
\r
1465 ueberspannst alles und hast wenigstens hier gewiss unrecht, dass du den
\r
1466 Selbstmord, wovon jetzt die Rede ist, mit grossen Handlungen
\r
1467 vergleichst: da man es doch fuer nichts anders als eine Schwaeche halten
\r
1468 kann. Denn freilich ist es leichter zu sterben, als ein qualvolles
\r
1469 Leben standhaft zu ertragen". Ich war im Begriff abzubrechen; denn
\r
1470 kein Argument bringt mich so aus der Fessung, als wenn einer mit einem
\r
1471 unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, wenn ich aus ganzem
\r
1474 Doch fasste ich mich, weil ich's schon oft gehoert und mich oefter
\r
1475 darueber geaergert hatte, und versetzte ihm mit einiger Lebhaftigkeit:
\r
1476 "Du nennst das Schwaeche? Ich bitte dich, lass dich vom Anscheine nicht
\r
1477 verfuehren. Ein Volk, das unter dem unertraeglichen Joch eines Tyrannen
\r
1478 seufzt, darfst du das schwach heissen, wenn es endlich aufgaert und
\r
1479 seine Ketten zerreisst? Ein Mensch, der ueber dem Schrecken, dass Feuer
\r
1480 sein Haus ergriffen hat, alle Kraefte gespannt fuehlt und mit
\r
1481 Leichtigkeit Lasten wegtraegt, die er bei ruhigem Sinne kaum bewegen
\r
1482 kann; einer, der in der Wut der Beleidigung es mit sechsen aufnimmt
\r
1483 und sie ueberwaeltig, sind die schwach zu nennen? Und, mein Guter, wenn
\r
1484 Anstrengung Staerke ist, warum soll die UEberspannung das Gegenteil
\r
1485 sein?"--Albert sah mich an und sagte: "nimm mir's nicht uebel, die
\r
1486 Beispiele, die du gibst, scheinen hieher gar nicht zu gehoeren".--"Es
\r
1487 mag sein", sagte ich, "man hat mir schon oefters vorgeworfen, dass meine
\r
1488 Kombinationsart manchmal an Radotage grenze. Lasst uns denn sehen, ob
\r
1489 wir uns auf eine andere Weise vorstellen koennen, wie dem Menschen zu
\r
1490 Mute sein mag, der sich entschliesst, die sonst angenehme Buerde des
\r
1491 Lebens abzuwerfen. Denn nur insofern wir mitempfinden, haben wir die
\r
1492 Ehre, von einer Sache zu reden".
\r
1494 "Die menschliche Natur", fuhr ich fort, "hat ihre Grenzen: sie kann
\r
1495 Freude, Leid, Schmerzen bis auf einen gewissen Grad ertragen und geht
\r
1496 zugrunde, sobald der ueberstiegen ist. Hier ist also nicht die Frage,
\r
1497 ob einer schwach oder stark ist, sondern ob er das Mass seines Leidens
\r
1498 ausdauern kann, es mag nun moralisch oder koerperlich sein. Und ich
\r
1499 finde es ebenso wunderbar zu sagen, der Mensch ist feige, der sich das
\r
1500 Leben nimmt, als es ungehoerig waere, den einen Feigen zu nennen, der an
\r
1501 einem boesartigen Fieber stirbt".
\r
1503 "Paradox! Sehr paradox!" rief Albert aus.--"Nicht so sehr, als du
\r
1504 denkst", versetzte ich. "Du gibst mir zu, wir nennen das eine
\r
1505 Krankheit zum Tode, wodurch die Natur so angegriffen wird, dass teils
\r
1506 ihre Kraefte verzehrt, teils so ausser Wirkung gesetzt werden, dass sie
\r
1507 sich nicht wieder aufzuhelfen, durch keine glueckliche Revolution den
\r
1508 gewoehnlichen Umlauf des Lebens wieder herzustellen faehig ist.
\r
1510 Nun, mein Lieber, lass uns das auf den Geist anwenden. Sich den
\r
1511 Menschen an in seiner Eingeschraenktheit, wie Eindruecke auf ihn wirken,
\r
1512 Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft
\r
1513 ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zugrunde richtet.
\r
1515 Vergebens, dass der gelassene, vernuenftige Mensch den Zustand
\r
1516 Ungluecklichen uebersieht, vergebens, dass er ihm zuredet! Ebenso wie
\r
1517 ein Gesunder, der am Bette des Kranken steht, ihm von seinen Kraeften
\r
1518 nicht das geringste einfloessen kann".
\r
1520 Alberten war das zu allgemein gesprochen. Ich erinnerte ihn an ein
\r
1521 Maedchen, das man vor weniger Zeit im Wasser tot gefunden, und
\r
1522 wiederholte ihm ihre Geschichte.--"Ein gutes, junges Geschoepf, das in
\r
1523 dem engen Kreise haeuslicher Beschaeftigungen, woechentlicher bestimmter
\r
1524 Arbeit herangewachsen war, das weiter keine Aussicht von Vergnuegen
\r
1525 kannte, als etwa Sonntags in einem nach und nach zusammengeschafften
\r
1526 Putz mit ihresgleichen um die Stadt spazierenzugehen, vielleicht alle
\r
1527 hohen Feste einmal zu tanzen und uebrigens mit aller Lebhaftigkeit des
\r
1528 herzlichsten Anteils manche Stunde ueber den Anlass eines Gezaenkes,
\r
1529 einer uebeln Nachrede mit einer Nachbarin zu verplaudern--deren feurige
\r
1530 Natur fuehlt nun endlich innigere Beduerfnisse, die durch die
\r
1531 Schmeicheleien der Maenner vermehrt werden; ihre vorigen Freuden werden
\r
1532 ihr nach und nach unschmackhaft, bis sie endlich einen Menschen
\r
1533 antrifft, zu dem ein unbekanntes Gefuehl sie unwiderstehlich hinreisst,
\r
1534 auf den sie nun alle ihre Hoffnungen wirft, die Welt rings um sich
\r
1535 vergisst, nichts hoert, nichts sieht, nichts fuehlt als ihn, den Einzigen,
\r
1536 sich nur sehnt nach ihm, dem Einzigen. Durch die leeren Vergnuegungen
\r
1537 einer unbestaendigen Eitelkeit nicht verdorben, zieht ihr Verlangen
\r
1538 gerade nach dem Zweck, sie will die Seinige werden, sie will in ewiger
\r
1539 Verbindung all das Glueck antreffen, das ihr mangelt, die Vereinigung
\r
1540 aller Freuden geniessen, nach denen sie sich sehnte. Wiederholtes
\r
1541 Versprechen, das ihr die Gewissheit aller Hoffnungen versiegelt, kuehne
\r
1542 Liebkosungen, die ihre Begierden vermehren, umfangen ganz ihre Seele;
\r
1543 sie schwebt in einem dumpfen Bewusstsein, in einem Vorgefuehl aller
\r
1544 Freuden, sie ist bis auf den hoechsten Grad gespannt, sie streckt
\r
1545 endlich ihre Arme aus, all ihre Wuensche zu umfassen--und ihr Geliebter
\r
1546 verlaesst sie.--Erstarrt, ohne Sinne steht sie vor einem Abgrunde; alles
\r
1547 ist Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahnung!
\r
1548 Denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein fuehlte. Sie
\r
1549 sieht nicht die weite Welt, die vor ihr liegt, nicht die vielen, die
\r
1550 ihr de Verlust ersetzen koennten, sie fuehlt sich allein, verlassen von
\r
1551 aller Welt,--und blind, in die Enge gepresst von der entsetzlichen Not
\r
1552 ihres Herzens, stuerzt sie sich hinunter, um in einem rings umfangenden
\r
1553 Tode alle ihre Qualen zu ersticken.--Sieh, Albert, das ist die
\r
1554 Geschichte so manches Menschen! Und sag', ist das nicht der Fall der
\r
1555 Krankheit? Die Natur findet keinen Ausweg aus dem Labyrinthe der
\r
1556 verworrenen und widersprechenden Kraefte, und der Mensch muss sterben.
\r
1557 Wehe dem, der zusehen und sagen koennte: 'die Toerin! Haette sie
\r
1558 gewartet, haette sie die Zeit wirken lassen, die Verzweifelung wuerde
\r
1559 sich schon gelegt, es wuerde sich schon ein anderer sie zu troesten
\r
1560 vorgefunden haben.'--Das ist eben, als wenn einer sagte: 'der Tor,
\r
1561 stirbt am Fieber! Haette er gewartet, bis seine Kraefte sich erholt,
\r
1562 seine Saefte sich verbessert, der Tumult seines Blutes sich gelegt
\r
1563 haetten: alles waere gut gegangen, und er lebte bis auf den heutigen Tag!
\r
1566 Albert, dem die Vergleichung noch nicht anschaulich war, wandte noch
\r
1567 einiges ein, und unter andern: ich haette nur von einem einfaeltigen
\r
1568 Maedchen gesprochen; wie aber ein Mensch von Verstande, der nicht so
\r
1569 eingeschraenkt sei, der mehr Verhaeltnisse uebersehe, zu entschuldigen
\r
1570 sein moechte, koenne er nicht begreifen.--"Mein Freund", rief ich aus,
\r
1571 "der Mensch ist Mensch, und das bisschen Verstand, das einer haben mag,
\r
1572 kommt wenig oder nicht in Anschlag, wenn Leidenschaft wuetet und die
\r
1573 Grenzen der Menschheit einen draengen. Vielmehr--ein andermal davon",
\r
1574 sagte ich und griff nach meinem Hute. O mir war das Herz so voll--und
\r
1575 wir gingen auseinander, ohne einander verstanden zu haben. Wie denn
\r
1576 auf dieser Welt keiner leicht den andern versteht.
\r
1581 Es ist doch gewiss, dass in der Welt den Menschen nichts notwendig macht
\r
1582 als die Liebe. Ich fuehl's an Lotten, dass sie mich ungern verloere, und
\r
1583 die Kinder haben keinen andern Begriff, als dass ich immer morgen
\r
1584 wiederkommen wuerde. Heute war ich hinausgegangen, Lottens Klavier zu
\r
1585 stimmen, ich konnte aber nicht dazu kommen, denn die Kleinen
\r
1586 verfolgten mich um ein Maerchen, und Lotte sagte selbst, ich sollte
\r
1587 ihnen den Willen tun. Ich schnitt ihnen das Abendbrot, das sie nun
\r
1588 fast so gern von mir als von Lotten annehmen, und erzaehlte ihnen das
\r
1589 Hauptstueckchen von der Prinzessin, die von Haenden bedient wird. Ich
\r
1590 lerne viel dabei, das versichre ich dich, und ich bin erstaunt, was es
\r
1591 auf sie fuer Eindruecke macht. Weil ich manchmal einen Inzidentpunkt
\r
1592 erfinden muss, den ich beim zweitenmal vergesse, sagen sie gleich, das
\r
1593 vorigemal waer' es anders gewesen, so dass ich mich jetzt uebe, sie
\r
1594 unveraenderlich in einem singenden Silbenfall an einem Schnuerchen weg
\r
1595 zu rezitieren. Ich habe daraus gelernt, wie ein Autor durch eine
\r
1596 zweite, veraenderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie poetisch
\r
1597 noch so besser geworden waere, notwendig seinem Buche schaden muss. Der
\r
1598 erste Eindruck findet uns willig, und der Mensch ist gemacht, dass man
\r
1599 ihn das Abenteuerlichste ueberreden kann; das haftet aber auch gleich
\r
1600 so fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!
\r
1605 Musste denn das so sein, dass das, was des Menschen Glueckseligkeit macht,
\r
1606 wieder die Quelle seines Elendes wuerde?
\r
1608 Das volle, warme Gefuehl meines Herzens an der lebendigen Natur, das
\r
1609 mich mit so vieler Wonne ueberstroemte, das rings umher die Welt mir zu
\r
1610 einem Paradiese schuf, wird mir jetzt zu einem unertraeglichen Peiniger,
\r
1611 zu einem quaelenden Geist, der mich auf allen Wegen verfolgt. Wenn
\r
1612 ich sonst vom Felsen ueber den Fluss bis zu jenen Huegeln das fruchtbare
\r
1613 Tal ueberschaute und alles um mich her keimen und quellen sah; wenn ich
\r
1614 jene Berge, vom Fusse bis auf zum Gipfel, mit hohen, dichten Baeumen
\r
1615 bekleidet, jene Taeler in ihren mannigfaltigen Kruemmungen von den
\r
1616 lieblichsten Waeldern beschattet sah, und der sanfte Fluss zwischen den
\r
1617 lispelnden Rohren dahingleitete und die lieben Wolken abspiegelte, die
\r
1618 der sanfte Abendwind am Himmel herueberwiegte; wenn ich dann die Voegel
\r
1619 um mich den Wald beleben hoerte, und die Millionen Mueckenschwaerme im
\r
1620 letzten roten Strahle der Sonne mutig tanzten, und ihr letzter
\r
1621 zuckender Blick den summenden Kaefer aus seinem Grase befreite, und das
\r
1622 Schwirren und Weben um mich her mich auf den Boden aufmerksam machte,
\r
1623 und das Moos, das meinem harten Felsen seine Nahrung abzwingt, und das
\r
1624 Geniste, das den duerren Sandhuegel hinunter waechst, mir das innere,
\r
1625 gluehende, heilige Leben der Natur eroeffnete: wie fasste ich das alles
\r
1626 in mein warmes Herz, fuehlte mich in der ueberfliessenden Fuelle wie
\r
1627 vergoettert, und die herrlichen Gestalten der unendlichen Welt bewegten
\r
1628 sich allbelebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich,
\r
1629 Abgruende lagen vor mir, und Wetterbaeche stuerzten herunter, die Fluesse
\r
1630 stroemten unter mir, und Wald und Gebirg erklang; und ich sah sie
\r
1631 wirken und schaffen ineinander in den Tiefen der Erde, alle die
\r
1632 unergruendlichen Kraefte; und nun ueber der Erde und unter dem Himmel
\r
1633 wimmeln die Geschlechter der mannigfaltigen Geschoepfe. Ales, alles
\r
1634 bevoelkert mit tausendfachen Gestalten; und die Menschen dann sich in
\r
1635 Haeuslein zusammen sichern und sich annisten und herrschen in ihrem
\r
1636 Sinne ueber die weite Welt! Armer Tor! Der du alles so gering achtest,
\r
1637 weil du so klein bist.--vom unzugaenglichen Gebirge ueber die Einoede,
\r
1638 die kein Fuss betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans weht der
\r
1639 Geist des Ewigschaffenden und freut sich jedes Staubes, der ihn
\r
1640 vernimmt und lebt.--ach damals, wie oft habe ich mich mit Fittichen
\r
1641 eines Kranichs, der ueber mich hin flog, zu dem Ufer des ungemessenen
\r
1642 Meeres gesehnt, aus dem schaeumenden Becher des Unendlichen jene
\r
1643 schwellende Lebenswonne zu trinken und nur einen Augenblick in der
\r
1644 eingeschraenkten Kraft meines Busens einen Tropfen der Seligkeit des
\r
1645 Wesens zu fuehlen, das alles in sich und durch sich hervorbringt.
\r
1647 Bruder, nur die Erinnerung jener Stunden macht mir wohl. Selbst diese
\r
1648 Anstrengung, jene unsaeglichen Gelueste zurueckzurufen, wieder
\r
1649 auszusprechen, hebt meine Seele ueber sich selbst und laesst mich dann
\r
1650 das Bange des Zustandes doppelt empfinden, der mich jetzt umgibt.
\r
1652 Es hat sich vor meiner Seele wie ein Vorhang weggezogen, und der
\r
1653 Schauplatz des unendlichen Lebens verwandelt sich vor mir in den
\r
1654 Abgrund des ewig offenen Grabes. Kannst du sagen: Das ist! Da alles
\r
1655 voruebergeht? Da alles mit der Wetterschnelle vorueberrollt, so selten
\r
1656 die ganze Kraft seines Daseins ausdauert, ach, in den Strom
\r
1657 fortgerissen, untergetaucht und an Felsen zerschmettert wird? Da ist
\r
1658 kein Augenblick, der nicht dich verzehrte und die Deinigen um dich her,
\r
1659 kein Augenblick, da du nicht ein Zerstoerer bist, sein musst; der
\r
1660 harmloseste Spaziergang kostet tausend armen Wuermchen das Leben, es
\r
1661 zerruettet ein Fusstritt die muehseligen Gebaeude der Ameisen und stampft
\r
1662 eine kleine Welt in ein schmaehliches Grab. Ha! Nicht die grosse,
\r
1663 seltne Not der Welt, diese Fluten, die eure Doerfer wegspuelen, diese
\r
1664 Erdbeben, die eure Staedte verschlingen, ruehren mich; mir untergraebt
\r
1665 das Herz die verzehrende Kraft, die in dem All der Natur verborgen
\r
1666 liegt; die nichts gebildet hat, das nicht seinen Nachbar, nicht sich
\r
1667 selbst zerstoerte. Und so taumle ich beaengstigt. Himmel und Erde und
\r
1668 ihre webenden Kraefte um mich her: ich sehe nichts als ein ewig
\r
1669 verschlingendes, ewig wiederkaeuendes Ungeheuer.
\r
1674 Umsonst strecke ich meine Arme nach ihr aus, morgens, wenn ich von
\r
1675 schweren Traeumen aufdaemmere, vergebens suche ich sie nachts in meinem
\r
1676 Bette, wenn mich ein gluecklicher, unschuldiger Traum getaeuscht hat,
\r
1677 als saess' ich neben ihr auf der Wiese und hielt' ihre Hand und deckte
\r
1678 sie mit tausend Kuessen. Ach, wenn ich dann noch halb im Taumel des
\r
1679 Schlafes nach ihr tappe und drueber mich ermuntere--ein Strom von
\r
1680 Traenen bricht aus meinem gepressten Herzen, und ich weine trostlos
\r
1681 einer finstern Zukunft entgegen.
\r
1686 E ist ein Unglueck, Wilhelm, meine taetigen Kraefte sind zu einer
\r
1687 unruhigen Laessigkeit verstimmt, ich kann nicht muessig sein und kann
\r
1688 doch auch nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefuehl
\r
1689 an der Natur, und die Buecher ekeln mich an. Wenn wir uns selbst
\r
1690 fehlen, fehlt uns doch alles. Ich schwoere dir, manchmal wuenschte ich,
\r
1691 ein Tageloehner zu sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht
\r
1692 auf den kuenftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben. Oft
\r
1693 beneide ich Alberten, den ich ueber die Ohren in Akten begraben sehe,
\r
1694 und bilde mir ein, mir waere wohl, wenn ich an seiner Stelle waere!
\r
1695 Schon etlichemal ist mir's so aufgefahren, ich wollte dir schreiben
\r
1696 und dem Minister, um die Stelle bei der Gesandtschaft anzuhalten, die,
\r
1697 wie du versicherst, mir nicht versagt werden wuerde. Ich glaube es
\r
1698 selbst. Der Minister liebt mich seit langer Zeit, hatte lange mir
\r
1699 angelegen, ich sollte mich irgendeinem Geschaefte widmen; und eine
\r
1700 Stunde ist mir's auch wohl drum zu tun. Hernach, wenn ich wieder dran
\r
1701 denke und mir die Fabel vom Pferde einfaellt, das, seiner Freiheit
\r
1702 ungeduldig, sich Sattel und Zeug auflegen laesst und zuschanden geritten
\r
1703 wird--ich weiss nicht, was ich soll.--und, mein Lieber! Ist nicht
\r
1704 vielleicht das Sehnen in mir nach Veraenderung des Zustands eine innere,
\r
1705 unbehagliche Ungeduld, die mich ueberallhin verfolgen wird?
\r
1710 Es ist wahr, wenn meine Krankheit zu heilen waere, so wuerden diese
\r
1711 Menschen es tun. Heute ist mein Geburtstag, und in aller Fruehe
\r
1712 empfange ich ein Paeckchen von Alberten. Mir faellt beim Eroeffnen
\r
1713 sogleich eine der blassroten Schleifen in die Augen, die Lotte vor
\r
1714 hatte, als ich sie kennen lernte, und um die ich sie seither
\r
1715 etlichemal gebeten hatte. Es waren zwei Buechelchen in Duodez dabei,
\r
1716 der kleine Wetsteinische Homer, eine Ausgabe, nach der ich so oft
\r
1717 verlangt, um mich auf dem Spaziergange mit dem Ernestischen nicht zu
\r
1718 schleppen. Sieh! So kommen sie meinen Wuenschen zuvor, so suchen sie
\r
1719 alle die kleinen Gefaelligkeiten der Freundschaft auf, die tausendmal
\r
1720 werter sind als jene blendenden Geschenke, wodurch uns die Eitelkeit
\r
1721 des Gebers erniedrigt. Ich kuesse diese Schleife tausendmal, und mit
\r
1722 jedem Atemzuge schluerfe ich die Erinnerung jener Seligkeiten ein, mit
\r
1723 denen mich jene wenigen, gluecklichen, unwiederbringlichen Tage
\r
1724 ueberfuellten. Wilhelm, es ist so, und ich murre nicht, die Blueten des
\r
1725 Lebens sind nur Erscheinungen! Wie viele gehn vorueber, ohne eine Spur
\r
1726 hinter sich zu lassen, wie wenige setzen Frucht an, und wie wenige
\r
1727 dieser Fruechte werden reif! Und doch sind deren noch genug da; und
\r
1728 doch--o mein Bruder!--koennen wir gereifte Fruechte vernachlaessigen,
\r
1729 verachten, ungenossen verfaulen lassen?
\r
1731 Lebe wohl! Es ist ein herrlicher Sommer; ich sitze oft auf den
\r
1732 Obstbaeumen in Lottens Baumstueck mit dem Obstbrecher, der langen Stange,
\r
1733 und hole die Birnen aus dem Gipfel. Sie steht unten und nimmt sie ab,
\r
1734 wenn ich sie ihr herunterlasse.
\r
1739 Ungluecklicher! Bist du nicht ein Tor? Betriegst du dich nicht
\r
1740 selbst? Was soll diese tobende, endlose Leidenschaft? Ich habe kein
\r
1741 Gebet mehr als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere
\r
1742 Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur
\r
1743 im Verhaeltnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glueckliche
\r
1744 Stunde--bis ich mich wieder von ihr losreissen muss! Ach Wilhelm! Wozu
\r
1745 mich mein Herz oft draengt!--wenn ich bei ihr gesessen bin, zwei, drei
\r
1746 Stunden, und mich an ihrer Gestalt, an ihrem Betragen, an dem
\r
1747 himmlischen Ausdruck ihrer Worte geweidet habe, und nun nach und nach
\r
1748 alle meine Sinne aufgespannt werden, mir es duester vor den Augen wird,
\r
1749 ich kaum noch hoere, und es mich an die Gurgel fasst wie ein
\r
1750 Meuchelmoerder, dann mein Herz in wilden Schlaegen den bedraengten Sinnen
\r
1751 Luft zu machen sucht und ihre Verwirrung nur vermehrt--Wilhelm, ich
\r
1752 weiss oft nicht, ob ich auf der Welt bin! Und--wenn nicht manchmal die
\r
1753 Wehmut das UEbergewicht nimmt und Lotte mir den elenden Trost erlaubt,
\r
1754 auf ihrer Hand meine Beklemmung auszuweinen,--so muss ich fort, muss
\r
1755 hinaus, und schweife dann weit im Felde umher; einen jaehen Berg zu
\r
1756 klettern ist dann meine Freude, durch einen unwegsamen Wald einen Pfad
\r
1757 durchzuarbeiten, durch die Hecken, die mich verletzen, durch die
\r
1758 Dornen, die mich zerreissen! Da wird mir's etwas besser! Etwas! Und
\r
1759 wenn ich vor Muedigkeit und Durst manchmal unterwegs liegen bleibe,
\r
1760 manchmal in der tiefen Nacht, wenn der hohe Vollmond ueber mir steht,
\r
1761 im einsamen Walde auf einen krumm gewachsenen Baum mich setze, um
\r
1762 meinen verwundeten Sohlen nur einige Linderung zu verschaffen, und
\r
1763 dann in einer ermattenden Ruhe in dem Daemmerschein hinschlummre! O
\r
1764 Wilhelm! Die einsame Wohnung einer Zelle, das haerene Gewand und der
\r
1765 Stachelguertel waeren Labsale, nach denen meine Seele schmachtet. Adieu!
\r
1766 Ich sehe dieses Elendes kein Ende als das Grab.
\r
1771 Ich muss fort! Ich danke dir, Wilhelm, dass du meinen wankenden
\r
1772 Entschluss bestimmt hast. Schon vierzehn Tage gehe ich mit dem
\r
1773 Gedanken um, sie zu verlassen. Ich muss fort. Sie ist wieder in der
\r
1774 Stadt bei einer Freundin. Und Albert--und--ich muss fort!
\r
1779 Das war eine Nacht! Wilhelm! Nun ueberstehe ich alles. Ich werde sie
\r
1780 nicht wiedersehn! O dass ich nicht an deinen Hals fliegen, dir mit
\r
1781 tausend Traenen und Entzueckungen ausdruecken kann, mein Bester, die
\r
1782 Empfindungen, die mein Herz bestuermen. Hier sitze ich und schnappe
\r
1783 nach Luft, suche mich zu beruhigen, erwarte den Morgen, und mit
\r
1784 Sonnenaufgang sind die Pferde bestellt.
\r
1786 Ach, sie schlaeft ruhig und denkt nicht, dass sie mich nie wieder sehen
\r
1787 wird. Ich habe mich losgerissen, bin stark genug gewesen, in einem
\r
1788 Gespraech von zwei Stunden mein Vorhaben nicht zu verraten. Und Gott,
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1789 welch ein Gespraech!
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1791 Albert hatte mir versprochen, gleich nach dem Nachtessen mit Lotten im
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1792 Garten zu sein. Ich stand auf der Terrasse unter den hohen
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1793 Kastanienbaeumen und sah der Sonne nach, die mir nun zum letztenmale
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1794 ueber dem lieblichen Tale, ueber dem sanften Fluss unterging. So oft
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1795 hatte ich hier gestanden mit ihr und eben dem herrlichen Schauspiele
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1796 zugesehen, und nun--ich ging in der Allee auf und ab, die mir so lieb
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1797 war; ein geheimer sympathetischer Zug hatte mich hier so oft gehalten,
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1798 ehe ich noch Lotten kannte, und wie freuten wir uns, als wir im Anfang
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1799 unserer Bekanntschaft die wechselseitige Neigung zu diesem Plaetzchen
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1800 entdeckten, das wahrhaftig eins von den romantischsten ist, die ich
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1801 von der Kunst hervorgebracht gesehen habe.
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1803 Erst hast du zwischen den Kastanienbaeumen die weite Aussicht--Ach, ich
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1804 erinnere mich, ich habe dir, denk' ich, schon viel davon geschrieben,
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1805 wie hohe Buchenwaende einen endlich einschliessen und durch ein
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1806 daranstossendes Boskett die Allee immer duesterer wird, bis zuletzt
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1807 alles sich in ein geschlossenes Plaetzchen endigt, das alle Schauer der
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1808 Einsamkeit umschweben. Ich fuehle es noch, wie heimlich mir's ward,
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1809 als ich zum erstenmale an einem hohen Mittage hineintrat; ich ahnete
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1810 ganz leise, was fuer ein Schauplatz das noch werden sollte von
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1811 Seligkeit und Schmerz.
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1813 Ich hatte mich etwa eine halbe Stunde in den schmachtenden, suessen
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1814 Gedanken des Abscheidens, des Wiedersehens geweidet, als ich sie die
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1815 Terrasse heraufsteigen hoerte. Ich lief ihnen entgegen, mit einem
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1816 Schauer fasste ich ihre Hand und kuesste sie. Wir waren eben
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1817 heraufgetreten, als der Mond hinter dem buschigen Huegel aufging; wir
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1818 redeten mancherlei und kamen unvermerkt dem duestern Kabinette naeher.
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1819 Lotte trat hinein und setzte sich, Albert neben sie, ich auch; doch
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1820 meine Unruhe liess mich nicht lange sitzen; ich stand auf, trat vor sie,
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1821 ging auf und ab, setzte mich wieder: es war ein aengstlicher Zustand.
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1822 Sie machte uns aufmerksam auf die schoene Wirkung des Mondenlichtes,
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1823 das am Ende der Buchenwaende die ganze Terrasse vor uns erleuchtete:
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1824 ein herrlicher Anblick, der um so viel frappanter war, weil uns rings
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1825 eine tiefe Daemmerung einschloss. Wir waren still, und sie fing nach
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1826 einer Weile an: "niemals gehe ich im Mondenlichte spazieren, niemals,
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1827 dass mir nicht der Gedanke an meine Verstorbenen begegnete, dass nicht
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1828 das Gefuehl von Tod, von Zukunft ueber mich kaeme". "Wir werden sein!"
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1829 fuhr sie mit der Stimme des herrlichsten Gefuehls fort; "aber, Werther,
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1830 sollen wir uns wieder finden? Wieder erkennen? Was ahnen Sie? Was
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1833 "Lotte", sagte ich, indem ich ihr die Hand reichte und mir die Augen
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1834 voll Traenen wurden,"wir werden uns wiedersehn! Hier und dort
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1835 wiedersehn!"--ich konnte nicht weiter reden--Wilhelm, musste sie mich
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1836 das fragen, da ich diesen aengstlichen Abschied im Herzen hatte!
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1838 "Und ob die lieben Abgeschiednen von uns wissen", fuhr sie fort, "ob
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1839 sie fuehlen, wann's uns wohl geht, dass wir mit warmer Liebe uns ihrer
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1840 erinnern? O! Die Gestalt meiner Mutter schwebt immer um mich, wenn
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1841 ich am stillen Abend unter ihren Kindern, unter meinen Kindern sitze
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1842 und sie um mich versammelt sind, wie sie um sie versammelt waren.
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1843 Wenn ich dann mit einer sehnenden Traene gen Himmel sehe und wuensche,
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1844 dass sie hereinschauen koennte einen Augenblick, wie ich mein Wort halte,
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1845 das ich ihr in der des Todes gab: die Mutter ihrer Kinder zu sein.
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1846 Mit welcher Empfindung rufe ich aus: 'verzeihe mir's, Teuerste, wenn
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1847 ich ihnen nicht bin, was du ihnen warst. Ach! Tue ich doch alles,
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1848 was ich kann; sind sie doch gekleidet, genaehrt, ach, und, was mehr ist
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1849 als das alles, gepflegt und geliebt. Koenntest du unsere Eintracht
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1850 sehen, liebe Heilige! Du wuerdest mit dem heissesten Danke den Gott
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1851 verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Traenen um die
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1852 Wohlfahrt deiner Kinder batest.'"--Sie sagte das! O Wilhelm, wer
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1853 kann wiederholen, was sie sagte! Wie kann der kalte, tote Buchstabe
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1854 diese himmlische Bluete des Geistes darstellen! Albert fiel ihr sanft
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1855 in die Rede: "es greift zu stark an, liebe Lotte! Ich weiss, Ihre
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1856 Seele haengt sehr nach diesen Ideen, aber ich bitte Sie".--"O Albert",
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1857 sagte sie, "ich weiss, du vergissest nicht die Abende, da wir
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1858 zusammensassen an dem kleinen, runden Tischchen, wenn der Papa verreist
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1859 war, und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten. Du hattest oft
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1860 ein gutes Buch und kannst so selten dazu, etwas zu lesen--war der
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1861 Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles? Die schoene,
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1862 sanfte, muntere und immer taetige Frau! Gott kennt meine Traenen, mit
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1863 denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er moechte mich ihr
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1866 "Lotte!" rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hand nahm
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1867 und mit tausend Traenen netzte, "Lotte! Der Segen Gottes ruht ueber dir
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1868 und der Geist deiner Mutter!" "Wenn Sie sie gekannt haetten", sagte
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1869 sie, indem sie mir die Hand drueckte,--"sie war wert, von Ihnen gekannt
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1870 zu sein!"--ich glaubte zu vergehen.
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1872 Nie war ein groesseres, stolzeres Wort ueber mich ausgesprochen
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1873 worden--und sie fuhr fort:"und diese Frau musste in der Bluete ihrer
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1874 Jahre dahin, da ihr juengster Sohn nicht sechs Monate alt war! Ihre
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1875 Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig, hingegeben, nur ihre
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1876 Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie es gegen das Ende
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1877 ging und sie zu mir sagte: 'bringe mir sie herauf!' und wie ich sie
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1878 hereinfuehrte, die kleinen, die nicht wussten, und die aeltesten, die
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1879 ohne Sinne waren, wie sie ums Bette standen, und wie sie die Haende
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1880 aufhob und ueber sie betete, und sie kuesste nach einander und sie
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1881 wegschickte und zu mir sagte: 'sei ihre Mutter!'--Ich gab ihr die Hand
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1882 drauf!--'Du versprichst viel, meine Tochter', sagte sie, 'das Herz
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1883 einer Mutter und das Aug' einer Mutter. Ich habe oft an deinen
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1884 dankbaren Traenen gesehen, dass du fuehlst, was das sei. Habe es fuer
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1885 deine Geschwister, und fuer deinen Vater die Treue und den Gehorsam
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1886 einer Frau. Du wirst ihn troesten.'--Sie fragte nach ihm, er war
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1887 ausgegangen, um uns den unertraeglichen Kummer zu verbergen, den er
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1888 fuehlte, der Mann war ganz zerrissen.
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1890 Albert, du warst im Zimmer. Sie hoerte jemand gehn und fragte und
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1891 forderte dich zu sich, und wie sie dich ansah und mich, mit dem
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1892 getroesteten, ruhigen Blicke, dass wir gluecklich sein, zusammen
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1893 gluecklich sein wuerden".--Albert fiel ihr um den Hals und kuesste sie und
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1894 rief: "wir sind es! Wir werden es sein!"--der ruhige Albert war ganz
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1895 aus seiner Fassung, und ich wusste nichts von mir selber. "Werther",
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1896 fing sie an, "und diese Frau sollte dahin sein! Gott! Wenn ich
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1897 manchmal denke, wie man das Liebste seines Lebens wegtragen laesst, und
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1898 niemand als die Kinder das so scharf fuehlt, die sich noch lange
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1899 beklagten, die schwarzen Maenner haetten die Mama weggetragen! "sie
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1900 stand auf, und ich ward erweckt und erschuettert, blieb sitzen und
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1901 hielt ihre Hand.--"Wir wollen fort", sagte sie, "es wird Zeit".--Sie
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1902 wollte ihre Hand zurueckziehen, und ich hielt sie fester.--"wir werden
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1903 uns wieder sehen" rief ich, "wir werden uns finden, unter allen
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1904 Gestalten werden wir uns erkennen. Ich gehe", fuhr ich fort, "ich
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1905 gehe willig, und doch, wenn ich sagen sollte auf ewig, ich wuerde es
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1906 nicht aushalten. Leb' wohl, Lotte! Leb' wohl, Albert! Wir sehn uns
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1907 wieder".--"Morgen, denke ich", versetzte sie scherzend.--Ich fuehlte
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1908 das Morgen! Ach, sie wusste nicht, als sie ihre Hand aus der meinen
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1909 zog--Sie gingen die Allee hinaus, ich stand, sah ihnen nach im
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1910 Mondscheine und warf mich an die Erde und weinte mich aus und sprang
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1911 auf und lief auf die Terrasse hervor und sah noch dort unten im
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1912 Schatten der hohen Lindenbaeume ihr weisses Kleid nach der Gartentuer
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1913 schimmern, ich streckte meine Arme aus, und es verschwand.
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1919 Ende dieses Projekt Gutenberg Etexes "Die Leiden des jungen
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1920 Werther-Buch 1" von Johann Wolfgang von Goethe.
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