2 C:\SW70\VORLAGEN\STANDARD.LAY
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3 C:\SW70\TREIBER\FM$65011.GPM
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51 Grund - Absatzlayout
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117 Grund - Seitenlayout
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149 \x14\x03KAB
\x14\x03AAB
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158 S t e f a n B r e u e r
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161 G e s e l l s c h a f t d e s V e r s c h w i n d e n s
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176 \x0f\x03S
\x03Vorwort
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180 \x0f\x03S
\x03Die Entwicklungskurve der Zivilisation.
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181 \x0f\x03S
\x03Eine Auseinandersetzung mit Norbert Elias
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185 \x0f\x03S
\x03Produktive Disziplin. Foucaults Theorie der
186 Disziplinargesellschaft
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190 \x0f\x03S
\x03Adorno, Luhmann: Die moderne Gesellschaft zwischen
191 Selbstreferenz und Selbstdestruktion
\r
195 \x0f\x03S
\x03'Nicht der Anfang, das Ende tr„gt die Last'.
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196 \x0f\x03S
\x03Friedrich Georg J�nger und die Perfektion der Technik
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200 \x0f\x03S
\x03Der Nihilismus der Geschwindigkeit.
\r
201 \x0f\x03S
\x03Zum Werk Paul Virilios
\r
205 \x0f\x03S
\x03Technik und Wissenschaft als Hierophanie
\r
209 \x0f\x03S
\x03G”tterd„mmerung
\r
211 \f\x0f\x03S
\x03\x14\x02PA
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212 \x0f\x03S
\x03Vorwort
\r
219 \x0f\x03S
\x03\x0f\x05\x03\x04\x11... Wir ordnens. Es zerf„llt.
\r
220 \x0f\x03S
\x03 Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
\r
221 \x0f\x03S
\x03 Rilke, Duineser Elegien
\r
223 \x0f\x03S
\x03Die Gegenwart, so versichert man uns seit einiger Zeit, stehe im
224 Zeichen eines groáen Verschwindens. Die Metaerz„hlungen, welche
225 die Spielregeln des modernen Wissens legitimierten, l”sten sich
226 auf oder verl”ren an Glaubw�rdigkeit; die Diskurse �ber die
227 Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns oder die
228 Emanzipation der Gattung enth�llten sich als Fabeln, denen keine
229 Funktion mehr zukomme (Lyotard 1986, 13f.). Die Fundamente der
230 neuzeitlichen Metaphysik w�rden br�chig, das Ende des
231 Humanismus, der Subjektivit„t, ja der Moderne schlechthin
232 k�ndige sich an (Vattimo 1990, 52f.). Das Wissen selbst sprenge
233 im Zuge seiner Entfaltung die vereinheitlichenden,
234 universalisierenden, totalisierenden Ambitionen, mit denen es
235 seit Descartes belastet sei. Relativit„tstheorie und
236 Quantenphysik bewirkten eine Grundsatzrevision, eine "Mutation
237 im Kern der Neuzeit", an der der Absolutheitsanspruch der alten
238 Mathesis universalis zerbreche. Aufl”sung des Ganzen, Ende der
239 Einheit, Obsoletheit der Totalit„t: "Absolutheit ist nur noch
240 eine Idee, ein archimedischer Punkt ist undenkbar, das Operieren
241 ohne letztes Fundament wird zur Grundsituation" (Welsch 1988,
244 \x0f\x03S
\x03Dem Verschwinden der Totalit„t, heiát es weiter, korrespondiert
245 das Erscheinen der Pluralit„t, dem 'Koma der Moderne' (Matthieu)
246 die Geburt der Postmoderne. Wo der szientifische Diskurs der
247 Moderne nur den Kult einer monotheistischen Vernunft kannte,
248 begreift sich der Postmodernismus als Anwalt des Polytheismus,
249 als "Wahrer einer vielf„ltigen Wirklichkeit gegen ihre
250 technologische Eintr�bung" (ebd. 221 f.); wo einst die
251 Monokultur eines technologischen Zeitalters sich ausbreitete,
252 bl�ht heute eine bunte Vielfalt von Horizonten, Lebenswelten,
253 Wissensformen. Die Postmoderne 'verwindet' die Metaphysik
254 (Vattimo 1990, 53); sie beharrt gegen�ber der homogenisierenden
255 Gewalt des ”konomischen Diskurses auf der "Heterogenit„t der
256 Satz-Regelsysteme und Diskursarten" (Lyotard 1987, 263) und
257 zeigt sich aggressiv gegen jede Totalisierung. "Krieg dem
258 Ganzen, zeugen wir f�r das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir
259 die Widerstreite, retten wir die Ehre des Namens" (Lyotard 1988,
260 203). Auch wenn in diesem Krieg noch einige Schlachten verloren
261 gehen sollten, glaubt die Postmoderne die st„rkeren Bataillone
262 auf ihrer Seite zu haben. Sie will gegen�ber Technik und
263 ™konomie das umfassendere Deutungsmuster sein und nicht nur die
264 Entwicklungslogik des Wissens, sondern auch die der Gesellschaft
265 f�r sich haben (Welsch 1988, 218, 4). Das Verschwinden des
266 Ganzen sei nicht mehr aufzuhalten, die Freisetzung der Teile
267 unvermeidlich. "Die Postmoderne beginnt dort, wo das Ganze
268 aufh”rt" (ebd. 39).
\r
270 \x0f\x03S
\x03Nun gibt es wenig Gr�nde, die Moderne vor der Kritik zu
271 sch�tzen. Die meisten der gegen sie vorgetragenen Gravamina
272 bestehen zu Recht. Es gibt aber auch keinen Grund, sich einem
273 Feldzug anzuschlieáen, der auf einer so fragw�rdigen
274 Lagebeurteilung wie der soeben skizzierten beruht. Zun„chst
275 einmal ist v”llig ungekl„rt, um welche Art von Pluralit„t es
276 sich handelt, die den Holismus der Moderne ersetzen soll: um
277 eine Pluralit„t, die aus der Gleichzeitigkeit des
278 Ungleichzeitigen resultiert, also lediglich ein Ensemble noch
279 nicht vermittelter Vielheit ist; um die Differenzierungsprodukte
280 einer Einheit, die noch im Auáersichsein bei sich selbst ist -
281 Pluralit„t … la Hegel; oder um eine materiale, irreduzible
282 Pluralit„t, an der jeder Homogenisierungsversuch scheitert. Nur
283 diese letztere lieáe sich aussichtsreich mobilisieren, aber auch
284 nur dann, wenn sie strategische Relevanz besitzt und nicht bloá
285 marginaler Natur ist. Lyotards Eingest„ndnis, das einzige
286 un�berwindliche Hindernis f�r die hegemonialen Tendenzen des
287 ”konomischen Diskurses liege in der Heterogenit„t der Satz-
288 Regelsysteme, deutet jedoch genau in diese Richtung. Wer der
289 zerst”rerischen Gewalt der Moderne nur S„tze entgegenzusetzen
290 hat, hat ihr schon nichts mehr entgegenzusetzen.
\r
292 \x0f\x03S
\x03Schlieálich sind auch die Bundesgenossen, auf die sich der
293 Postmodernismus glaubt st�tzen zu k”nnen, alles andere als
294 vertrauenerweckend. Es mag ja sein, daá mit den Innovationen von
295 Einstein, Heisenberg und G”del der Totalit„tsanspruch der alten
296 Mathesis universalis unhaltbar geworden ist. Aber erstens ist
297 das mechanische Weltbild durch die neuere Physik nicht einfach
298 widerlegt, sondern lediglich auf den mesokosmischen Bereich
299 eingeschr„nkt worden. Und zweitens kann man den Vorstoá von
300 Wissenschaft und Technik in den mikro- und makrokosmischen
301 Bereich kaum als Beleg f�r eine "Einschr„nkung des
302 Monopolanspruchs der Wissenschaft" oder als Anzeichen f�r eine
303 Beendigung der "Hegemonie szientifischer Orientierung" nehmen
304 (Welsch 1988, 188, 222). Die Flexibilisierung der Wissenschaft
305 und die Erweiterung ihres Methodenarsenals begr�nden ihre
306 Expansion, nicht ihre Selbstlimitation.
\r
308 \x0f\x03S
\x03Wie die Postmodernisten ihre eigenen St„rke �bersch„tzen, so
309 untersch„tzen sie die des Gegners. Die Rede von den groáen
310 Erz„hlungen suggeriert, daá Totalit„t nichts weiter sei als eine
311 "Anmaáung" (Lyotard 1988a, 213), eine falsche Darstellung der
312 Welt, die sich jederzeit durch eine ad„quatere korrigieren
313 lieáe; der Diskurs der Moderne erscheint so als das Ergebnis
314 einer immer schon "illegitimen Erhebung eines in Wirklichkeit
315 Partikularen zum vermeintlich Absoluten" (Welsch 1988, 5), als
316 šbergriff, dem kritizistisch mit dem Hinweis auf die begrenzten
317 Kompetenzen des Denkens zu begegnen ist. So ungef„hr
318 argumentierten vor Jahrzehnten schon Popper und Albert, die sich
319 weit mehr daf�r interessierten, den Dialektikern totalit„re
320 Ambitionen nachzuweisen, als den totalisierenden Tendenzen in
321 der Wirklichkeit nachzugehen. Totalit„t ist aber keine Erfindung
322 herrschs�chtiger Intellektueller, sondern eine Realit„t, die
323 sich nicht einfach wegdekretieren l„át. Sie manifestiert sich in
324 der Tendenz des Kapitals, "alle Elemente der Gesellschaft sich
325 unterzuordnen oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus
326 zu schaffen" (Marx 1974, 189); sie zeigt sich in der
327 \fUniversalisierung und Globalisierung der dem Kapitalverh„ltnis
328 eigenen Produktions- und Zirkulationsformen; und nicht zuletzt
329 in der massiven Expansion der experimentellen Wissenschaften,
330 die immer tiefer in die Infrastrukturen der Materie
331 intervenieren und l„ngst keine Grenzen mehr kennen. Nicht daá
332 dem Postmodernismus dies v”llig entginge. Aber die forcierte,
333 wie immer auch inzwischen zur�ckgenommene oder relativierte
334 Behauptung einer Postmoderne, eines Zustands also jenseits der
335 f�r die Moderne typischen Totalisierung, deutet auf eine
336 Verharmlosung, die nicht anders als leichtfertig bezeichnet
337 werden kann. Wer f�r ein 'Denken des Genusses' eintritt (Vattimo
338 1990, 192), mag dies tun, er dr�ckt damit ohnehin nur die
339 herrschende Orientierung aus. Er sollte aber nicht die Illusion
340 verbreiten, es handle sich um mehr als den Genuá von
341 Henkersmahlzeiten. Das Ende der Moderne wird nicht der Aufgang
342 der Postmoderne sein, sondern das Ende der Welt, genauer: der
345 \x0f\x03S
\x03So jedenfalls legt es die dialektische Denkbewegung nahe, die
346 das Verh„ltnis von Erscheinen und Verschwinden ganz anders faát
347 als der Postmodernismus. W„hrend der letztere das Signum der
348 Epoche im Verschwinden der Einheit und im Erscheinen
349 vermittlungsloser Vielfalt sieht, insistiert das dialektische
350 Denken seit Hegel darauf, daá die unvermittelte Vielfalt
351 verschwindet und von einer absoluten, in sich differenzierten
352 Einheit abgel”st wird. Die Hegelsche Logik analysiert die
353 Bewegung vom scheinenden zum erscheinenden Wesen, in deren
354 Verlauf die dem Wesen eigenen Bestimmungen als reale und
355 selbst„ndige Vermittlungen in die Existenz treten; die
356 Geschichtsphilosophie �bersetzt diesen Gedanken in einen
357 historischen Prozeá, dessen markanteste Stationen das Erscheinen
358 des G”ttlichen in Christo und die Realisierung der Vernunft im
359 modernen Staate sind. Marx „uáerte hieran berechtigte Zweifel
360 und verschob die wahre Vers”hnung auf den Sozialismus. Am
361 Grundgedanken hielt er nichtsdestoweniger fest. Auch f�r ihn ist
362 die Heterogenit„t der modernen Gesellschaft - die 'Konkurrenz' -
363 nichts Neues oder Eigenst„ndiges gegen�ber dem Wesen, sondern
364 dessen Erscheinungsform. Denn das Wesen der modernen
365 Gesellschaft - das Wertgesetz - besteht gerade darin, als
366 Negation seiner selbst zu erscheinen, so daá der Erscheinung der
367 Schein von Selbst„ndigkeit zukommt. "Innerhalb des
368 Wertverh„ltnisses und des darin einbegriffenen Wertausdrucks
369 gilt das abstrakt Allgemeine nicht als Eigenschaft des
370 Konkreten, Sinnlich-Wirklichen, sondern umgekehrt das Sinnlich-
371 Konkrete als bloáe Erscheinungs- oder bestimmte
372 Verwirklichungsform des Abstrakt-Allgemeinen (...). Diese
373 Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als
374 Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt-
375 Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt,
376 charakterisiert den Wertausdruck" (Marx 1867, 771).
\r
378 \x0f\x03S
\x03Diese Konzeption ist festzuhalten, weil sich nur mit ihrer Hilfe
379 Einsicht in die komplizierte Architektur der modernen
380 Gesellschaft gewinnen l„át. Sie ist aber zugleich zu
381 modifizieren, weil Marx, darin ganz Kind des 19. Jhs., die
382 selbstzerst”rischen Z�ge der Wertvergesellschaftung
383 untersch„tzte. Gewiá, Marx sah genau, daá die kapitalistische
384 Produktionsweise die "Springquellen allen Reichtums untergr„bt:
385 \fdie Erde und den Arbeiter" (MEW 23, 530). Er erkannte ferner mit
386 einer Klarheit wie niemand vor ihm, welches selbstnegatorische
387 Potential mit dem wachsenden Widerspruch zwischen notwendiger
388 und �berfl�ssiger Arbeitszeit entsteht (Marx 1974, 592ff.).
389 Indes war er felsenfest davon �berzeugt, daá, wenn schon nicht
390 das Kapital, so doch die Menschheit imstande sein w�rde, sich
391 wie M�nchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Der
392 Speer, der die Wunde schlug - die Wissenschaft - galt ihm als
393 poena et remedium peccati. Wenn die verwissenschaftlichte
394 Produktion unter kapitalistischen Bedingungen den Stoffwechsel
395 zwischen Mensch und Erde st”rte, so zwang sie doch zugleich
396 "durch die Zerst”rung der bloá naturw�chsig entstandnen Umst„nde
397 jenes Stoffwechsels, ihn systematisch als regelndes Gesetz der
398 gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen
399 menschlichen Entwicklung ad„quaten Form herzustellen" (MEW 23,
400 528). Wenn sie die Arbeitsmittel in "Unterjochungsmittel,
401 Exploitationsmittel und Verarmungsmittel des Arbeiters"
402 verwandelte und die "gesellschaftliche Kombination der
403 Arbeitsprozesse als organisierte Unterdr�ckung seiner
404 individuellen Lebendigkeit, Freiheit und Selbst„ndigkeit"
405 betrieb (ebd. 528f.), so folgte sie damit nur einer geheimen
406 Logik, die das, was sie den Individuen nahm, der Gattung in
407 tausendfach vergr”áerter Form zur�ckerstattete. F�r Marx war die
408 kapitalistische Modernisierung, wie f�r die meisten b�rgerlichen
409 Denker, ein antientropischer Prozeá, der, von partiellen
410 R�ckf„llen abgesehen, mit Naturnotwendigkeit zu h”heren
411 Ordnungen f�hrte - und zwar deshalb, weil sich hinter dem Wesen
412 'Kapital' noch ein weit umfassenderes Wesen befand: die
413 Menschheit. Was immer die Althusser-Schule an Gegenargumenten
414 gebracht hat: Marx hat, soweit er Revolutionstheoretiker sein
415 wollte, den anthropologischen Diskurs niemals verlassen.
\r
417 \x0f\x03S
\x03Der anthropologische Diskurs aber macht blind. Er zwingt dazu,
418 die Bewegung des Scheins als eine Scheinbewegung anzusehen und
419 die mit ihr verbundenen Zerst”rungen in Fortschritte umzudeuten.
420 Erst wenn Klarheit dar�ber besteht, daá das Kapitalverh„ltnis
421 nicht das Werkzeug oder der Wegbereiter eines sich in der
422 Geschichte entfaltenden Absolutums - der menschlichen Gattung -
423 ist, sondern selbst das Absolute, erst dann werden die Folgen
424 seiner Expansion als das erkennbar, was sie sind: Momente einer
425 beispiellosen Verheerung und Verw�stung, die zeitlich und
426 r„umlich begrenzte Ordnungsgewinne mit einer Steigerung der
427 Unordnung in der Umgebung erkauft. Erst dann kann aber auch
428 deutlich werden, daá dieses Absolute - die von allen
429 Umweltbez�gen abgel”ste 'reine Gesellschaft' - nur auf Zeit
430 existiert, da es im gleichen Maáe, in dem es sich ausdehnt, die
431 Bedingungen seiner Existenz zerst”rt. Wir sind schon zu tief in
432 diesen Prozeá verstrickt, um an seiner Grundrichtung noch etwas
433 „ndern zu k”nnen. Das Bewuátsein dar�ber, daá die Gesellschaft
434 des Erscheinens in Wahrheit eine Gesellschaft des Verschwindens
435 ist, k”nnte aber vielleicht dazu beitragen, das Tempo des
436 Erscheinens (und damit auch: des Verschwindens) zu verlangsamen.
437 Die Transformation der Anthropologie in Entropologie, wie sie
438 Claude L‚vi-Strauss schon vor langer Zeit gefordert hat, w„re
439 dazu ein erster Schritt:
\r
441 \x0f\x03S
\x03\x19\x10"Die Welt hat ohne den Menschen begonnen und wird ohne ihn enden. Die Institutionen, die Sitten und Gebr„uche, die
442 ich mein Leben lang gesammelt und zu verstehen versucht habe, sind die verg„nglichen Bl�ten einer Sch”pfung, im
443 \fVerh„ltnis zu der sie keinen Sinn besitzen; sie erlauben bestenfalls der Menschheit, ihre Rolle im Rahmen dieser
444 Sch”pfung zu spielen. Abgesehen davon, daá diese Rolle dem Menschen keinen unabh„ngigen Platz verschafft und
445 daá sein �berdies zum Scheitern verurteiltes Bem�hen darin besteht, sich vergeblich gegen den universalen Verfall zu
446 wehren, erscheint der Mensch selbst als Maschine - vollkommener vielleicht als die �brigen -, die an der Aufl”sung einer
447 urspr�nglichen Ordnung arbeitet und damit die organisierte Materie in einen Zustand der Tr„gheit versetzt, der eines
448 Tages endg�ltig sein wird. Seitdem der Mensch zu atmen und sich zu erhalten begonnen hat, seit der Entdeckung des
449 Feuers bis zur Erfindung der atomaren Vorrichtungen, hat er - auáer wenn er sich fortgepflanzt hat - nichts anderes getan
450 als Millionen von Strukturen zerst”rt, die niemals mehr integriert werden k”nnen ... Statt Anthropologie sollte es
451 \x18\x03Entropologie
\x18\x03 heiáen, der Name einer Disziplin, die sich damit besch„ftigt, den Prozeá der Desintegration in seinen
452 h”chsten Erscheinungsformen zu untersuchen" (L‚vi-Strauss 1970, 366f.).
\r
454 \x0f\x03S
\x03Die in diesem Band gesammelten Studien suchen die M”glickeit
455 einer solchen dialektischen Entropologie auszuloten. Dies
456 geschieht in einem eher indirekten Verfahren, das den neuerdings
457 so gern erhobenen apokalyptischen Tonfall so weit wie m”glich zu
458 temperieren bem�ht ist - nicht aus einer Skepsis gegen den
459 apokalyptischen Gedanken als solchen (f�r den die Kritiker in
460 diesem Buch gen�gend Belege finden werden), sondern aus
461 Abneigung gegen die wohlfeile Instrumentalisierung, die er in
462 der Regel erf„hrt. Ist von der Apokalypse die Rede, so selten
463 ohne den Verweis auf die Rettung, auf den neuen positiven
464 Zustand, der durch allerlei Patentrezepte herbeigef�hrt werden
465 soll: durch weniger Konsum und mehr Spiritualit„t, weniger
466 Wachstum und mehr Kommunikation mit dem Bruder Regenwurm: vom
467 Erhabenen zum L„cherlichen, man weiá es, ist nur ein Schritt.
468 Die Kritische Theorie hatte gute Gr�nde, als sie sich weigerte,
469 positiv zu werden und statt dessen darauf bestand, das Gemeinte
470 nur indirekt, auf dem Wege der Kritik, zur Sprache zu bringen.
\r
472 \x0f\x03S
\x03Die Kritik ist doppelgleisig angelegt. Auf der einen Seite
473 verteidigt sie die Idee einer Gesellschaft des Verschwindens
474 gegen�ber Konzeptionen, die den Prozeá der Modernisierung
475 einseitig als Zivilisierung (Elias), als Disziplinierung
476 (Foucault) oder als funktionale Differenzierung (Luhmann)
477 darstellen. Auf der anderen Seite greift sie verwandte
478 Intentionen auf und versucht sie weiterzuentwickeln: Adornos
479 Logik des Zerfalls oder Virilios These vom Nihilismus der
480 Geschwindigkeit. Hierzu geh”rt auch die Erinnerung an einen zu
481 Unrecht vergessenen Autor, der als einer der ersten Technik und
482 Entropie in Zusammenhang gebracht hat und deshalb als der
483 'eigentliche Vater der ”kologischen Bewegung' (Mohler)
484 bezeichnet worden ist - Friedrich Georg J�nger. Das Zentrum, um
485 das die verschiedenen Studien kreisen, erschlieát sich am
486 leichtesten �ber den Essay 'Technik und Wissenschaft als
489 \f\x0f\x03S
\x03\x14\x02PA
\r
490 \x0f\x03S
\x03Die Entwicklungskurve der Zivilisation.
\r
491 \x0f\x03S
\x03Eine Auseinandersetzung mit Norbert Elias
\r
498 \x0f\x03S
\x03Daá der historische Prozeá nicht bloá aus isolierten Ereignissen
499 und Bruchst�cken besteht, sondern einen �bergreifenden Sinn zur
500 Erscheinung bringt, geh”rt zu den id‚es directrices des
501 abendl„ndischen Denkens. Wurde dieser Sinn unter der
502 Vorherrschaft christlicher šberzeugungen lange Zeit als
503 Heilsgeschehen bestimmt, so r�ckte mit der Aufkl„rung der
504 Begriff der 'Zivilisation' in den Vordergrund. Mit ihm wurden
505 zwei verschiedene Vorstellungen zusammengebracht: zum einen der
506 Gedanke einer allm„hlichen Sittenverfeinerung - l'adoucissement
507 des moeurs im Sinne Mirabeaus des Žlteren; zum andern der
508 Gedanke eines stufenweise sich vollziehenden geistigen und
509 materiellen Fortschritts, wie er etwa in Frankreich den
510 Entw�rfen Raynals und Condorcets, sp„ter den Theorien Saint-
511 Simons, Comtes oder Guizots zugrundelag (Moras 1930). So sah es
512 auch die englische Sozialphilosophie, die, nachdem sie noch im
513 18. Jh. zwischen dem Fortschritt der H”flichkeit und
514 Zivilisation und demjenigen der kommerziellen K�nste
515 unterschieden hatte (Ferguson 1986, 366), im 19. Jh. beide
516 Linien zusammenzog und den Fortschritt der Zivilisation nunmehr
517 im šbergang von kriegerischen, durch Zwang integrierten
518 Gesellschaften zu industriell-gewerblichen Aggregaten sah, die
519 einem Zustand dauernden Friedens entgegenstrebten (Spencer 1887,
520 II, 124ff., 180). Nichts illustriert die šberzeugungskraft
521 dieser Vorstellung besser als die Tatsache, daá selbst ein Marx,
522 der die "tiefe Heuchelei der b�rgerlichen Zivilisation und die
523 von ihr nicht zu trennende Barbarei" brandmarkte (MEW 9, 225),
524 keine Schwierigkeiten hatte, vom "great civilizing influence of
525 capital" zu sprechen und als dessen Hauptmerkmal die Umwandlung
526 der Produktion in ein "System der allgemeinen N�tzlichkeit"
527 herauszustellen, "als dessen Tr„ger die Wissenschaft selbst so
528 gut erscheint wie alle physischen und geistigen Eigenschaften"
531 \x0f\x03S
\x03Im 20. Jh. ist der Chor der Skeptiker, die diese
532 Selbstbegl�ckw�nschung der Moderne nicht mehr akzeptieren, immer
533 lauter geworden. Die Bedenken richten sich, wie in anderen
534 Texten dieses Bandes deutlich wird, gegen die objektiven Aspekte
535 des sogenannten Zivilisationsprozesses, insbesondere gegen die
536 Vorstellung einer kumulativen Steigerung von Reichtum und
537 Ordnung. Sie richten sich aber auch, worauf im folgenden vor
538 allem der Akzent gelegt wird, auf die subjektiven Aspekte, die
539 Idee des perfectionn‚ment de l'homme (Condorcet). Stand die
540 Kritische Theorie noch weitgehend allein, als sie in den
541 vierziger und f�nfziger Jahren im Verfall der Konventionen, im
542 Absterben des zeremoniellen Moments und im Niedergang von
543 H”flichkeit und Takt Indizien f�r den "Zerfallscharakter der
544 Zivilisation" ausmachte (vgl. Adorno, GS 4, 38ff.; ders. 1956,
545 87), so mehren sich heute die Stimmen, die darin nicht bloá den
546 Ausdruck einer elit„ren Kulturkritik sehen. So konstatiert
547 \fRichard Sennett eine allgemeine Tendenz zur Zunahme von
548 "Unzivilisiertheit", die sich in Distanzverlust,
549 Selbstbezogenheit und einer alle sozialen Beziehungen
550 �berwuchernden "Tyrannei der Intimit„t" manifestiere (Sennett
551 1983, 299). Neil Postman spricht vom "Verfall der civilit‚" und
552 einer "allgemeinen Miáachtung der f�r Zusammenk�nfte im
553 ”ffentlichen Raum geltenden Regeln und Rituale" (Postman 1983,
554 151). In einem anderen vieldiskutierten Buch ist gar von einer
555 "sterbenden Zivilisation" die Rede, in welcher das Leben immer
556 barbarischer und kriegs„hnlicher werde (Lasch 1986, 261, 47).
557 Paul Virilio endlich meint: "Das fortschreitende Verschwinden
558 der H”flichkeit, die selber eine gespielte Aufnahme, einen
559 Ersatz der primitiven Gastfreundschaft darstellte, „uáert sich
560 heute in einer virilen Form von Kontakt, die man 'Offenheit'
561 nennt, und mag letzten Endes zum gewohnheitsm„áigen Austausch
562 schlechter Behandlung f�hren" (Virilio 1978, 37).
\r
564 \x0f\x03S
\x03Ob diese Diagnosen richtig sind, wird sich sicher nur in
565 sorgf„ltigen empirischen Untersuchungen erweisen lassen. Bis
566 dahin aber, und vielleicht als Vorbereitung dazu, mag es
567 n�tzlich sein, sich mit der Exposition zu befassen, die der
568 Zivilisationsbegriff in der bislang gr�ndlichsten Studie zu
569 diesem Thema erfahren hat: Norbert Elias' Buch 'šber den Prozeá
570 der Zivilisation'. Ich will im folgenden zun„chst die
571 wichtigsten Argumente dieses Buches skizzieren und dann einige
572 Einw„nde vorstellen, die sich heute, ein halbes Jahrhundert nach
573 Erscheinen der ersten Auflage, aufdr„ngen. Abschlieáend m”chte
574 ich die Frage er”rtern, ob der Zivilisationsbegriff in der ihm
575 von Elias verliehenen Fassung ein Konzept ist, in dem sich die
576 Problemlage der modernen Gesellschaft reflektieren l„át.
\r
586 \x0f\x03S
\x03Elias' Untersuchung beginnt mit begriffsgeschichtlichen
587 Erw„gungen. Zivilisation, so der erste Befund, bedeutet im
588 deutschen Sprachraum etwas anderes als in Westeuropa, namentlich
589 Frankreich und England. W„hrend der Begriff dort als Bezeichnung
590 f�r den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und
591 geistigen Fortschritt insgesamt dient, hat er im Deutschen nur
592 einen eingeschr„nkten Inhalt. Zivilisation ist hier ein Wert
593 zweiten Ranges, eine Qualit„t, die sich lediglich auf das
594 Žuáere, die Oberfl„che des Daseins bezieht. Die Bildung des
595 Inneren dagegen, der Fortschritt auf geistigem und seelischem
596 Gebiet, wird mit dem Begriff 'Kultur' belegt. Was in anderen
597 L„ndern des Abendlands als einheitliche und kontinuierliche
598 Bewegung erscheint, zerf„llt damit in Deutschland in zwei
599 unterschiedliche Dimensionen, die sich zuweilen zum
600 antithetischen Gegensatz versch„rfen. Der Westen, lautet ein
601 wichtiger Glaubenssatz der deutschen Ideologie bis hin zu den
602 'Ideen von 1914', habe nur Zivilisation, wohingegen es die
603 Deutschen bis zur Kultur gebracht h„tten.
\r
605 \f\x0f\x03S
\x03Daá Elias sich daf�r entscheidet, die deutsche Version als
606 Ausnahme zu behandeln und nicht weiter zu verfolgen, h„ngt mit
607 seinen Vorstellungen �ber die in der gesellschaftlichen
608 Entwicklung zu bew„ltigenden Aufgaben zusammen. Diese
609 Vorstellungen sind deutlich von der Soziologie des 19. Jhs.,
610 insbesondere von Comte und Spencer, beeinfluát. Wie der letztere
611 sieht Elias die gesellschaftliche Entwicklung als Teil einer
612 allgemeinen Evolution, die neben der �berorganischen noch die
613 organische und unorganische Entwicklung umfaát und durch das
614 Wechselspiel von Differenzierung und Integration vorangetrieben
615 wird. Wie der erstere identifiziert er die
616 Funktionsdifferenzierung mit der wirtschaftlichen Berufsteilung,
617 die koordinierenden und integrierenden Institutionen mit dem
618 Staat1. Eine Hierarchie dieser beiden Dimensionen kennt Elias
619 nicht. F�r ihn handelt es sich um prinzipiell gleichrangige
620 Erscheinungen, die jeweils unterschiedliche Aspekte ein und
621 desselben Substrats darstellen - der Gesellschaft. Da er indes
622 den Integrationsinstanzen die F„higkeit zuspricht, die
623 funktionsteiligen Prozesse "bis zu einem gewissen Grade (zu)
624 steuern" (1971, 47)
\x18\a2
\x18\a, verschiebt sich der Fokus seiner Theorie
625 stark auf die Integrationsebene, auf die Entstehung und
626 Entwicklung jener Institutionen, die �ber ein besonders hohes
627 Steuerungspotential verf�gen - die politischen Zentralorgane
628 bzw., wie Elias mit Weber formuliert: die Monopolorganisationen
629 physischer Gewaltsamkeit.
\r
631 \x0f\x03S
\x03In dieser Vorentscheidung auf analytischer Ebene liegt die
632 Wurzel der regulativen Idee von Elias' Zivilisationstheorie, der
633 "Vermutung..., daá der Aufbau des 'zivilisierten' Verhaltens
634 aufs engste mit der Organisierung der abendl„ndischen
635 Gesellschaften in der Form von 'Staaten' zusammenh„ngt (I,
636 LXXVI). Je fortgeschrittener in einem bestimmten Gebiet die
637 Staatsbildung, desto fortgeschrittener auch der Prozeá der
638 Zivilisation; je unentwickelter andererseits die
639 Zentralisierung, desto unentwickelter die Sitten, desto
640 unvollendeter "jene Nivellierung und Angleichung der
641 gesellschaftlichen Standarde (...), die f�r diesen ganzen
642 Zivilisationsprozeá charakteristisch ist" (II, 433).
643 Deutschland, das seit dem sp„ten Mittelalter keinen Fortschritt
644 im Ausbau seiner zentralstaatlichen Institutionen mehr erlebte,
645 ist aus diesem Grund f�r die Untersuchung des
646 Zivilisationsprozesses weniger geeignet als etwa Frankreich, in
647 dem diese Institutionen eine kontinuierliche Verst„rkung
648 erfuhren
\x18\a3
\x18\a.
\r
650 \x0f\x03S
\x03Den Ausbau des Zentralstaates in Frankreich unterteilt Elias in
651 drei Etappen. Die erste Etappe f„llt zusammen mit der Bildung
652 ritterlicher H”fe zu Beginn des Hochmittelalters, welche die bis
653 dahin in der weltlichen Herrenschicht dominierende Integration
654 qua Kampf durch eine friedlichere und best„ndigere Integration
655 ersetzen. Auf diese 'ritterlich-h”fische' Ordnung folgt im 16.
656 Jh. die zweite Etappe, die 'h”fisch-absolutistische
657 Gesellschaft', die wohl im sozialen Aufbau noch an die
658 st„ndische Gliederung des Mittelalters ankn�pft, auf politischer
659 Ebene aber insofern eine Žnderung herbeif�hrt, als sie die
660 physische Gewalt in einer Monopolinstanz konzentriert. Die alte
661 Kriegerelite wird nunmehr entmilitarisiert und in einen Hofadel
662 verwandelt, was wiederum auf sozialer und wirtschaftlicher Ebene
663 \fdie Bildung l„ngerer und komplexerer Interdependenzketten
664 erm”glicht. Die funktionale Differenzierung beschleunigt sich
665 und l„át neue, auf Beruf und produktiver Leistung beruhende
666 Eliten entstehen, die ihrerseits nach Partizipation an den
667 Entscheidungen des obersten Koordinations- und
668 Regulierungsorgans streben.
\r
670 \x0f\x03S
\x03Aus dieser Entwicklung geht - nach der Zwischenstufe einer
671 'erweiterten h”fischen Gesellschaft', in der h”fisch-
672 aristokratische und h”fisch-b�rgerliche Kreise miteinander
673 verkehren - das dritte und bisher letzte Stadium hervor: der
674 b�rgerliche Nationalstaat. In ihm erreichen die Funktionsteilung
675 und die allgemeine Interdependenz eine bis dahin unvorstellbare
676 Dichte. Zugleich ist die Vernetzung soweit vorangeschritten, daá
677 die private Monopolisierung der mit der Zentralposition
678 verbundenen Chancen nicht l„nger perpetuierbar ist. Das
679 Privatmonopol einzelner, schreibt Elias, vergesellschaftet sich
680 und wird "zu einer Funktion des interdependenten
681 Menschengeflechts als eines Ganzen", zu einem "”ffentlichen"
682 Monopol (II, 157). Dar�ber hinaus zeichnen sich bereits Ans„tze
683 zu einer vierten, endg�ltig letzten Phase der Gesamtentwicklung
686 \x0f\x03S
\x03\x19\x14"Man sieht die ersten Umrisse eines erdumfassenden Spannungssystems von
687 Staatenb�nden, von �berstaatlichen Einheiten verschiedener Art, Vorspiele von
688 Ausscheidungs- und Vormachtk„mpfen �ber die ganze Erde hin, Voraussetzung f�r
689 die Bildung eines irdischen Gewaltmonopols, eines politischen
690 Zentralinstituts der Erde und damit auch f�r deren Pazifizierung" (II, 452).
\x19\x18\r
692 \x0f\x03S
\x03Den hier nur knapp skizzierten Stadien der Zentralisierung
693 ordnet Elias nun verschiedene Verhaltensmodelle oder -schemata
694 zu, die gleichsam den subjektiven Niederschlag dieses Prozesses
695 verk”rpern. Der polyzentrischen Struktur des Mittelalters
696 entspricht das Schema der courtoisie, das sich an den groáen
697 ritterlichen Feudalh”fen bildet (I, 79, 136; II, 96ff., 109ff.,
698 354ff.). Seine Merkmale sind: eine gewisse M„áigung der Affekte,
699 eine, freilich noch sehr begrenzte, Aufwertung derjenigen, die
700 nicht �ber Gewaltmittel verf�gen (vor allem der Frauen), die
701 Ausbildung h”fischer Manieren, die das gesellige Verhalten bei
702 Tisch, beim Spiel oder im Turnier regeln, die Orientierung an
703 ritterlichen Tugenden, wie sie vor allem von der Kirche (miles
704 christianus-Ideal), aber auch von der weltlichen Dichtung
705 propagiert werden (Artusepik)
\x18\a4
\x18\a.
\r
707 \x0f\x03S
\x03W„hrend dieses Schema den Individuen jedoch noch „uáerlich
708 bleibt und auáerhalb des Interaktionszentrums 'Hof' rasch seine
709 Wirkung verliert, verdichtet sich die soziale Kontrolle mit dem
710 šbergang zu einer monozentrischen, auf dem Gewaltmonopol
711 beruhenden Konfiguration. Anstelle der bloá intermittierenden,
712 nur einen kleinen Teil der ritterlichen Existenz erfassenden
713 courtoisie tritt jetzt ein neues Schema der Affektregulierung,
714 das Elias im Anschluá an die Manierenschriften von Erasmus,
715 della Casa, La Salle u.a. als civilit‚ bezeichnet (I, 65ff.,
716 89f., 136f.). Der durch die politische, soziale und
717 wirtschaftliche Entwicklung in seiner Herrschaftsposition
718 ersch�tterte Adel versucht in dieser Phase, seinen Platz an der
719 Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie durch einen verst„rkten
720 Einsatz von Distinktionsstrategien zu behaupten. Ein strenger
721 \fVerhaltenscode entsteht, der mehr und mehr den gesamten Habitus
722 umfaát. Die h”fische Interaktion, vor allem das Essen und die
723 Konversation, wird stark ritualisiert, wie Elias anschaulich an
724 der Geschichte des Messer- und Gabelrituals demonstriert. Die
725 Kleidung wird bewuát als Unterscheidungs- und Prestigemittel
726 eingesetzt, ebenso die Gestik und der sprachliche Ausdruck.
727 Fragen des guten Benehmens und des richtigen Geschmacks werden
728 zu Fragen, die �ber den Platz in der Rangordnung entscheiden
729 k”nnen; Takt, Delikatesse und Stil zu Formen, von denen das
730 soziale šberleben abh„ngen kann. Selbst- und Fremdbeobachtung
731 erreichen eine bis dahin unbekannte Intensit„t, die
732 psychologische Kriegf�hrung wird zur unentbehrlichen Waffe in
733 der Prestigekonkurrenz.
\r
735 \x0f\x03S
\x03\x19\x10Auch dieses neue, im Vergleich zur
\x18\x03courtoisie
\x18\x03 ungleich strengere Schema der Affektmodellierung ist jedoch nach Elias in
736 der Psychostruktur noch nicht sehr fest verankert. Die Tabus und Rituale des h”fischen Lebens treten dem einzelnen wohl
737 als klar umrissene Imperative entgegen, die ihn zu einer permanenten šberwachung seiner Affekte und Triebregungen
738 veranlassen. Diese aber erfolgt haupts„chlich �ber eine bewuáte Selbststeuerung, psychoanalytisch gesprochen �ber
739 Ich-Leistungen (Vowinckel 1983, 196). Der Hofmann muá, wie bei Castiglione nachzulesen, seine unterschiedlichen
740 F„higkeiten so ausbalancieren, daá er zu einer Art vollkommenen Gesamtkunstwerks wird; er muá, wie bei Gracian,
741 seine Leidenschaften bewuát domestizieren, jedoch nicht, um sie abzut”ten, sondern um sie im geeignetsten Moment
742 zu befriedigen (ebd. 95). Die soziale Kontrolle vollzieht sich deshalb noch prim„r �ber die Vermittlung des Ichs, das sich
743 den Zw„ngen der sozialen Umwelt anpaát, aber keineswegs v”llig ausliefert. Sie bleibt dem einzelnen „uáerlich, wirkt
744 "noch nicht als automatisch funktionierender Selbstzwang, als Gewohnheit, die bis zu gewissen Grenzen auch
745 funktioniert, wenn der Mensch allein ist; sondern man legt sich hier zun„chst immer jemandem andern gegen�ber, also
746 bewuáter aus gesellschaftlichen Gr�nden, Triebverzicht und Zur�ckhaltung auf. Und die Art der Zur�ckhaltung, wie ihr
747 Maá entsprechen hier der sozialen Stellung dessen oder derer, denen gegen�ber er sie sich auferlegt" (I, 186). Im
748 Stadium der
\x18\x03civilit‚
\x18\x03 ist die gesellschaftliche Verflechtung schon so stark, um die einzelnen zur Anpassung zu zwingen,
749 aber noch nicht stark genug, um die Einzelheit als solche zu negieren und in einen 'Verkehrsknotenpunkt des
750 Allgemeinen' (Horkheimer/Adorno) zu verwandeln.
\r
752 \x0f\x03S
\x03Wesentlich weiter in dieser Richtung geht das Schema der
753 civilisation, das in der zweiten H„lfte des 18. Jhs. die
754 civilit‚ abl”st (I, 47ff.). Getragen von den Reformgruppen des
755 Ancien R‚gime - dem Beamtentum und den Spitzen des B�rgertums -
756 zielt dieses Schema auf eine Universalisierung und
757 Stabilisierung der mit der civilit‚ bereits erreichten
758 Sittenverfeinerung und Rationalit„t. Die Universalisierung
759 impliziert die Ausdehnung der Vernunft auf die Gesetze und
760 Institutionen des Landes sowie auf die Sitten der gesamten
761 Nation. Elias spricht von einer Einschmelzung von
762 Verhaltensweisen der funktional oberen Schichten in das der
763 aufsteigenden unteren und r�ckt diesen Vorgang in die N„he von
764 Kolonisationsprozessen. So wie im 19. Jh. die abendl„ndischen
765 Nationen die auáereurop„ische Welt unterworfen und okzidentalen
766 Denk- und Verhaltensmustern assimiliert h„tten, seien zuvor im
767 Abendland selbst die Unter- und Mittelschichten den Standards
768 der Oberschichten unterworfen und assimiliert worden (II, 341,
771 \x0f\x03S
\x03Die Stabilisierung impliziert die Verfestigung der zivilisierten
772 Verhaltensformen zu einem 'Panzer', der die ganze Pers”nlichkeit
773 und jede ihrer Žuáerungen umschlieát (I, 332). Dies wird durch
774 eine bereits in der fr�hesten Kindheit einsetzende
775 Konditionierung erreicht, die darauf hinarbeitet, daá sich im
776 einzelnen "gleichsam als eine Relaisstation der
777 gesellschaftlichen Standarde, eine automatische
778 Selbst�berwachung der Triebe im Sinne der jeweiligen
779 \fgesellschafts�blichen Schemata und Modelle, eine 'Vernunft', ein
780 differenziertes und stabileres 'šber-Ich' herausbildet, und daá
781 ein Teil der zur�ckgehaltenen Triebregungen und Neigungen ihm
782 �berhaupt nicht mehr unmittelbar zum Bewuátsein kommt" (II,
783 329). In diesem Sinne erf�llt das šber-Ich in der b�rgerlichen
784 Gesellschaft die Steuerungsfunktionen, die in der h”fischen
785 Gesellschaft noch dem Ich vorbehalten waren.
\r
787 \x0f\x03S
\x03Elias �bersieht nicht die Unterschiede zwischen diesen beiden
788 Formen der Steuerung. Im Rahmen seiner Konstruktion eines
789 kontinuierlich verlaufenden Zivilisationsprozesses interpretiert
790 er ihre Abfolge jedoch prim„r als eine Steigerung der sozialen
791 und psychischen Integration durch Tieferlegung der
792 Kontrollmechanismen. Jene Zw„nge, die im Schema der courtoisie
793 und der civilit‚ vielfach nur als „uáere Schranke, als
794 Fremdzwang wirkten, werden jetzt verinnerlicht, mit der
795 Perspektive, daá dadurch der Fremdzwang zunehmend entbehrlich
796 wird und irgendwann einmal ganz verschwinden kann (1983, 123f.).
797 Wie diese, freilich erst nach Vollendung der Pazifizierung auf
798 Weltebene denkbare, neue Form der Selbststeuerung beschaffen
799 sein k”nnte, verr„t Elias nicht. Daá die Entwicklung in diese
800 Richtung geht, erscheint ihm aber als ebenso ausgemacht wie die
801 Tendenz zur šberwindung des b�rgerlichen Nationalstaates (1987,
802 224f.). Sind einmal die zwischenstaatlichen Spannungen
803 beseitigt, so die an Kants Vision vom 'Ewigen Frieden'
804 erinnernde Schluápassage des Zivilisationsbuches, kann sich die
805 Regelung der sozialen Beziehungen auf das rein sachlich
806 Notwendige beschr„nken, und k”nnen sich die Spannungen und
807 Widerspr�che auch in den Menschen selbst mildern. Dann erst
808 braucht es nicht mehr die Ausnahme, sondern
\r
810 \x0f\x03S
\x03\x19\x10"kann es die Regel sein, daá der einzelne Mensch jenes optimale Gleichgewicht seiner Seele findet, das wir so oft mit
811 groáen Worten, wie 'Gl�ck' und 'Freiheit' beschw”ren: ein dauerhaftes Gleichgewicht oder gar den Einklang zwischen
812 seinen gesellschaftlichen Aufgaben, zwischen den gesamten Anforderungen seiner sozialen Existenz auf der einen Seite
813 und seinen pers”nlichen Neigungen und Bed�rfnissen auf der anderen" (II, 454. Hervorh. i.O. gestr.).
\r
815 \x0f\x03S
\x03Die groáe Linie ist damit klar. Zivilisation ist f�r Elias ein
816 Prozeá, in dessen Verlauf sich immer strengere Schemata der
817 Selbstkontrolle herausbilden und sowohl immer weitere
818 Bev”lkerungskreise ergreifen als auch psychostrukturell immer
819 tiefer gelagert werden. Dieser Prozeá ist die subjektive Seite
820 eines gesamtgesellschaftlichen Differenzierungs- und
821 Integrationsvorgangs, der zu einer immer perfekteren Kontrolle
822 der Gesellschaft �ber die Naturbedingungen ihres šberlebens wie
823 �ber die Bedingungen des sozialen Zusammenlebens f�hrt5. Elias
824 verschweigt nicht den Preis, den die Individuen daf�r zahlen
825 m�ssen: die permanente Konditionierung, die Verdr„ngung und
826 An„sthesierung von Triebregungen, den Aufbau von inneren
827 Žngsten, die Wahrscheinlichkeit der neurotischen Erkrankung.
828 Insgesamt sieht er aber diese Kosten mehr als aufgewogen durch
829 die Distanzierungs- und Steuerungsgewinne, die dem einzelnen
830 sowohl als der Gesellschaft in diesem Prozeá zuwachsen. Etwas
831 vereinfacht l„át sich dieser Prozeá in dem folgenden Schema
835 \x0f\x03S
\x03ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ
\r
837 \f\x14\x03AABSoziogenese Ritterlich H”fisch- B�rgerlich ' Welt'-
\r
838 h”fische absolu- indu- gesell-
\r
839 Gesell- tistische strielle schaft
\r
840 schaft Gesell- Gesell-
\r
843 ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ
\r
845 Steuerungs- Feudalhof Absoluti- National- Weltstaat
\r
846 Zentrum stischer Staat
\r
848 ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ
\r
850 Verhaltens- courtoisie civilit‚ civilisa- Weltzivi-
\r
852 ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ
\r
854 Psychogenese Es/Ich Ich-Domi- šber-Ich- Gleichge-
\r
855 (undiffe- nanz Dominanz wicht von
\r
858 ÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ
\r
864 \x14\x03AAF
\x04\x021. Auch der voreingenommene Betrachter wird zugestehen, daá Elias'
865 Rekonstruktion des Zivilisationsprozesses groáe St„rken hat. Der
866 figurationssoziologische Ansatz tr„gt politischen, ”konomischen und
867 psychologischen Faktoren gleichermaáen Rechnung und gelangt damit zu
868 einem breit angelegten Panorama der zivilisatorischen Entwicklung. Die
869 konstitutive Rolle der H”fe in der ritterlich-feudalen und
870 absolutistischen Gesellschaft wird einleuchtend begr�ndet, die Bildung
871 von Gewalt- und Abgabenmonopolen schl�ssig nachgezeichnet; lediglich
872 die Rolle der Religion wird zu wenig beachtet, was m”glicherweise bei
873 vergleichenden Untersuchungen ein Nachteil sein k”nnte. Zu den
874 Glanzst�cken des Buches geh”rt die Herausarbeitung des Parallelismus
875 von Soziogenese und Psychogenese, mit der gleichsam eine Br�cke
876 zwischen der Herrschaftssoziologie Webers, der Differenzierungstheorie
877 in der Tradition Durkheims und Spencers und der Freudschen
878 Psychoanalyse geschlagen wird.
\r
880 \x04\x02Dennoch dr„ngen sich bei einer genaueren Betrachtung drei Einw„nde
881 auf, die zwar aus unterschiedlichen theoretischen Zusammenh„ngen
882 stammen, gleichwohl miteinander kompatibel sind6.
\r
884 \x04\x02Der erste Einwand ergibt sich aus der dialektischen Theorie und
885 richtet sich gegen den soziogenetischen Strang der
886 Zivilisationstheorie. Elias, so erscheint es aus dieser Sicht, hat nur
887 eine unzureichende Vorstellung von den Integrationsproblemen, die mit
888 einem bestimmten Grad der Funktionsdifferenzierung auftreten. Seine
889 These, daá die Entwicklung zur modernen Gesellschaft von einer immer
890 "strafferen Regulierung und šberwachung des gesamten
891 gesellschaftlichen Verkehrs von stabilen Zentralen" aus begleitet sei
892 (II, 227), �bersieht, daá ein durch kapitalistische Warenproduktion
893 bestimmtes System nicht direkt durch die Vorgaben eines planenden
894 Zentrums, sondern nur indirekt durch die Vermittlung des Marktes
895 gesteuert wird. Das, was ihre Arbeiten gesellschaftlich gelten,
896 erfahren die - individuellen oder korporativen - Produzenten immer nur
897 post festum, in der Best„tigung ihrer Produkte als Wertgr”áen, die
898 erst nach Abschluá der Produktion, im Austausch, m”glich ist. Hier
901 \x04\x06\x19\x10"daá die unabh„ngig voneinander betriebenen, aber als naturw�chsige Glieder der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit
902 allseitig voneinander abh„ngigen Privatarbeiten fortw„hrend auf ihr gesellschaftlich proportionelles Maá reduziert werden, weil
903 sich in den zuf„lligen und stets schwankenden Austauschverh„ltnissen ihrer Produkte die zu deren Produktion gesellschaftlich
904 notwendige Arbeitszeit als regelndes Naturgesetz gewaltsam durchsetzt, wie etwa das Gesetz der Schwere, wenn einem das Haus
905 �ber dem Kopf zusammenpurzelt" (Marx, MEW 23, 89).
\r
907 \x04\x02Unter diesen Umst„nden ist es eine sehr verk�rzte
908 Betrachtungsweise, wenn man, wie Elias, Unberechenbarkeit und Willk�r
909 prim„r in der physischen Gewaltsamkeit lokalisiert und aus der
910 unbestreitbaren Tatsache ihrer Kasernierung im modernen Staat auf eine
911 Zunahme der gesamtgesellschaftlichen Stabilit„t und Kalkulierbarkeit
912 schlieát. Auch und gerade nach der Bildung von Gewaltmonopolen auf dem
913 Territorium einzelner 'Staatsgesellschaften' bleibt mit dem nationalen
914 Binnenmarkt und dem Weltmarkt eine Dimension des Zufalls und der
915 Anarchie, die sich individuellen Handlungskalk�len grunds„tzlich
916 entzieht. Und obschon dies keineswegs bedeutet, daá es die b�rgerlich-
917 industrielle Gesellschaft nicht zu Einheit und Integration zu bringen
918 \fvermag, heiát es doch immerhin, daá sich diese Einheit und Integration
919 "nur a posteriori als innre, stumme, im Barometerwechsel der
920 Marktpreise wahrnehmbare, die regellose Willk�r der Warenproduzenten
921 �berw„ltigende Naturnotwendigkeit" durchsetzt. Elias hat recht, wenn
922 er darauf hinweist, daá die Kasernierung der politischen Gewalt einen
923 wichtigen Schritt zur šberwindung des Naturzustands darstellt. Er
924 vergiát jedoch hinzuzuf�gen, daá sich dieser Naturzustand unter
925 b�rgerlichen Produktionsbedingungen in anderer Form wiederherstellt:
926 gew„hrleistet doch die Konkurrenz die Existenz der Individuen nur auf
927 die Weise, "wie auch im Tierreich das bellum omnium contra omnes die
928 Existenzbedingungen aller Arten mehr oder minder erh„lt" (ebd. 377).
\r
930 \x04\x02Diese šberlegung zwingt dazu, einen der Eckpfeiler von Elias'
931 Konstruktion zu problematisieren: die Idee eines Kontinuums der
932 Vergesellschaftung, das sich von der ritterlich-h”fischen �ber die
933 h”fisch-absolutistische bis hin zur b�rgerlich-industriellen
934 Gesellschaft erstreckt. Wohl l„át sich die Entwicklung von den
935 feudalen Minneh”fen zu den Residenzen des Barockzeitalters unter dem
936 Blickwinkel einer Verdichtung und Intensivierung h”fischen Lebens
937 begreifen, und kann die Ausbildung einer 'guten Gesellschaft' verfolgt
938 werden, deren Ausl„ufer bis in die b�rgerlichen Salons des 19. Jhs.
939 reichen. Diese Art der sozialen Verkn�pfung, die im wesentlichen auf
940 Interaktion, d.h. auf Kommunikation unter Anwesenden beruht, muá indes
941 strikt von dem Vergesellschaftungsmodus getrennt werden, der f�r eine
942 entfaltete Marktgesellschaft typisch ist. Vergesellschaftung �ber den
943 Markt ist eine paradoxe Form von Vergesellschaftung. Sie erzeugt auf
944 der einen Seite, wie Elias richtig gesehen hat, ein hochkomplexes
945 System von Interdependenzen, in dem die Individuen so stark vernetzt
946 sind wie niemals zuvor in der Geschichte. Auf der anderen Seite aber
947 treibt sie durch die Forcierung der Konkurrenz und durch die
948 Universalisierung der b�rgerlichen Rechtsprinzipien den
949 Vereinzelungsprozeá in einer historisch ebenfalls beispiellosen Weise
950 voran. Markt, das kann man nicht nachdr�cklich genug hervorheben,
951 aggregiert nicht nur, er disaggregiert auch; schafft nicht nur neue
952 Verflechtungen, sondern negiert immer auch die Verflechtungen, die er
953 selbst erzeugt hat.
\r
955 \x04\x02Das l„át sich bereits am Schicksal der kleinsten sozialen Einheit
956 zeigen, in der Elias mit Recht das Konditionierungsinstrument der
957 b�rgerlichen Gesellschaft par excellence sieht: der Kleinfamilie.
958 Selbst ein Produkt des modernen Differenzierungsprozesses, in dessen
959 Verlauf die produktive Lohnarbeit vorrangig den m„nnlichen
960 Erwachsenen, die nichtproduktive Subsistenzarbeit einschlieálich der
961 Kindererziehung dagegen den Frauen zugewiesen wurde, befindet sich
962 dieser Familientypus heute durch die rechtliche und zunehmend auch
963 faktische Gleichstellung der Frauen in einer fortschreitenden Erosion.
964 Die Individuen werden aus den bis dahin g�ltigen, quasist„ndischen
965 Vorgaben des Geschlechts herausgel”st und gezwungen, sich selbst zum
966 Zentrum ihres eigenen Lebens zu machen. Die f�r die Moderne typische
967 Temporalisierung erfaát auch die Ehe und unterwirft sie den Rhythmen
968 der 'seriellen Monogamie' (Shorter). Die Familie wird zur
969 'Verhandlungsfamilie auf Zeit' (Beck), deren Mitglieder einen
970 st„ndigen Kampf um den Ausgleich zwischen beruflichen und emotionalen
971 Interessen ausfechten m�ssen. Die Fragmentierung und Atomisierung
972 ergreift damit unwiderruflich auch jenen Bereich, der noch dem fr�hen,
973 puritanischen B�rgertum als ein so sicheres Fundament gegolten hatte,
974 daá es von ihm her die gesamte Gesellschaft erneuern zu k”nnen
977 \x04\x06\x19\x10"In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird die familien- und ehe
\x18\x03lose
\x18\x03 Gesellschaft unterstellt. Jeder muá
978 selbst„ndig, frei f�r die Erfordernisse des Marktes sein, um seine ”konomische Existenz zu sichern. Das Marktsubjekt ist in letzter
979 Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien'behinderte' Individuum. Entsprechend ist die
980 durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine
\x18\x03kinderlose
\x18\x03 Gesellschaft - es sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen,
981 alleinerziehenden V„tern und M�ttern auf" (Beck 1986, 191).
\r
983 \x04\x02Man muá nur einen Blick auf die Geburtenrate in der Bundesrepublik
984 werfen, um sich vom Realit„tsgehalt dieser šberlegungen zu �berzeugen.
\r
986 \x04\x02Žhnliche Dekompositionserscheinungen zeigen sich auch an
987 komplexeren sozialen Aggregaten, die einmal die Struktur der
988 b�rgerlichen Industriegesellschaft pr„gten. Insbesondere der
989 Klassenbegriff, der sich noch im 19. Jh. b�rgerlichen und
990 sozialistischen Theoretikern gleichermaáen aufdr„ngte, hat in den
991 fortgeschrittenen kapitalistischen L„ndern seine Bedeutung f�r die
992 Bildung kollektiver Identit„ten fast v”llig verloren. "Der
993 unermeáliche Druck der Herrschaft", so hat Adorno dies bereits vor
994 mehr als vierzig Jahren formuliert, "hat die Massen so dissoziiert,
995 daá noch die negative Einheit des Unterdr�cktseins zerrissen wird, die
996 im neunzehnten Jahrhundert sie zur Klasse macht" (Adorno, GS 8,377).
997 Nicht daá der Gegenstand des Begriffs - die objektive B�ndelung von
998 Ungleichverteilungen - damit verschwunden w„re: soziale Ungleichheiten
999 haben nicht ab-, sondern zugenommen. Aber die Aufl”sung
1000 klassenspezifischer Lebensformen durch die Erh”hung des
1001 gesamtgesellschaftlichen Konsumniveaus, der R�ckgang des
1002 Besch„ftigtenanteils im industriellen Sektor, der - in den USA
1003 besonders drastische - Bedeutungsverlust der Gewerkschaften, die
1004 allgemeine Schrumpfung der 'Erwerbsarbeitsgesellschaft' (Beck) in den
1005 hochindustrialisierten L„ndern, die Bew„ltigung der
1006 Massenarbeitslosigkeit in Form von Unterbesch„ftigung und
1007 lebensphasenspezifischer Verteilung der knapper gewordenen Lohnarbeit
1008 - dies alles hat zu einer Erosion der im Klassenbegriff immer
1009 mitgedachten kollektiven Identit„t gef�hrt, durch welche die
1010 Individuen in zunehmendem Maáe auf sich selbst zur�ckgeworfen werden.
1011 Soziale Klassen, urteilt Luhmann zutreffend, sind heute Schichten,
1012 "die darauf verzichten m�ssen, Interaktion zu regulieren" (Luhmann
1013 1985c, 131; zur Diskussion �ber den Klassenbegriff vgl. auch Ritsert
1016 \x04\x02Vielleicht muá man noch einen Schritt weitergehen und von einer
1017 Erosion der f�r die soziale Identit„tsbildung konstitutiven Sph„re der
1018 ™ffentlichkeit schlechthin sprechen. F�r Elias steht eine derartige
1019 M”glichkeit ganz auáer Betracht, obwohl der Verfall der aus dem 19.
1020 Jh. �berkommenen Formen von ™ffentlichkeit zu den Kardinalthemen der
1021 Weimarer Republik geh”rte (Schmitt 1979a): der die Bildung von
1022 Gewaltmonopolen begleitende Prozeá der sozialen Verflechtung macht es
1023 der Zivilisationstheorie zufolge an einem bestimmten Punkt der
1024 Entwicklung unausweichlich, die privaten Verf�gungschancen �ber die
1025 politischen und wirtschaftlichen Apparate aufzuheben und die
1026 Privatmononopole in ”ffentliche Monopole umzuwandeln (II, 148ff.,
1027 438ff.). Aus heutiger Sicht ist die Moderne jedoch nicht nur durch
1028 eine Erweiterung des ™ffentlichen auf Kosten des Privaten
1029 gekennzeichnet, sondern ebenso durch eine Privatisierung des
1030 ™ffentlichen, durch die wesentliche Merkmale von ™ffentlichkeit
1031 zerst”rt werden. Dies gilt, worauf schon Habermas hingewiesen hat, f�r
1032 den Aufstieg der Verb„nde und der Massenmedien, die die kritische
1033 Publizit„t durch eine manipulativ erzeugte verdr„ngen (Habermas 1968).
1034 \fEs gilt aber auch in dem umfassenderen Sinne einer šberlagerung und
1035 Modifizierung spezifisch ”ffentlicher Denk- und Verhaltensmodelle
1036 durch die private Vorstellungswelt, wie sie Richard Sennett in seinem
1037 Buch �ber das Verschwinden des Public Man darstellt. Die moderne
1038 Gesellschaft erscheint danach nicht als eine zivilisierte, durch
1039 Selbstdistanz und rationale Interessenverfolgung bestimmte Vereinigung
1040 von Menschen, sondern im Gegenteil als ein Ensemble 'destruktiver
1041 Gemeinschaften', in denen manche sogar eine Wiederkehr der
1042 Stammesverb„nde zu entdecken glauben
\x18\a7
\x18\a.In der 'intimen Gesellschaft'
1043 der Gegenwart, so Sennett, haben die Menschen die F„higkeit verloren,
1044 ”ffentlich, d.h. unter Absehung von ihrer je besonderen Person, zu
1045 handeln. Die soziale Interaktion schrumpft zu einem bloáen Medium des
1046 Selbstausdrucks und der Selbstvergewisserung, die Aktivit„t zu einer
1047 nicht endenden Suche nach narziátischen Gratifikationen, die sich
1048 nicht zuletzt im Streben nach Identifikation mit grandiosen
1049 'Kollektivpers”nlichkeiten' realisiert (Sennett 1983, 251ff.). Auch
1050 wenn Sennetts Ursachenerforschung mit dem Hinweis auf Erscheinungen
1051 wie S„kularismus und Symbolismus etwas blaá ausf„llt und in ihren
1052 historischen Partien nicht durchweg zu �berzeugen vermag, sollte die
1053 Erfahrung mit den Massenbewegungen dieses Jahrhunderts Anlaá genug
1054 sein, seine Hypothesen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen
\x18\a8
\x18\a.
\r
1056 \x04\x02Die Entwicklung der modernen Gesellschaft, dies kann als Res�mee
1057 des 'dialektischen' Einwands gegen die Zivilisationstheorie
1058 festgehalten werden, l„át sich nicht einfach unter dem Gesichtspunkt
1059 einer st„ndigen Ausdehnung der sozialen Verflechtung begreifen, die
1060 Konkurrenz nicht bloá als Medium, das die Bildung immer umfassenderer
1061 und h”herstufiger Aggregate vorantreibt. Vielmehr ist auch das
1062 Gegenteil zu beobachten. Soziale Verkn�pfungen, die mit der
1063 b�rgerlichen Gesellschaft entstanden sind, werden dekomponiert,
1064 Solidarit„tsbeziehungen ausged�nnt oder ganz gesprengt.
1065 Marktvergesellschaftung bedeutet Steigerung der Interdependenz und
1066 Atomisierung des Sozialen, Vernetzung und Negation aller Bindungen -
1067 asoziale Sozialit„t. Sie forciert die Differenzierung und zerst”rt
1068 doch zugleich durch die universale Vergleichbarkeit aller Arbeiten im
1069 Tauschwert die Bedingungen der M”glichkeit von Differenz. Sie erzwingt
1070 eine immer dichter werdende Integration der Gesellschaft und
1071 verhindert doch, daá daraus ein gesellschaftliches Subjekt entsteht.
1072 Die Integration vollzieht sich hinter dem R�cken der handelnden
1073 Individuen und macht sich in einer Form geltend, die unmittelbar
1074 betrachtet als das Gegenteil aller Integration erscheint. Durch ihre
1075 einseitige Fixierung auf Synthese, die Regressionen zwar nicht
1076 ausschlieát, aber eher als zufalls- denn als systemgeneriert versteht
1077 (1987, 184), verstellt sich die Zivilisationstheorie die Einsicht in
1078 den Umstand, daá die Logik der Vergesellschaftung auch eine 'Logik des
1079 Zerfalls' (Adorno) ist. Sie f„llt damit noch hinter den
1080 Reflexionsstand der „lteren Soziologie von Comte bis Durkheim zur�ck,
1081 der bei allem Vertrauen in die Integrationskraft des Staates oder die
1082 solidarit„tsstiftenden Wirkungen der Arbeitsteilung die negative Seite
1083 der funktionalen Differenzierung nie ganz aus dem Blickfeld geriet.
1084 Bedenkt man, daá 'šber den Prozeá der Zivilisation' in unmittelbarer
1085 Zeitgenossenschaft mit der grӇten Krise der modernen
1086 Weltwirtschaftsordnung entstand, kann man sich �ber diesen
1087 Reflexionsverlust nicht genug wundern.
\r
1091 \x04\x022. Diese Kritik wird durch den zweiten Einwand erh„rtet, der sich
1092 \faus dem Gang der psychoanalytischen Theoriebildung ableiten l„át. Die
1093 Integration Freudscher Begriffe, insbesondere des Strukturmodells des
1094 psychischen Apparats, geh”rt zweifellos zu den starken Seiten der
1095 Zivilisationstheorie, erm”glicht sie es doch Elias, auf
1096 psychogenetischer Ebene die Unterschiede zwischen b�rgerlichen und
1097 vorb�rgerlichen Formen weitaus genauer zu erfassen, als es ihm auf
1098 soziogenetischer Ebene gelingt. So arbeitet Elias pr„zise den Wechsel
1099 in der Konditionierungsinstanz heraus - den šbergang von der
1100 ”ffentlich-h”fischen zur privat-familialen Form der
1101 Affektmodellierung. So erkennt er richtig den Wechsel in der
1102 Konditionierungsmethode - die Umwandlung von Fremdzwang in Selbstzwang
1103 via Verinnerlichung und Identifikation. Und so vermag er schlieálich
1104 auch deutlich zu machen, zu welch neuartigem Ergebnis diese
1105 Ver„nderungen f�hren: einem Sozialcharakter, der durch eine bisher
1106 nicht dagewesene Differenzierung zwischen Ich- und šber-Ich-Funktionen
1107 auf der einen und Triebfunktionen auf der anderen Seite gekennzeichnet
1108 ist (vgl. II, 390f.; 1987, 85).
\r
1110 \x04\x02Diese Einsichten f�hren Elias jedoch nicht zu einer Revision
1111 seiner These vom zivilisatorischen Kontinuum. Im Gegenteil. Wie der
1112 b�rgerliche Nationalstaat ihm nur als Steigerungsform der mit dem
1113 Absolutismus bereits erreichten Zentralisierung gilt, so erscheint ihm
1114 auch das b�rgerliche Schema der Affektregulierung letztlich nur als
1115 Fortf�hrung und Verdichtung des h”fischen Schemas, was nicht nur in
1116 expliziten Formulierungen, sondern weit mehr noch stilistisch in der
1117 h„ufigen Verwendung des Komparativs seinen Ausdruck findet: so etwa,
1118 wenn Elias vom "šbergang zu einem 'rationaleren' Verhalten und Denken,
1119 ebenso wie (dem) zu einer st„rkeren Selbstkontrolle" spricht (II,
1120 394), wenn er den "Zwang zu einer differenzierteren
1121 Selbstdisziplinierung, zu einer festeren šber-Ich-Bildung" heraushebt
1122 (II, 351), die Ausbildung einer "stabilere(n), zum guten Teil
1123 automatisch arbeitende(n) Selbstkontrollapparatur" vermerkt (II, 320)
1124 oder die Durchsetzung eines "affektneutraleren" Gesamtverhaltens
1125 behauptet (II, 373f.). Gewiá: der b�rgerliche Sozialcharakter ist
1126 anders als der aristokratische. Aber f�r Elias ist er dies vor allem
1127 im Sinne eines Mehr an Kontroll- und Steuerungskapazit„ten, welche im
1128 aristokratischen Charakter in nuce bereits angelegt waren. Und er
1129 besitzt dieses Mehr haupts„chlich deshalb, weil die b�rgerliche,
1130 familial vermittelte Erziehung einen erfolgreichen Weg gefunden hat,
1131 um die soziale Kontrolle in das Individuum hineinzuverlagern: die
1134 \x04\x02Aus psychoanalytischer Sicht kann man diese Auffassung nur als
1135 sehr selektiv bezeichnen (Lasch 1985, 712ff.). Daá die Verinnerlichung
1136 ein bedeutendes Mittel der zivilisatorischen bzw. kulturellen
1137 Entwicklung ist, die Voraussetzung daf�r, daá aus Kulturgegnern
1138 Kulturtr„ger werden (Freud IX, 145), ist zwar ein Grundmotiv Freuds,
1139 der in seinen Arbeiten h„ufig die disziplinierenden und
1140 sozialisierenden Funktionen des šber-Ichs hervorgehoben hat: das šber-
1141 Ich ist die Basis der Religion, der Moral und des sozialen Empfindens,
1142 es ist der "Tr„ger der Tradition, all der zeitbest„ndigen Wertungen,
1143 die sich auf diesem Wege �ber Generationen fortgepflanzt haben" (Freud
1144 I, 505), es tritt dem Individuum als ein kategorischer Imperativ
1145 entgegen und bewirkt dadurch jene Umwandlung, durch die es erst
1146 moralisch und sozial wird (Freud III, 315; IX, 145). Im Gegensatz zu
1147 Elias sieht Freud in diesem Mechanismus jedoch nicht erst eine
1148 Errungenschaft der Neuzeit; dar�ber hinaus macht er klar, daá es sich
1149 um eine h”chst ambivalente Einrichtung handelt. Das šber-Ich ist
1150 \fn„mlich nicht nur, wie Elias meint, ein "Abdruck der Gesellschaft im
1151 Innern" (I, 173), es ist gleichzeitig "der Erbe des ™dipuskomplexes
1152 und somit Ausdruck der m„chtigsten Regungen und wichtigsten
1153 Libidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des
1154 ™dipuskomplexes bem„chtigt
\x18\x02und gleichzeitig
\x18\x02 sich selbst dem Es
1155 unterworfen. W„hrend das Ich wesentlich Repr„sentant der Auáenwelt,
1156 der Realit„t ist, tritt ihm das šber-Ich als Anwalt der Innenwelt, des
1157 Es gegen�ber" (Freud III, 3O3).
\r
1159 \x04\x02Diese Aussage bedarf einer kurzen Erl„uterung. Freud teilt mit
1160 Elias die Auffassung, daá das šber-Ich im einzelnen die
1161 gesellschaftliche Allgemeinheit vertritt und damit als Conditio sine
1162 qua non der Zivilisation bzw. der Kultur fungiert. W„hrend Elias
1163 jedoch dazu neigt, die Aufrichtung dieses šber-Ichs eher
1164 behavioristisch als Ergebnis von Konditionierungsvorg„ngen anzusehen,
1165 eine triebtheoretische Begr�ndung jedenfalls nicht gibt
\x18\a9
\x18\a, kreisen
1166 Freuds Bem�hungen gerade um diese letztere. Das Soziale, so sein
1167 Gedanke, kann nur dann im einzelnen seinen Niederschlag finden, wenn
1168 es sich mit bestimmten Triebregungen legiert und in der Trieb”konomie
1169 selbst einen St�tzpunkt findet. Dies geschieht nach Freud prim„r in
1170 der ”dipalen Phase. Das Kind muá auf dieser Stufe seiner Entwicklung
1171 auf die intensiven Liebes- und Feindseligkeitsw�nsche gegen�ber seinen
1172 Eltern vezichten, und es l”st diese Aufgabe durch Identifizierung,
1173 durch Neusch”pfung des aufgegebenen Objekts in seinem Innern (Freud I,
1174 502). Teile der libidin”sen Energien flieáen dem 'Ich-Ideal' zu,
1175 dessen Definition bei Freud allerdings starken Schwankungen unterliegt
1176 (vgl. Chasseguet-Smirgel 1981, 215ff.); Teile der aggressiven
1177 Energien, namentlich die Kastrations- und Todesw�nsche gegen den
1178 ”dipalen Rivalen, dem Gewissen und dem Schuldgef�hl, den wichtigsten
1179 Komponenten des šber-Ichs (Freud III, 304). Die sozialisierende
1180 Leistung des šber-Ichs ruht somit trieb”konomisch gesehen auf einem
1181 asozialen, ja antisozialen Fundament: der Aggression, die gleichsam
1182 nur von auáen nach innen umgelenkt wird.
\r
1184 \x04\x02Diese Zusammenzwingung zweier entgegengesetzter Tendenzen f�hrt
1185 nach Freud zu einer „uáerst labilen Konstellation. Schon in 'Das Ich
1186 und das Es' notiert er, daá je mehr ein Mensch seine Aggression nach
1187 auáen einschr„nke, er desto aggressiver und strenger in seinem šber-
1188 Ich werde. Das šber-Ich werde 'hypermoralisch' und wende sich mit der
1189 gleichen Grausamkeit gegen das Ich wie in anderen Konflikten das Es
1190 (Freud III, 320f.). Was hier noch rein individualpsychologisch als
1191 Neigung zur Zwangsneurose oder zur Melancholie diagnostiziert wird,
1192 wird sp„ter zu einer These �ber die Pathologie der kulturellen
1193 Gemeinschaften erweitert. Der Preis f�r den Kulturfortschritt, heiát
1194 es in 'Das Unbehagen in der Kultur', liege in der "Gl�ckseinbuáe durch
1195 die Erh”hung des Schuldgef�hls" (Freud IX, 26O). Bereits in der
1196 Familie sei das Zusammenleben nur m”glich durch den Verzicht auf die
1197 ”dipalen Bed�rfnisse und durch die Einsetzung des Gewissens. Jede
1198 Erweiterung der sozialen Verb„nde setze diesen Konflikt fort und habe
1199 eine weitere Steigerung des Schuldgef�hls zur Folge. Der Kulturprozeá
1200 gehorcht einer unheilvollen Mechanik. Je mehr im Laufe der
1201 Vergesellschaftung die unmittelbare Aggression zwischen den Individuen
1202 abgebaut wird, desto mehr baut sie sich in den Individuen auf. Je
1203 geringer die Macht der Triebe und Affekte im sozialen Verkehr, desto
1204 gr”áer die 'gesellschaftliche Produktion von Unbewuátheit' (Erdheim)
1205 und der Druck des Verdr„ngten auf das Ich (vgl. Freud IX, 258f.). Daá
1206 der Mensch jemals jenes "optimale Gleichgewicht seiner Seele" finden
1207 k”nnte, wie Elias dies f�r den vollendeten Zivilisationsprozeá in
1208 \fAussicht stellt, muá nach Freud als eine naive Utopie angesehen
1211 \x04\x02Es ist bekannt, daá Freud trotz dieser d�steren Perspektive dem
1212 Ich noch gen�gend Kraft zutraute, um - notfalls mit Unterst�tzung der
1213 Psychoanalyse - der Wiederkehr des Verdr„ngten standzuhalten. Und es
1214 ist auch bekannt, worauf sich dieses Vertrauen gr�ndete: auf die
1215 Annahme, daá das šber-Ich der Erbe des ™dipuskomplexes sei und "erst
1216 nach der Erledigung desselben" eingesetzt werde (Freud 1964, 85): in
1217 einem Stadium mithin, in dem die psychosexuelle Entwicklung und die
1218 Ich-Reifung bereits ein gewisses Niveau erreicht haben. Der Einbruch
1219 des Sozialen, so kann man zugespitzt formulieren, erfolgt im
1220 Freudschen Modell auf einer Stufe, auf der das Ich bereits eine solche
1221 St„rke erreicht hat, daá es seine unterschiedlichen Phantasien,
1222 W�nsche und Objektbeziehungen zu einem koh„renten Funktionssystem zu
1223 integrieren vermag (vgl. Jacobson 1978, 136ff.)
\r
1225 \x04\x02Dieses Modell ist durch den Fortschritt der psychoanalytischen
1226 Erkenntnis nach Freud sowohl auf individual- wie auf
1227 sozialpsychologischer Ebene relativiert worden. Auf
1228 individualpsychologischer Ebene erhellten die wie immer auch
1229 unterschiedlichen und z.T. gegens„tzlichen Forschungen der Englischen
1230 Schule, der genetischen oder strukturalistischen Schule und der
1231 Narziámus-Theorie die grundlegende Bedeutung, die der pr„”dipalen
1232 Entwicklung im Rahmen des Sozialisationsvorgangs zukommt. Melanie
1233 Klein, Ernest Jones u.a. entdeckten die archaischen Vorstufen des
1234 šber-Ichs, die weniger durch Introjektionen der „uáeren Realit„t als
1235 vielmehr durch Einverleibungen vor allem der destruktiv-sadistischen
1236 Projektionen des Kleinkindes bestimmt sind (vgl. Klein 1928/1985;
1237 1973, 21, 157ff.; Jones 1978). Ren‚ Spitz, Margaret S. Mahler u.a.
1238 arbeiteten die konstitutive Funktion der Mutter-Kind-Dyade bzw.
1239 Symbiose sowie des Losl”sungs- und Individuationsvorgangs heraus und
1240 dokumentierten die vielf„ltigen pathogenen Wirkungen, die ein
1241 psychotoxisches oder unzureichendes Verhalten der Mutter auf die
1242 Psyche des heranwachsenden Kindes haben kann (vgl. Spitz 1967; Mahler
1243 1972, 1978). Autoren wie Kohut und Kernberg endlich erkl„rten die
1244 zunehmende Zahl von Charakterst”rungen mit einer mangelhaften Abl”sung
1245 der narziátischen Energien von archaischen Objekten wie dem Gr”áen-
1246 Selbst und den idealisierten Eltern-Imagines (Kohut 1976; Kernberg
1247 1978). Freuds Vorstellungen erwiesen sich vor diesem Hintergrund nicht
1248 als falsch, wohl aber als zu stark auf die v„terliche Intervention in
1249 der ”dipalen Phase fixiert.
\r
1251 \x04\x02Noch weiter relativiert wurden diese Vorstellungen durch die
1252 psychoanalytisch orientierte Sozialpsychologie, die mit plausiblen
1253 Argumenten auf den Klassencharakter und die Historizit„t der von Freud
1254 beschriebenen ”dipalen Konfiguration hinwies. Klassencharakter: denn
1255 diese Konfiguration, die durch die Intensit„t der Mutter-Kind-Symbiose
1256 sowie durch die Sprengung derselben durch den verbietenden und Distanz
1257 zum Lustprinzip erzwingenden Vater bestimmt ist, spiegelt eindeutig
1258 die Zw„nge der b�rgerlichen Kleinfamilie mit ihrer scharfen
1259 Rollentrennung. Historizit„t: denn dieser Familientypus kann
1260 angesichts ver„nderter Arbeitsbedingungen und
1261 Geschlechtsrollenzuweisungen als kulturell nicht mehr so bestimmend
1262 wie noch zu Freuds Zeiten angesehen werden.
\r
1264 \x04\x02Daf�r sind viele Ursachen verantwortlich, die hier nur angedeutet
1265 werden k”nnen: die 'Entwertung all der Eigenschaften, die einmal die
1266 \fVaterkultur getragen haben' (Mitscherlich), in erster Linie der
1267 individuellen Arbeitserfahrung und des familialen Besitzes von
1268 Produktionsmitteln; die Entstehung eines nivellierten Gesamtarbeiters
1269 (Marx), in dem die Proletarisierung Massenschicksal ist; die
1270 Ausdifferenzierung und Entkoppelung vormals in der Familie
1271 zusammengefaáter Lebenslagen; die 'Polizierung' der Familie durch
1272 b�rokratische Regelung und Verrechtlichung; schlieálich die
1273 'Sozialisierung' der Elternfunktion durch Massenmedien, peer groups
1274 und Therapeuten. Das Stadium der 'individualistischen
1275 Vergesellschaftung' (Adorno), in dem sich Sozialisation �ber die
1276 Identifikation mit einer zugleich bedrohlichen und idealisierten
1277 Person vollzog, scheint vor�ber zu sein. "Die unterdr�ckende
1278 Trieborganisation scheint kollektiv, und das Ich durch ein ganzes
1279 System extrafamilialer Einrichtungen und deren Vertreter vorzeitig
1280 sozialisiert zu sein" (Marcuse 1967, 98; vgl. Mitscherlich 1968,
1281 185ff., 310ff.; Lasch 1986, 179ff.).
\r
1283 \x04\x02Daá Marcuse hier von vorzeitiger Sozialisierung spricht, meint
1284 nicht mehr und nicht weniger, als daá der Zugriff des Ganzen auf das
1285 Individuum zu einem Zeitpunkt erfolgt, in dem der psychosexuelle
1286 Reifungsprozeá noch nicht zur Herausbildung eines stabilen und
1287 koh„renten Ichs gef�hrt hat. Zahlreiche Diagnosen stimmen darin
1288 �berein, daá unter den gegenw„rtigen Bedingungen des abwesenden Vaters
1289 ein groáer Teil der psychischen Energien an pr„”dipale Objekte
1290 gebunden bleibt, so daá f�r den Aufbau und die Besetzung reifer Ich-
1291 und šber-Ich-Strukturen nur ein vermindertes Quantum zur Verf�gung
1292 steht. Die Folge ist, daá die fr�hkindliche Entwicklung gar nicht mehr
1293 bis zum entscheidenden ”dipalen Konflikt gelangt, was wiederum
1294 zugleich bedeutet, daá die pr„”dipalen, archaischen Anteile des šber-
1295 Ichs gegen�ber den ”dipalen ein šbergewicht erlangen.
\r
1297 \x04\x06\x19\x10"So haben wir heute das folgende Problem: die hemmende, kontrollierende und leitende Funktion des šberichs, die heute
1298 weitgehend mit der des Ichs zusammenf„llt, ist durch die Schw„che der Eltern, die nachgiebige Erziehung und das
1299 gesellschaftliche Klima abgeschw„cht. Die sexuellen und aggressiven Triebe halten sich immer weniger an Regeln. Aber wir haben
1300 immer noch das strengere šberich aus der fr�hen Kindheit, das in der Tiefe des Individuums fortlebt. Daraus resultieren Unruhe,
1301 Unbehagen, depressive Verstimmungen und Sucht nach Ersatzbefriedigungen"
\x18\a10
\x18\a.
\r
1303 \x04\x02Auch f�r die Psyche gilt damit, was wir bereits f�r die
1304 soziogenetische Ebene festgestellt haben: daá Vergesellschaftung unter
1305 Marktbedingungen ein h”chst paradoxer Vorgang ist. Verglichen mit
1306 Freuds Zeiten ist das Netz des Sozialen engmaschiger und st„rker
1307 geworden und hat l„ngst auch den privaten Schonraum der Familie
1308 erfaát, in dem Elias noch eine Enklave des gesellschaftlich nicht
1309 Geformten sah (I, 226f., 247, 259). Diese Expansion des Sozialen aber
1310 geht keineswegs einher mit einer kontinuierlich zunehmenden
1311 'Individualisierung' oder gar 'Massenindividualisierung' (1987, 273,
1312 242), sondern macht Individuierung zu einer immer schwerer zu
1313 bew„ltigenden Aufgabe. Durch den Fortfall jener Faktoren, die in der
1314 b�rgerlichen Familie eine sukzessive Einschr„nkung und Frustrierung
1315 der archaischen W�nsche und Phantasien durchsetzten, wird die Macht
1316 des Unbewuáten gest„rkt; damit aber die Macht einer Instanz, die, im
1317 Gegensatz zu den Annahmen eines C.G. Jung, keine h”here Kollektivit„t
1318 verk”rpert, sondern deren Negation: die aus der gesellschaftlichen
1319 Kommunikation ausgeschlossene private Symbolwelt der von ihren
1320 pr„”dipalen Objekten beherrschten Individuen (vgl. Lorenzer 1970, 92,
1321 97). Zivilisation, die einmal aus der Domestizierung des Archaischen
1322 entsprang, schl„gt damit in ihr Gegenteil um: in die Wiedererzeugung
1323 des Archaischen "in der Zivilisation durch die Zivilisation selbst"
1324 \f(Adorno 1971, 42). Es spricht gegen die Zivilisationstheorie von
1325 Elias, daá sie noch nicht einmal die M”glichkeit einer derartigen
1326 Entwicklung er”rtert11.
\r
1330 \x04\x023. Der letzte hier zu diskutierende Einwand stammt aus der
1331 Systemtheorie und besagt, daá Elias dem Unterschied zwischen
1332 Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftssystemen nicht gen�gend
1333 Rechnung tr„gt. Interaktionssysteme sind, nach der Definition
1334 Luhmanns, dadurch bestimmt, daá Anwesende sich wechselseitig
1335 wahrnehmen und auf dieser Grundlage miteinander kommunizieren. Wegen
1336 dieser Bindung an die konkrete Pr„senz von Personen k”nnen sie weder
1337 in ihren internen noch in ihren externen Beziehungen sonderlich hohe
1338 Komplexit„t erreichen, eine Beschr„nkung, die noch dadurch verst„rkt
1339 wird, daá die Erfordernisse der thematischen Konzentration und der
1340 linearen Sequenz der Beitr„ge sehr zeitraubend sind. -
1341 Organisationssysteme erm”glichen dagegen eine h”here sachliche und
1342 zeitliche Generalisierung, weil sie auf Mitgliedschaftsregeln
1343 aufbauen. Auf der Basis solcher Regeln ist es m”glich, hochgradig
1344 k�nstliche Verhaltensweisen dauerhaft zu reproduzieren, die sich durch
1345 ein hohes Maá an Motivgeneralisierung und Verhaltensspezifikation
1346 auszeichnen. - Der Begriff des Gesellschaftssystems schlieálich zielt
1347 auf die umfassendste Form von Kommunikation: das Sozialsystem par
1348 excellence, das als Bedingung aller anderen sozialen Systeme fungiert
1349 (damit auch aller Interaktions- und Organisationssysteme). Es ist
1350 nicht einfach die Summe aller Organisationen und Interaktionen,
1351 sondern ein System h”herer Ordnung. Es schlieát neben Interaktionen
1352 auch interaktionsfreie Handlungen wie z.B. schriftliche Kommunikation
1353 ein, grenzt das Soziale vom Nichtsozialen ab und erm”glicht die
1354 Ausdifferenzierung von Subsystemen, die auf bestimmte, nur ihnen
1355 zurechenbare Funktionen spezialisiert sind (Luhmann 1974, 143; 1982,
1358 \x04\x02Mit dieser Unterscheidung verbindet Luhmann eine evolution„re
1359 Perspektive. Obwohl keine Gesellschaft jemals ganz in Interaktionen
1360 aufgeht, gilt doch f�r archaische Gesellschaften, in denen die
1361 Funktionsdifferenzierung nur wenig entwickelt ist, daá sie
1362 interaktionsnah gebildet werden (Luhmann 1985, 576). Auch in den
1363 vormodernen Hochkulturen spielen Interaktionssysteme noch eine
1364 f�hrende Rolle, wenngleich wichtige Funktionen bereits durch
1365 Organisationen erledigt werden: das Prinzip der Stratifikation, nach
1366 dem diese Gesellschaften gegliedert sind, hat zur Folge, daá die
1367 Gesellschaft als Ganze durch das Kontaktnetz der Oberschicht
1368 repr„sentiert und symbolisiert wird. Oberschichteninteraktion kann
1369 deshalb als Integrationmodus stratifizierter Gesellschaften angesehen
1370 werden (Luhmann 1980, 84).
\r
1372 \x04\x02In der modernen Gesellschaft dagegen, die auf voll durchgef�hrter
1373 funktionaler Differenzierung beruht, kommt dem Interaktionssystem
1374 keine integrative Aufgabe mehr zu. Wohl bleibt Interaktion eine
1375 Basisbedingung von Gesellschaft, die sich ja schlieálich durch
1376 soziales Handeln konstituiert. Doch ist die Gesellschaft mit der
1377 Delegation grundlegender Funktionen an Subsysteme, mit der Entstehung
1378 ausgedehnter Organisationssysteme und nicht zuletzt mit der
1379 Erweiterung zur Weltgesellschaft so komplex und �berpers”nlich
1380 geworden, daá sie sich durch Interaktion nicht mehr repr„sentieren,
1381 geschweige denn bew„ltigen l„át.
\r
1383 \x04\x06\x19\x10"Die Gesellschaft ist, obwohl weitgehend aus Interaktionen bestehend, f�r Interaktion unzug„nglich geworden. Keine
1384 Interaktion, wie immer hochgestellt die beteiligten Personen sein m”gen, kann in Anspruch nehmen, repr„sentativ zu sein f�r
1385 Gesellschaft. Es gibt infolgedessen keine 'gute Gesellschaft' mehr. Die in der Interaktion zug„nglichen Erfahrungsr„ume vermitteln
1386 nicht mehr das gesellschaftlich notwendige Wissen, sie f�hren wohlm”glich systematisch in die Irre. Auch die Interaktionsfelder, die
1387 sich unter irgendwelchen Gesichtspunkten zusammenf�gen und aggregieren lassen, lenken die Aufmerksamkeit „uáerstenfalls auf
1388 Funktionssysteme, vielleicht auch auf regionale Abgrenzungen (Nationen), nicht aber auf das umfassende System
1389 gesellschaftlicher Kommunikation" (Luhmann 1985, 585).
\r
1391 \x04\x02Im gleichen Maáe, wie die Interaktion an gesamtgesellschaftlicher
1392 Relevanz verliert, schiebt sich die Organisation in den Vordergrund.
1393 Dieselben Prozesse, die zur Auseinanderziehung der Systemebenen von
1394 Gesellschaft und Interaktion f�hren - die Ausdifferenzierung und
1395 durchgehende Monetarisierung der Gesellschaft, die Verrechtlichung der
1396 Erhaltungs- und Fortsetzungsbedingungen t„glicher Lebensf�hrung, die
1397 wachsende Bedeutung von Schulerziehung und Berufswahl f�r die
1398 individuelle Biographie (Luhmann 1981, 360f.) - beg�nstigen nach
1399 Luhmann eine massenhaft-spontane 'Autokatalyse' von Organisationen und
1400 eine entsprechende Verallgemeinerung der diesem Systemtypus eigenen
1401 Besonderheiten: der Engf�hrung von Kommunikation auf Entscheidungen
1402 und Verkn�pfungen von Entscheidungen; der Bindung an Weisungsketten,
1403 Žmterhierarchien und Kontrollmechanismen; der Unterwerfung unter
1404 programmierte Ziele und Strategien; der Entlastung von moralischen
1405 Erw„gungen und gesamtgesellschaftlichen Reflexionen.
\r
1407 \x04\x02Allerdings bedeutet diese unbestreitbare Expansion von
1408 Organisationen und organisationsspezifischen Verhaltensmustern nicht,
1409 daá sich die Gesellschaft in ein einheitliches Organisationssystem
1410 verwandelt. Die Gesellschaft konstituiert sich heute als
1411 Weltgesellschaft und �bersteigt schon allein dadurch den Horizont des
1412 Organisierbaren. Auch innerhalb der einzelnen Funktionsbereiche ist
1413 die Komplexit„t so sehr angewachsen, daá die Aufgaben der Wirtschaft
1414 oder der Erziehung durch eine einzige Organisation nicht bew„ltigt
1415 werden k”nnten. Selbst wenn es z.B. gel„nge, Produktionsorganisationen
1416 durch eine weltweite Planung zu integrieren, k”nnten gleichwohl
1417 Produktions- und Konsumentscheidungen nicht zu einer einzigen
1418 Organisation zusammengeschlossen werden (Luhmann 1982, 15).
1419 Organisierte Sozialsysteme m”gen der Rahmen sein, in dem sich ein
1420 groáer, wenn nicht der gr”áte Teil des sozialen Alltagshandelns
1421 vollzieht. Zu einer Megaorganisation, in der die Unterscheidung von
1422 Gesellschaftssystem und Organisationssystem hinf„llig w�rde, f�gen sie
1425 \x04\x02Im Lichte dieser Unterscheidungen liegt der Grundmangel der
1426 Zivilisationstheorie in der Totalisierung von Verhaltensformen, die
1427 f�r Interaktionssysteme typisch sind. Diese Totalisierung ist
1428 historisch gesehen nicht v”llig falsch. Sie kann sich darauf berufen,
1429 daá unter den Bedingungen stratifikatorischer Differenzierung in der
1430 Tat ein spezifisches Interaktionssystem - der Hof -
1431 Integrationsaufgaben erf�llte und insofern von
1432 gesamtgesellschaftlicher Relevanz war. Elias beschr„nkt die G�ltigkeit
1433 der Zivilisationstheorie jedoch ausdr�cklich nicht auf diese Phase,
1434 sondern faát auch die der funktionalen Differenzierung und den
1435 organisierten Sozialsystemen gem„áen neuen Verhaltensmuster als
1436 Manifestation des Zivilisierungsprozesses auf, obgleich er sehr wohl
1437 einr„umt, daá das Schema der nichth”fischen mittelst„ndischen
1438 Zivilisationslinie von dem der h”fischen verschieden ist, und obgleich
1439 er erkennt, daá die 'guten Gesellschaften', die nach der h”fischen
1440 \fkommen, "nicht mehr im entferntesten die gleiche formgebende Kraft"
1441 haben (II, 416; 1975, 144f., 172ff.). Der Prozeá der Zivilisation,
1442 lautet eine mehrfach wiederholte Kernthese, vollzieht sich "ohne
1443 Bruch", "in einer immer intensiveren Ausbreitungsbewegung", die mit
1444 der Bildung eines h”fischen Sozialcharakters beginnt und - vorerst -
1445 mit einem von diesem abgeleiteten Nationalcharakter endet (I, 43f.).
\r
1447 \x04\x02Die Behauptung aber, daá die "h”fisch-aristokratische
1448 Menschenmodellierung (...) in dieser oder jener Form in die
1449 berufsb�rgerliche ein(m�ndet) und (...) in ihr aufgehoben
1450 weitergetragen (wird)" (II, 418), wird der im Begriff der 'Aufhebung'
1451 liegenden Dialektik nicht gerecht. Gewiá gibt es eine Aufhebung im
1452 Sinne des Bewahrens und Fortf�hrens, die sich in der šbernahme
1453 bestimmter Mechanismen der Selbstkontrolle (Langsicht,
1454 Affektbeherrschung) oder in Erscheinungen wie der 'Demokratisierung
1455 der Literalit„t' (Goody/Watt) zeigt. Aufhebung aber meint auch stets -
1456 und in diesem Falle mehr als alles andere - Negation, Auáer-Geltung-
1457 Setzen, Beenden. So hat die Demokratisierung der Literalit„t, wie
1458 Goody und Watt gezeigt haben, durchaus nicht nur zu einer kollektiven
1459 Aneignung des kulturellen Erbes gef�hrt, sondern auch dessen
1460 Verbindlichkeit aufgel”st und dessen Homogenit„t zerst”rt
\x18\a12
\x18\a, und so
1461 resultiert denn auch die Aufhebung des Privilegs nicht in der
1462 Verallgemeinerung der in der Oberschicht geltenden Codes, sondern
1463 allenfalls in deren Musealisierung.
\r
1465 \x04\x02Luhmann zufolge ist diese Entwicklung unausweichlich, denn erstens
1466 verliert die Oberschichteninteraktion mit zunehmender
1467 Ausdifferenzierung von Subsystemen ihren Repr„sentationscharakter -
1468 das Ganze l„át sich durch keinen Teil mehr darstellen, sondern ist nur
1469 noch in den Teilen selbst pr„sent; und zweitens geht durch die
1470 Radikalisierung der Funktionsdifferenzierung die Conditio sine qua non
1471 h”fischer Interaktion verloren: die Verf�gung �ber ein ausreichendes
1472 Quantum nichtfunktionsbezogener Zeit, alteurop„isch ausgedr�ckt: Muáe.
1473 Nur eine Schicht, die ihr gesamtes Dasein 'm�áig' verbrachte, d.h.
1474 nicht prim„r in den Aufgaben der Produktion und Reproduktion des
1475 unmittelbaren Lebens aufging, konnte jene gesteigerte F„higkeit zur
1476 Wahrnehmung des eigenen und des fremden Selbst ausbilden, von der das
1477 Leben bei Hofe abhing; nur eine Schicht, die auf Repr„sentation des
1478 Ganzen spezialisiert war, konnte sich auf die Stilisierung der
1479 Umgangsformen, auf die Produktion und Interpretation jener Zeichen
1480 konzentrieren, in denen sich Rang und Ehre, Achtung oder Miáachtung
1481 dokumentierten. Wenn Zivilisation darin besteht, daá man dem Umweg vor
1482 der Abk�rzung, der indirekten Aktion vor der direkten den Vorzug gibt,
1483 so setzt sie eine Ordnung voraus, die wenigstens �ber ein Gut im
1484 šberfluá verf�gt: Zeit.
\r
1486 \x04\x02Organisierte Sozialsysteme indes, wie sie in der
1487 berufsb�rgerlichen Gesellschaft dominieren, beruhen auf der
1488 systematischen Verknappung von Zeit. In ihnen geht es, wie man nicht
1489 nachdr�cklich genug hervorheben kann, um Zeitgewinn und um die damit
1490 verbundenen Konkurrenzvorteile gegen�ber anderen Organisationen: daher
1491 die Verk�rzung und Kanalisierung der Kommunikation, die simultane
1492 Erledigung von Aufgaben durch Arbeitsteilung, die Entlastung der
1493 Operationen von der zeitraubenden Notwendigkeit, f�r jeden Einzelfall
1494 nat�rlich gewachsene Motive oder moralischen Konsens zu beschaffen13.
1495 Es ist klar, daá nur eine derartige ™konomisierung der Zeit die
1496 Organisationen in die Lage versetzt, die F�lle der ins Unendliche
1497 gestiegenen Anforderungen zu bew„ltigen. Ebenso klar ist aber, daá die
1498 \f'Temporalisierung von Komplexit„t' nur im Gegenzug gegen die f�r die
1499 traditionellen Oberschichten typischen Formen der Zeitverwendung
1500 durchgesetzt werden kann - und damit auch im Gegenzug gegen die
1501 civilisation. Wo die Knappheit der Zeit und die Vordringlichkeit des
1502 Befristeten (Luhmann) regiert, wird Achtungskommunikation alten Stils
1503 zum Luxus, der nur noch auáerhalb der organisierten Sozialsysteme (und
1504 hier oft noch nicht einmal gegen Geld) zu haben ist. Gepflegte
1505 Geselligkeit und galante Konversation, Zivilisierung der Gesten und
1506 der Sprache, Takt und Respekt, alle diese Formen erweisen sich heute
1507 als Oberschichtenph„nomene, die "nach der Aufl”sung der
1508 stratifizierten Gesellschaftsordnung jedenfalls nicht als
1509 Kultiviertheitserwartung fortgesetzt werden"
\x18\a14
\x18\a.
\r
1511 \x04\x02Nicht daá sie v”llig verschw„nden. Distinktionsstrategien spielen
1512 auch heute noch eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben, vom
1513 ehemaligen Adel �ber die Bildungseliten bis hinab zur Unterwelt
1514 (Girtler 1989). Aber der ubiquit„re Zeitdruck erzwingt doch eine so
1515 un�bersehbare Reduktion und Minimierung aller Schn”rkel und Floskeln,
1516 eine solche Raffung aller umst„ndlichen Vermittlungen, daá sich der
1517 inter- und intraorganisatorische Kommunikationsstil mehr und mehr
1518 jener zeitgen”ssischen Architektur angleicht, die das Ornament zum
1519 Verbrechen erkl„rte (A.Loos). Zeit”konomie und Zivilisation schlieáen
1520 einander aus. Wer diesen Gegensatz verleugnet und auch f�r die
1521 Gegenwart noch am Zivilisationsbegriff festhalten will, muá daraus
1522 alle Inhalte tilgen, die einmal mit Zivilisiertheit verbunden waren.
\r
1529 \x0f\x02\0\0Exkurs �ber Informalisierung
\r
1532 \x0f\x02\0\0Die hier skizzierten Argumente sind nat�rlich Elias und seinen
1533 Anh„ngern nicht g„nzlich entgangen. Besonders Cas Wouters hat sich
1534 ihnen gestellt und einen Trend zur Informalisierung diagnostiziert,
1535 den er auf Ver„nderungen in der Machtbalance zwischen den sozialen
1536 Klassen, den Generationen und den Geschlechtern zur�ckf�hrt (Wouters
1537 1979; 1986). Elias hat dann diese Diagnose aufgegriffen und alle
1538 Versuche abgewiesen, daraus eine Falsifizierung der
1539 Zivilisationstheorie ablesen zu wollen. Die Informalisierung, so seine
1540 These, sei im Gegenteil ein Beleg f�r die Intensivierung des
1541 Zivilisationsprozesses, weil sie mit einer "Zunahme des
1542 gesellschaftlichen Drucks zur Selbstregulierung" einhergehe (Elias
1543 1989, 60). Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Elias und Wouters haben
1544 sicher recht, wenn sie in der Informalisierung nicht einfach einen
1545 R�ckfall in Chaos und Regellosigkeit sehen wollen. Selbstverst„ndlich
1546 ist die moderne Gesellschaft, bei aller Lockerung von Konventionen und
1547 Standards, durch ein sehr hohes Maá an Regulierung gekennzeichnet.
1548 Nur: diese Regulierung ist ein Effekt der organisierten Sozialsysteme,
1549 die strukturell in keinerlei Beziehungen zu den Interaktionssystemen
1550 der h”fischen Gesellschaft stehen. Der in ihnen endemische
1551 Rationalisierungszwang d�rfte weit mehr als alle Ver„nderungen in den
1552 Machtbalancen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen dazu beigetragen
1553 haben, daá die �berkommenen Interaktionsrituale nach und nach �ber
1554 Bord geworfen wurden. Zweitens aber kann die Informalisierung auch
1555 deswegen keine Intensivierung des Zivilisationsprozesses sein, weil
1556 \fdie partielle Entstrukturierung der „uáeren Beziehungen mitnichten
1557 durch Strukturgewinne im Innern der Subjekte kompensiert wird. Die
1558 "vorzeitige" Sozialisation, so haben wir im vorigen Abschnitt gesehen,
1559 f�hrt gerade nicht auf eine "h”here Ebene des Bewuátseins und
1560 wahrscheinlich auch eine h”here Ebene der Selbststeuerung" (Wouters
1561 1979, 294), sondern zu einer Schw„chung des Ichs und einer
1562 Entstrukturierung des šber-Ichs. Weit davon entfernt, �ber die von den
1563 Zivilisationstheoretikern supponierte Souver„nit„t zu verf�gen, die es
1564 ihm erlaubte, rigide Kontrollen in bestimmte Bereiche zu lockern,
1565 scheint das Subjekt eher zum Zerfall zu tendieren: zur Spaltung in ein
1566 uneigentliches Selbst, das sich den externen Funktionsimperativen der
1567 organisierten Sozialsysteme anpaát, und in ein eigentliches Selbst,
1568 das sich in den Intermundien dieser Systeme entfaltet und �berall
1569 dort, wo es auf keine Schranken mehr stӇt, den Impulsen seiner
1570 jeweiligen emotionalen Befindlichkeit folgt (Gerhards 1988, 237f.).
1571 Wie d�nn dabei die Linie ist, die die psychische von der physischen
1572 Inkontinenz trennt, weiá jeder, der die ”ffentlichen Verkehrsmittel in
1573 Groást„dten benutzt.
\r
1580 \x0f\x02\0\0\x0f\x03\0\0III
\r
1583 \x0f\x02\0\0Damit keine Miáverst„ndnisse entstehen: Ich bezweifle nicht, daá es
1584 eine h”fische Zivilisation im Abendland gab und daá Norbert Elias ihr
1585 Theoretiker ist. Ich bezweifle auch nicht, daá diese h”fische
1586 Zivilisation in einigen L„ndern wie Frankreich auf die aufsteigenden
1587 b�rgerlichen Schichten abgef„rbt und deren nationalen Habitus gepr„gt
1588 hat, wiewohl man hinzuf�gen sollte, daá dies historisch gesehen eher
1589 die Ausnahme als die Regel war. Das B�rgertum ist eine sehr
1590 abendl„ndische Erscheinung, und selbst innerhalb des Abendlandes gibt
1591 es zahlreiche F„lle, in denen es sich dem Einfluá des Hofes entzog.
1592 Der Hoffnung des Liberalismus, die B�rger m”chten sich die Manieren
1593 der guten Gesellschaft aneignen, w„hrend die 'historischen Klassen' im
1594 Verdienen t�chtiger werden sollten, hielt schon Karl Kraus entgegen,
1595 daá "aller Wahrscheinlichkeit nach schlieálich die historischen
1596 Klassen ohne irdische G�ter und mit schlechten Manieren, die
1597 vordringenden Schichten aber mit zweifachem Besitzstand die
1598 Gesellschaft repr„sentieren werden" (Kraus 1916, 7). Schlieálich ist
1599 auch unbestritten, daá es in der Neuzeit eine weitausgreifende
1600 Affektmodellierung gegeben hat, in die immer weitere Schichten
1601 einbezogen wurden.
\r
1603 \x0f\x02\0\0Die Crux der Zivilisationstheorie besteht jedoch darin, daá sie eine
1604 "evolution„r wirkende Kontinuit„t des Zivilisationsbegriffs" behauptet
1605 und die Geschichte der h”fischen Affektmodellierung zur "Vorgeschichte
1606 der Modernisierung", gar zur "Vorgeschichte des modernen
1607 Sozialcharakters" erkl„rt (Kuzmics 1989, 82, 89f.). Eine derart
1608 notwendige Beziehung, wie sie hier unterstellt wird, existiert nicht.
1609 Es gibt sie historisch nicht, weil die Geschichte zahlreiche h”fische
1610 Gesellschaften kennt, die sich nicht zu berufsb�rgerlichen
1611 Gesellschaften entwickelt, sondern stattdessen in
1612 Kriegergesellschaften zur�ckverwandelt haben - Japan nach der Heian-
1613 Žra ist hierf�r vielleicht das beste Beispiel; der eigentliche
1614 \fDurchbruch zur berufsb�rgerlichen Gesellschaft erfolgte dagegen in
1615 L„ndern, in denen nach Elias' eigener Einsicht der Hof nur eine
1616 geringe oder gar keine Rolle spielte - England und den USA (1975, 104,
1617 147f.). Es gibt eine solche notwendige Beziehung aber auch nicht im
1618 logisch-strukturellen Sinne, weil zwischen der Affektmodellierung, wie
1619 sie f�r Interaktionssysteme typisch ist, und derjenigen, wie sie
1620 Organisationssysteme fordern, ein Hiatus klafft. Mit Robert Muchembled
1621 ist davon auszugehen, daá die f�r die h”fische Welt typische
1622 Verfeinerung der Sitten vor allem die Funktion einer Abgrenzung und
1623 Distanzierung der Oberschichtenkommunikation von anderen
1624 Kommunikationsformen hatte und Muster entwickelte, die sich nur um den
1625 Preis des L„cherlichen, Parvenuhaften von anderen Schichten kopieren
1626 lieáen - schon deshalb, weil keine dieser Schichten �ber den
1627 erforderlichen Abstand zur Welt des Geldes und des 'Berufs' verf�gte.
1628 Der Zwang zur Langsicht, die Schemata der Verhaltensregulierung und -
1629 kontrolle, die f�r diese Schichten maágeblich sind, resultieren aus
1630 den Zw„ngen dieser Welt, nicht aus den Vorgaben der
1631 Oberschichtenkommunikation; Zivilisierung ist keine Bewegung von oben
1632 nach unten, die immer noch andauert, sondern eine Bewegung, die die
1633 Kluft zwischen oben und unten zu zementieren trachtet:
\r
1635 \x0f\x02\0\0\x19\x10"Im Gegensatz zu bestimmten Lehrmeinungen ist der Prozeá der Zivilisierung der Sitten in seinen vielf„ltigen Formen kein
1636 Mechanismus zur Nivellierung der Unterschiede. Er bringt im Gegenteil verschiedenartige Wesen hervor, die auf verschiedenen
1637 Stufen der soziokulturellen Hierarchie angesiedelt sind. Diese Menschen - das gilt selbst noch f�r das Ende des Ancien R‚gime - sind
1638 durchaus nicht aus einem St�ck gemacht, sondern f�gen sich in Gesellschaftsschichten ein, die unterschiedliche Verhaltensstr„nge
1639 und gegens„tzliche ”konomische Entwicklungen beerben. Mit anderen Worten, nichts w„re verfehlter, als die Entwicklung der
1640 Mentalit„ten vom ausgehenden Mittelalter bis zur Revolution als eine Art unbestimmten Gesamtfortschritt darzustellen, dem sich die
1641 einzelnen Gruppen dann mehr oder weniger vollkommen anpaáten" (Muchembled 1990, 184).
\r
1643 \x0f\x02\0\0Kein Gesamtfortschritt also, eher eine Reihe von Sch�ben, deren
1644 Rhythmus durch die Ausdifferenzierung neuer, eigengesetzlicher
1645 Funktionssysteme und Organisationen bestimmt wird. Jeder dieser Sch�be
1646 ist, psychogenetisch gesehen, mit einer Schw„chung, wenn nicht sogar
1647 mit einem Abbau der bis dahin dominierenden Instanzen verbunden. Das
1648 b�rgerliche Ich ist, als psychische Instanz, schw„cher als das
1649 h”fische, weil es nicht nur mit dem Es und der Auáenwelt, sondern auch
1650 mit einem šber-Ich zu rechnen hat, das vom Individuum eine
1651 Staatsf”rmigkeit seiner Gesinnungen, nicht bloá seiner „uáeren
1652 Handlungen verlangt (Vowinckel 1983, 150). Das nachb�rgerliche Ich ist
1653 noch schw„cher, weil es nicht mehr auf dem Weg einer Identifikation
1654 mit dem Aggressor - dem ”dipalen šber-Ich -St„rke gewinnen kann,
1655 vielmehr schutzlos und unvermittelt der Gewalt pr„”dipaler,
1656 archaischer Konfigurationen ausgeliefert ist, die den Anspruch auf
1657 Grandiosit„t und Omnipotenz erheben. Mit jedem neuen Schub in der
1658 Entwicklung der Sozialkontrolle erh„lt somit das Ich neue und stets
1659 m„chtigere Gegner, die seine Souver„nit„t fortw„hrend einschr„nken -
1660 und damit seine F„higkeit zu dem, was Elias mit Recht als
1661 Wesensmerkmale des zivilisierten Habitus herausstellt: Selbstdistanz,
1662 Selbstkontrolle, Takt, 'taking the role of the other', das Spiel mit
1663 dem Schein und nicht zuletzt auch die Technik der Simulation, die dem
1664 protestantischen Kleinb�rger als Unaufrichtigkeit erscheinen mag, in
1665 Wirklichkeit aber die F„higkeit bedeutet, die anderen mit der Last des
1666 eigenen Selbst zu verschonen (Sennett 1983, 299).
\r
1668 \x0f\x02\0\0So untergr„bt die Dialektik der Vergesellschaftung die Voraussetzungen
1669 der Zivilisation. Sie verallgemeinert keineswegs die Formen, die in
1670 der h”fischen Zivilisation auf einen kleinen Kreis von Privilegierten
1671 beschr„nkt waren, sondern beseitigt mit dem Privileg auch diese
1672 \fFormen. Sie f�hrt nicht zu einer Anverwandlung der bisher
1673 Ausgeschlossenen an die Ausschlieáenden, sondern umgekehrt zum
1674 Vordringen des aus der Zivilisation Ausgeschlossenen. Seit dem 18. Jh.
1675 ist die vorherrschende Tendenz in der Politik wie in der Kunst eine
1676 nicht abreiáende Kette von Demaskierungen, Entlarvungen und
1677 Enth�llungen, in der eine Konvention und Tradition nach der anderen
1678 demontiert wird und immer neue Schichten des Verdr„ngten ans Licht
1679 gezogen werden; und wenn es eine Zeitlang so schien, als k”nnte mit
1680 der Ausweitung des ”ffentlichen Erziehungswesens ein Gegengewicht
1681 geschaffen werden, so ist dieses mittlerweile so stark segmentiert und
1682 mit anderen Aufgaben �berfrachtet, daá selbst der amerikanische
1683 Pr„sident sich alarmiert zeigt. Die sprachlichen Ausdrucksformen der
1684 Unterschichten, insbesondere die Koppelung von Sexualit„t und Gewalt,
1685 sind l„ngst gesellschaftsf„hig geworden und machen, wie ein Blick in
1686 den 'Anti-™dipus' zeigt, selbst vor dem wissenschaftlichen Diskurs
1687 nicht mehr halt; die Distanzierung vom K”rper, die diesen zum Medium
1688 der Demonstration festgef�gter Konventionen machte, ist einer
1689 aufdringlichen Thematisierung desselben gewichen, bei der der K”rper
1690 zwar mit Signalen �berladen und - wie in der Punk-Bewegung - in
1691 extremer Weise stilisiert wird, jedoch nichts repr„sentiert und nichts
1692 mehr mitzuteilen hat (Bette 1987; Georgieff 1987); und wer gezwungen
1693 ist, sich am Straáenverkehr zu beteiligen, wird rasch feststellen
1694 m�ssen, daá auch die Survival-Mentalit„t der Unterschichten sich
1695 allgemeiner Anerkennung erfreut. Elias pflegt in seinen letzten
1696 Arbeiten h„ufig auf die sinkenden Unfallziffern zu verweisen, um seine
1697 These vom gestiegenen Selbstzwang zu erl„utern (1978, 22). Doch f�nf
1698 Minuten auf der Autobahn sollten eigentlich gen�gen, um sich davon zu
1699 �berzeugen, daá hier nicht die Zivilisation herrscht, sondern das
1700 Gesetz des Dschungels. Nicht daá dort jeder Mensch jedem Menschen ein
1701 Wolf w„re, das hatte schon Hobbes mit seinem bekannten Diktum nicht
1702 gemeint. Es gibt auch heute unendlich viele Beispiele von
1703 Zuvorkommenheit und Hilfsbereitschaft. Aber eine Welt, in der man bei
1704 jedem Streit um eine Parkl�cke, bei jeder Beschwerde �ber zu lauten
1705 Partyl„rm damit rechnen muá, erschossen, erstochen oder
1706 zusammengeschlagen zu werden, ist von der Zivilisation noch immer
1707 genau so weit entfernt wie der von Hobbes beschriebene Kriegszustand,
1708 "which is worst of all, continual fear, and danger of violent death;
1709 and the life of man, solitary, poor, nasty, brutish, and short"15.
\r
1711 \x0f\x02\0\0Wenn diese šberlegungen richtig sind, empfiehlt es sich, den
1712 Leitbegriff der Zivilisationstheorie zu revidieren. Anstatt in ihm
1713 nach dem Vorbild der franz”sischen Aufkl„rung zwei nur zuf„llig-
1714 historisch verbundene Komplexe zusammenzuzwingen - die h”fischen
1715 Interaktionsregeln und die Rationalit„tsstrukturen organisierter
1716 Sozialsysteme - sollte man ihn wieder enger fassen und seiner
1717 geschichtsphilosophischen Konnotationen entkleiden. Vielleicht hatte
1718 Kant doch recht, als er vorschlug, den Zivilisationsbegriff auf
1719 "Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit" zu beschr„nken,
1720 vermittels welcher der Mensch 'gesellschaftsf„hig' werde - womit er
1721 nat�rlich die 'gute Gesellschaft' meinte (Kant 1968, XII, 707). Eine
1722 solche Eingrenzung h„tte jedenfalls den Vorzug, daá sie uns deutlicher
1723 als Elias die Verg„nglichkeit der Bedingungen vor Augen f�hrte, an die
1724 Zivilisation nun einmal gebunden ist, und sie k”nnte es vielleicht
1725 erm”glichen, die Theorie der Zivilisierung durch die l„ngst
1726 �berf„llige Theorie der Entzivilisierung zu erg„nzen.
\r
1728 \x0f\x02\0\0\x19\x10"Ewig kann sich ohne Ritter keine Ritterlichkeit, ohne Hof keine H”flichkeit, ohne Salon kein Charme, ohne materiellen R�ckhalt
1729 keine R�cksicht halten, auch als bloáe Spiel-Form nicht. - Und ebenso schrumpft in einer Welt, die uns um Muáe und die anderen
1730 \fBedingungen des Privaten betr�gt, die Subtilit„t unseres seelischen Privatlebens" (Anders 1986, 13).
\r
1733 \f\x0f\x02\0\0\x14\x02PAProduktive Disziplin. Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft
\r
1740 \x0f\x02\0\0Suchte man nach einem Gegenbild zu Elias' Panoramagem„lde der modernen
1741 Zivilisation, so w„re dazu kaum etwas geeigneter als das Konzept der
1742 Disziplinargesellschaft, das Michel Foucault in den siebziger Jahren
1743 entwickelt hat. Gewiá ist der Gegensatz nicht absolut. Beide Autoren
1744 interessieren sich f�r Prozesse der Normierung und Regulierung, beide
1745 sehen eine enge Beziehung zwischen Individuierung und Subjektivierung
1746 einerseits, sich verdichtenden Machtverh„ltnissen andererseits.
1747 Foucault bezieht diese Entwicklungen jedoch nicht wie Elias auf ein
1748 Zentrum, und er sieht sie auch nicht aus der Perspektive eines
1749 zunehmenden Souver„nit„tsgewinns der (Welt-) Gesellschaft und des
1750 einzelnen. Die moderne Gesellschaft gilt ihm als polyzentrisches
1751 Geflecht von Disziplinarapparaten und die Individuierung als
1752 Manifestation der Macht. Anstelle der Vision einer friedlichen
1753 Kooperation steht bei ihm die eines 'verallgemeinerten Krieges' (1978,
1754 40)16 , anstelle der Aufhebung willk�rlicher Macht deren Verfestigung
1755 zu 'Herrschaftszust„nden' (1985, 11). "Die Menschheit", so Foucaults
1756 nietzscheanisches Credo, "schreitet nicht langsam von Kampf zu Kampf
1757 bis zu einer universellen Gegenseitigkeit fort, worin die Regeln sich
1758 f�r immer dem Krieg substituieren; sie verankert alle ihre
1759 Gewaltsamkeiten in Regelsystemen und bewegt sich von Herrschaft zu
1760 Herrschaft" (1974, 95).
\r
1762 \x0f\x02\0\0Die Literaturflut, die diese Theorie ausgel”st hat, ist schon l„ngst
1763 nicht mehr zu �berblicken. Vieles davon ist Einf�hrung oder Paraphrase
1764 und wird so schnell vergessen werden, wie es geschrieben wurde17 .
1765 Doch hat Foucault inzwischen auch ernstzunehmende Gespr„chspartner
1766 gefunden, die so schwerwiegende Einw„nde gegen seinen Entwurf
1767 formuliert haben, daá sich dessen einfache Fortschreibung oder
1768 Kanonisierung verbietet. Ich werde zun„chst Foucaults Grundgedanken
1769 knapp skizzieren, danach die wichtigsten Gegenargumente pr„sentieren
1770 und anschlieáend er”rtern, inwieweit die Theorie der
1771 Disziplinargesellschaft noch zu halten ist.
\r
1778 \x0f\x02\0\0\x0f\x03\0\0I
\r
1781 \x0f\x02\0\0Im Unterschied zur Analyse des Zivilisationsprozesses spricht die
1782 Genealogie der Disziplin religi”sen Faktoren ein erhebliches Gewicht
1783 zu. Schon der vorchristliche, vor allem aber der christliche Orient
1784 habe einen spezifischen, pastoralen Machttypus entworfen, dessen Pole
1785 die Herde und der dieselbe zusammenhaltende Hirt oder Sch„fer seien;
1786 diese Pastoralmacht habe sich dann vom 2. Jh. an ununterbrochen
1787 verfeinert und sich mit der politischen Macht assoziiert, wodurch zwei
1788 verschiedene Machttechniken miteinander verbunden worden seien: das
1789 kirchliche Gest„ndnis- und Beichtritual und die Formulierung und
1790 Vollstreckung des Gesetzes (1982, 17ff.). Aus dieser Kombination, die
1791 \fzum erstenmal im Inquisitionsprozeá praktische Gestalt angenommen
1792 habe, sei jene doppelte Bedeutung von 'Subjektivierung' entsprungen,
1793 die seither das Abendland bestimmt habe: Subjektivierung im Sinne
1794 einer Unterwerfung unter Kontrolle und Abh„ngigkeit und
1795 Subjektivierung im Sinne einer Bindung an die eigene Identit„t qua
1796 Bewuátsein und Selbsterkenntnis (1987, 247f.)
\r
1798 \x0f\x02\0\0Foucault widmet dieser Vorlaufphase der Disziplinargesellschaft indes
1799 nur geringe Aufmerksamkeit. Weitaus intensiver befaát er sich dagegen
1800 mit dem eigentlichen Formierungsstadium, das er auf das 17. und 18.
1801 Jh. datiert. Zwar dominiert zu diesem Zeitpunkt mit der absoluten
1802 Monarchie noch eine Form der Macht, "die wesentlich an der Absch”pfung
1803 und am Tode orientiert war" (1977, 110) - eine Form, die sich
1804 verfassungsrechtlich in der Souver„nit„t und der ihr
1805 korrespondierenden Gesetzgebungskompetenz manifestiert, und die
1806 strafrechtlich in den Riten und Marterzeremonien der
1807 'Abschreckungsmacht' erscheint. Zur gleichen Zeit aber bereitet sich
1808 gesamtgesellschaftlich ein Umbruch vor, in dessen Verlauf auch die
1809 Macht eine tiefgreifende Transformation erf„hrt. Am Beispiel der
1810 b„uerlichen Delinquenz zeigt Foucault, daá das klassische Zeitalter
1811 der Schauplatz neuer Formen der Gesetzwidrigkeit ist, die sich nicht
1812 mehr prim„r gegen die Rechte des Adels oder des K”nigs richten,
1813 sondern gegen G�ter; ein Wandel, mit dem die Bev”lkerung auf neue
1814 Formen der Kapitalakkumulation, der Produktionsverh„ltnisse, der
1815 Aneignungsstrukturen reagiert. Mit dem Anwachsen kapitalistischer
1816 Produktionsapparate und dem demographischen Wachstumsschub des 18.
1817 Jhs. verbreitern und vervielfachen sich die Konfliktlinien und lassen
1818 dadurch die klassische, auf der Veranstaltung exemplarischer
1819 Straffeste beruhende Souver„nit„ts- und Abschreckungsmacht zunehmend
1820 unwirksam werden (1976, 110, 280).
\r
1822 \x0f\x02\0\0Eben diese Umbruchphase, in der die Gesellschaft gleichsam aus dem
1823 engen Rahmen herausw„chst, in den sie durch die Institutionen der
1824 Monarchie gebannt war, ist die Zeit, in der neue Verfahren und
1825 Mechanismen der Macht auf den Plan treten; Verfahren, "die nicht mit
1826 dem Recht, sondern mit der Technik arbeiten, nicht mit dem Gesetz,
1827 sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der
1828 Kontrolle, und die sich auf Ebenen und in Formen vollziehen, die �ber
1829 den Staat und seine Apparate hinausgehen" (1977, 110f.). Welche
1830 Verfahren sind hier gemeint?
\r
1832 \x0f\x02\0\0Um zun„chst beim Beispiel der Strafjustiz zu bleiben: Noch unter dem
1833 Ancien R‚gime beginnen sich Forderungen der Aufkl„rer nach
1834 Humanisierung des Strafrechts und ™konomisierung der Strafgewalt in
1835 einer Reihe von Reformen geltend zu machen, die die Ersetzung der
1836 alten '™konomie der Verausgabung und des Exzesses' durch eine
1837 '™konomie der Kontinuit„t und der Dauer' erm”glichen. W„hrend die
1838 absolutistische Souver„nit„ts-Macht mit ihrer Sprunghaftigkeit und
1839 Regellosigkeit sowie der Weitmaschigkeit ihres Kontrollnetzes den
1840 Gesetzwidrigkeiten der Untertanen weiten Raum lieá, bem�hen sich die
1841 Justizaufkl„rer darum, durch Milderung der Strafen, sorgf„ltigere
1842 Kodifizierung und Rationalisierung der Gewaltaus�bung die Basis f�r
1843 einen neuen gesamtgesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der
1844 Strafgewalt zu schaffen, um eine wirksamere Verteidigung gegen einen
1845 Gegner zu erm”glichen, "der jetzt raffinierter, aber auch verbreiteter
1846 im gesellschaftlichen K”rper ist". Indem sie die Willk�r des Souver„ns
1847 anprangert, bereitet die Aufkl„rung zugleich den Boden f�r ein neues,
1848 perfekteres System der sozialen Kontrolle. Richter und Ankl„ger,
1849 \fVerteidiger und Angeklagte werden in ein diskursives Gef�ge
1850 eingeschlossen, dessen Sinn nicht in der schreckenerregenden
1851 Wiederherstellung der Souver„nit„t, sondern in der
1852 Wiederinkraftsetzung des Strafgesetzbuches bestehen soll (1976, 113,
1855 \x0f\x02\0\0Dieser Prozeá der Diskursivierung, f�r den Foucault eine exakte
1856 Definition schuldig bleibt, meint im wesentlichen folgendes: Auf der
1857 einen Seite haben wir es mit einer Kodifizierung und Rationalisierung
1858 zu tun, die den Untertanen zweifellos neue Sicherheiten bringt. Die
1859 Macht wird an Regeln gebunden, das Individuum als Rechtssubjekt
1860 anerkannt, die Strafe in ein Mittel verwandelt, das die
1861 Rechtssubjektivit„t wiederherstellen soll. Auf der anderen Seite aber
1862 wird gerade dadurch eine „uáerste Verfeinerung und Vervollkommnung der
1863 Unterwerfung erm”glicht. Der Kodifizierung entspricht eine zunehmende
1864 Individualisierung der Strafen und eine Objektivierung von Verbrechen
1865 und Verbrecher. Das Rechtssubjekt wird Gegenstand einer
1866 klassifizierenden und vergegenst„ndlichenden Betrachtungsweise, die
1867 den einzelnen in ein komplexes Tableau justiziabler Eigenschaften und
1868 Tatbest„nde einordnet. Er wird gepr�ft, beurteilt, registriert, so daá
1869 jede seiner Eigenschaften mittels einer Reihe von Codes und deren
1870 Korrelierung dokumentierbar wird. Durch die vielf„ltigen Praktiken der
1871 šberwachung und Kontrolle, der Einstufung und der Zuordnung bildet
1872 sich, was Foucault als die andere, "dunkle" Seite des Rechtssubjekts
1873 bezeichnet: das "Disziplinarindividuum", das von den neuen
1874 Machttechniken fabriziert wird (1976, 396).
\r
1876 \x0f\x02\0\0Die Diskursivierung/Unterwerfung beschr„nkt sich nicht auf die
1877 Strafjustiz. Foucault sp�rt sie auf in der neuen Einstellung der
1878 Gesellschaft gegen�ber dem Wahnsinn, welcher ausgegrenzt, interniert
1879 und in eine Form der Geisteskrankheit verwandelt wird, mit der die
1880 Gesellschaft nur noch �ber das abstrakte Medium der Psychiatrie
1881 kommuniziert. Er entdeckt sie in der explosionsartigen Vermehrung der
1882 Diskurse �ber Sexualit„t, die zur Bildung eines gigantischen Registers
1883 der L�ste und Perversionen f�hrt. Er lokalisiert sie im „rztlichen
1884 Blick und in der wissenschaftlichen Kontrolle der Krankheiten und
1885 Infektionen, in der administrativen Kontrolle der Heilmittel, der
1886 Todesf„lle und Geburten, der Verstellungen und Abwesenheiten,
1887 schlieálich in der milit„rischen Kontrolle der Deserteure, der
1888 fiskalischen Kontrolle der Waren, der ”konomischen Planung der
1889 Produktionsabl„ufe. In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens
1890 ist das klassische Zeitalter der Schauplatz einer unerh”rten
1891 Verdichtung der Diskurse und Identifikationsmechanismen, die allesamt
1892 nur das eine Ziel haben: die Herstellung des durchschaubaren und damit
1893 kontrollierbaren Individuums. "Die 'Aufkl„rung', welche die Freiheiten
1894 entdeckt hat", schreibt Foucault, "hat auch die Disziplinen erfunden"
1897 \x0f\x02\0\0Diese neue Form der Disziplinarmacht darf nach Foucault indes nicht zu
1898 eng aufgefaát werden. Sie darf, erstens, nicht allein auf die
1899 Implementierung eines bestimmten Diskurstyps reduziert werden, denn
1900 sie hat auch nicht-diskursive Wurzeln: Etwa die Mechanismen, die in
1901 den Kl”stern und Kasernen, Manufakturen und Spit„lern, Kollegs und
1902 Internaten entwickelt wurden. Sie darf, zweitens, nicht als Effekt
1903 eines Zentrums, einer gesellschaftlichen Zentralinstanz oder einer
1904 herrschenden Klasse, begriffen werden, da hiermit ihre pluraler,
1905 multipler Charakter verfehlt w�rde: die Disziplinargesellschaft ist
1906 nicht das Ergebnis einer, sondern zahlreicher Projektionen - der
1907 \fProjektion milit„rischer Methoden auf die Industrie; der
1908 maschinenf”rmigen Funktionsweise auf die lebendige Arbeit; der
1909 Gef„ngnisdisziplin auf die Gesellschaft (1976, 284). Und sie darf,
1910 drittens, auch nicht als bloáes Verh„ltnis der Repression verstanden
1911 werden, wie dies in der Logik des b�rgerlichen Legalismus oder der
1912 marxistischen Auffassung liegt. Die Disziplinarmacht, sagt Foucault,
1913 setzt zwar Unterwerfung voraus, sie parzelliert die Individuen,
1914 klassifiziert sie und f�gt sie in eine hierarchische Ordnung ein, die
1915 durch pr„zise Befehlssysteme strukturiert ist. Sie ersch”pft sich
1916 jedoch nicht darin, sondern produziert ihrerseits Individuen, die der
1917 von ihr geschaffenen Ordnung gem„á sind. "Man muá aufh”ren, die
1918 Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur
1919 'ausschlieáen', 'unterdr�cken', 'verdr„ngen', 'zensieren',
1920 'abstrahieren', 'maskieren', 'verschleiern' w�rde. In Wirklichkeit ist
1921 die Macht produktiv; und sie produziert Gegenstandsbereiche und
1922 Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse
1923 dieser Produktion" (1976, 250).
\r
1925 \x0f\x02\0\0In „uáerster Verdichtung erscheint diese produktive Dimension der
1926 Macht in der modernen Form des Gef„ngnisses, wie sie seit 1830 unter
1927 dem Einfluá von Benthams 'Panopticon' (1787) Gestalt gewinnt. Als eine
1928 Institution, deren Aufgabe sich keineswegs darauf beschr„nkt, den
1929 Freiheitsentzug zu organisieren, vielmehr von Anfang an darin besteht,
1930 "Transformationen an den Individuen vorzunehmen" (1976, 317),
1931 verk”rpert das Gef„ngnis gleichsam die Elementarform der
1932 Disziplinargesellschaft, „hnlich wie f�r Marx die Ware als
1933 Elementarform der b�rgerlichen Gesellschaft fungiert. Das Gef„ngnis
1934 ist zugleich Kaserne und Schule, Werkstatt und Spital; es unterdr�ckt
1935 die gesellschaftlich unerw�nschten Eigenschaften und modelliert die
1936 erw�nschten. Sein Produkt sind Individuen, "die nach den allgemeinen
1937 Normen einer industriellen Gesellschaft mechanisiert sind" (1976,
1938 310). Als ein vollkommener Disziplinarapparat erfaát es s„mtliche
1939 Aspekte des Individuums: seine physische Erscheinung wie seine
1940 moralische Einstellung, seine Arbeitsneigung wie sein
1941 Alltagsverhalten; und alle diese Manifestationen werden nicht nur
1942 kontrolliert und reglementiert, sondern von Grund auf reformiert, bis
1943 sie den geltenden Standards entsprechen. Das 'Kerkersystem', das
1944 Foucault zufolge um 1840, dem Er”ffnungsjahr der Jugendstrafanstalt
1945 von Mettray, vollst„ndig ausgebildet ist, enth„lt in geb�ndelter und
1946 konzentrierter Form all jene Mechanismen der Normalisierung und
1947 Disziplinierung, die seither zu Strukturmerkmalen der
1948 Disziplinargesellschaft geworden sind.
\r
1950 \x0f\x02\0\0Deren Formierung ersch”pft sich damit letzlich in einer Bewegung der
1951 Ausdehnung und Erweiterung: vom 'Kerker-System' der Gef„ngnisse und
1952 geschlossenen Anstalten zu dem, was Foucault den 'Kerker-Archipel'
1953 bzw. das 'groáe Kerker-Kontinuum' nennt (1976, 382f.). Vermittelt �ber
1954 zahlreiche St�tzpunkte - die Waisenh„user, die Asyle f�r 'gefallene
1955 M„dchen', die Lehrlingsheime, die korrespondierenden Einrichtungen wie
1956 Wohlfahrtsgesellschaften, Sittlichkeitsvereine, Arbeitersiedlungen und
1957 Wohnheime - breitet sich das panoptische Schema �ber die gesamte
1958 Gesellschaft aus und �berzieht alle sozialen Bereiche mit dem groáen
1959 Kerker-Netz, dessen prim„re Funktion in einer alles umfassenden
1960 Normierung besteht. Dies sicher nicht ohne Widerstand. Wo Macht ist,
1961 sagt Foucault, ist auch Widerstand, und er f�gt hinzu: wenn es
1962 Machtbeziehungen gibt, so �berhaupt nur deshalb, weil es Freiheit
1963 gibt, (1977, 116; 1985, 2O). Aber dieser Widerstand ist keine Mauer,
1964 kein Block, der der Disziplinierung Grenzen setzt; er ist selbst eine
1965 \fManifestation von Macht, eine Art Antik”rper, der die Disziplinarmacht
1966 attackiert und zu Mutationen und Metamorphosen n”tigt. Um die
1967 Widerst„nde zu �berwinden, geht die Disziplin von dem starren,
1968 statischen Tableau des klassischen Zeitalters zu neuen, flexibleren
1969 Formen der Regulierung �ber, deren Hauptziel in einer Steigerung der
1970 Funktionen liegt; und dieses Ziel wird zunehmend nicht nur mittels der
1971 rigiden Anpassung der Individuen an die Norm erreicht, sondern
1972 ebensosehr durch Anpassung der Norm an die individuellen Bedingungen
1973 durch die Verfahren der modernen Humanwissenschaften:
\r
1975 \x0f\x02\0\0\x19\x10"In den Humanwissenschaften erst erreicht die Dynamik der Transformationen von Rationalit„tsstrukturen, Machtmechanismen und
1976 Beziehungen ihre Vollendung: Diese verl„uft von der Teilung der Welt zur Herstellung der Welt; diese wiederum vom Traum einer
1977 mechanischen Imitation der Welt (durch Gesetze) zu dem einer Erzeugung von Organismen, von der Objektivierung der Welt auf
1978 die Individuierung der Menschen. Der Akzent der Individuierung selbst wird dabei von der objektivierenden Kontrolle der Einzelnen
1979 zur subjektivierenden Selbststeuerung und zur Manipulation von Gruppen verlagert. Der Ver„nderung der Gegenstandsbereiche
1980 entspricht die der Machttechniken, die Entwicklung von der Gewaltrationalit„t zur Testwissenschaft" (Dauk 1989, 131).
\r
1982 \x0f\x02\0\0Disziplin heute: das ist f�r Foucault nicht mehr die einseitige
1983 Subsumtion der Gesellschaft oder eines Teils derselben unter ein vorab
1984 feststehendes Schema, sondern weit eher der Zirkel von Manipulation
1985 und r�ckwirkendem Bed�rfnis, wie ihn Horkheimer und Adorno in der
1986 'Dialektik der Aufkl„rung' entfalten. Foucault hat von der Dialektik,
1987 insbesondere von Hegel, nicht viel gehalten (K�nzel 1985). Seine These
1988 indes, daá in der Geschichte der Disziplinierung ein Wechsel von
1989 subsumtionslogischen Praktiken zu netzf”rmigen und zirkul„ren
1990 Strukturen zu beobachten ist, vollzieht in etwas roheren Begriffen den
1991 šbergang von der Transzendentalit„t zur Totalit„t, wie ihn Hegel
1992 gegen�ber Kant, wenn auch unter ganz anderen Voraussetzungen,
1993 vollzogen hat. Wie wir sehen werden, r�hren die Schw„chen der Theorie
1994 der Disziplinargesellschaft zu einem nicht geringen Teil aus der
1995 Weigerung Foucaults, daraus die n”tigen kategorialen Konsequenzen zu
2003 \x0f\x02\0\0\x0f\x03\0\0\x18\x01II
\x18\x01\r
2006 \x0f\x02\0\0Bevor ich auf die Einw„nde zu sprechen komme, die dieses Konzept
2007 hervorgerufen hat, empfiehlt es sich, noch f�r einen Augenblick bei
2008 den Beziehungen zu verweilen, die sich zu „hnlich gelagerten
2009 Bestrebungen in der modernen Soziologie ergeben. Foucaults Analyse
2010 erinnert an manchen Stellen an Max Weber, der in der Disziplin eine
2011 Schl�sselkategorie der modernen Gesellschaft gesehen hatte - der
2012 b�rokratischen Amtsdisziplin, der Parteidisziplin, der Disziplin des
2013 Massenheeres, der Arbeitsdisziplin und nicht zuletzt der religi”sen
2014 Disziplin der 'methodischen Lebensf�hrung'. Sie weist, etwa in der
2015 Behandlung der Manufaktur, Ber�hrungspunkte zu Marx auf, ferner zu
2016 Elias, zu Oestreichs Theorie der 'Sozialdisziplinierung' und nicht
2017 zuletzt zum kritischen Marxismus von Luk cs bis Adorno, dessen
2018 Zentralthema die Beziehung zwischen Warenform, Rationalisierung und
2019 Disziplinierung war18.
\r
2021 \x0f\x02\0\0Foucault bezieht sich indes auf keines dieser Vorbilder positiv -
2022 teils schlicht aus Unkenntnis, wie er selbstkritisch mit Bezug auf die
2023 \fKritische Theorie gesteht (1983), teils in bewuáter Abgrenzung von
2024 einer Diskurstradition, die ihm allzusehr von der Obsession einer
2025 'globalen Geschichte' geschlagen zu sein scheint, d.h. dem
2026 Unterfangen, den Gesamtzusammenhang einer Epoche oder einer
2027 Gesellschaft aus einer zentralen Struktur abzuleiten. Nach seiner
2028 šberzeugung ist die Annahme, daá sich innerhalb einer Gesellschaft ein
2029 System homogener Beziehungen feststellen l„át, ein Netz von
2030 Kausalit„ten, das eine Zur�ckf�hrung der verschiedenen Elemente auf
2031 ein verborgenes Zentrum gestatte, pure Ideologie, eine Illusion, in
2032 der sich der 'transzendentale Narziámus' des abendl„ndischen Denkens
2033 spiegelt: der Glaube an die Stifterfunktion eines souver„nen Subjekts
2034 und an die Garantie, "daá alles, was ihm entgangen ist, ihm
2035 wiedergegeben werden kann" (1973, 23). So stark ist Foucaults
2036 antithetische Fixierung auf diesen Subjektivismus, daá er die
2037 M”glichkeit einer nichtsubjektivistischen, um eine Theorie der
2038 gesellschaftlichen Synthesis zentrierten 'globalen Geschichte', wie
2039 sie in den oben erw„hnten Arbeiten durchaus angelegt ist, an keiner
2040 Stelle in Erw„gung zieht.
\r
2042 \x0f\x02\0\0Die dadurch entstandene L�cke sucht Foucault mit dem Begriff der Macht
2043 zu f�llen. Macht, im Nietzscheschen Sinne eines lebensphilosophisch-
2044 ontologisch verstandenen 'Willens zur Macht', avanciert f�r ihn zum
2045 Universalschl�ssel f�r alle gesellschaftlichen und geistigen
2046 Ph„nomene. Auf ihr beruhen die Beziehungen zwischen den Geschlechtern
2047 ebenso wie die zwischen den Generationen, die Beziehungen innerhalb
2048 einer Institution wie die zwischen Institutionen im ganzen, die
2049 Beziehungen zwischen Individuen wie die zwischen Gruppen und Klassen.
2050 Das Individuum selbst ist, wie gezeigt, ein Produkt der Macht, "eine
2051 Form der Individuation der Disziplin" (1982, 3). Das gleiche gilt f�r
2052 die modernen, um das Individuum zentrierten Diskurse der
2053 Humanwissenschaften, wie f�r den wissenschaftlichen Diskurs
2054 schlechthin. Man m�sse, so verk�ndet Foucault, einer Denktradition
2055 entsagen, derzufolge es Wissen nur dort geben k”nne, wo die
2056 Machtverh„ltnisse suspendiert seien. "Eher ist wohl anzunehmen, daá
2057 die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloá f”rdert, anwendet,
2058 ausnutzt); daá Macht und Wissen einander unmittelbar einschlieáen; daá
2059 es keine Machtbeziehungen gibt, ohne daá sich ein entsprechendes
2060 Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig
2061 Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert" (1976, 39). Wie in der
2062 idealistischen Philosophie und ihren sp„tromantischen Wurmforts„tzen
2063 die ganze Welt als Geist oder Wille gedacht wird, so enth�llt sich
2064 auch bei Foucault das Sein als Manifestation eines einzigen Prinzips,
2065 das in unterschiedlichen Aggregatzust„nden auftritt: in reiner,
2066 bewegter Form als "immerw„hrende Schlacht", als Strom von Kr„ften und
2067 Gegenkr„ften; und in erstarrter, blockierter Form, in der sich die
2068 Macht zur 'Herrschaft' verfestigt hat (ebd. 38; 1985, 11). Man f�hlt
2069 sich an die Metaphysik Heraklits erinnert - freilich an eine Version,
2070 in der der Logos nicht l„nger Harmonie stiftet, sondern selbst zu
2071 einer Funktion des Kampfes geworden ist.
\r
2073 \x0f\x02\0\0Mit dieser Fundierung in einer Metaphysik der Macht hat Foucault sein
2074 Konzept der Disziplinargesellschaft angreifbar gemacht. Die Kritik
2075 richtet sich vor allem gegen den Reduktionismus, der dieses Konzept
2076 durchzieht. Die Machttheorie, lautet ein erster Einwand, l”se die
2077 eigensinnige Entwicklungslogik rechtlicher und moralischer Normen in
2078 die blindzuf„llige Evolution von Gewaltverh„ltnissen auf und �bergehe
2079 damit "die unverkennbaren Gewinne an Liberalit„t und
2080 Rechtssicherheit", die doch nicht zuletzt auf straf- und
2081 \fstrafprozeárechtlichem Gebiet evident seien19. Sie reduziere, so der
2082 zweite Einwand, die komplexen Vorg„nge der Sozialisation und
2083 Individuation in behavioristischer Manier auf eine Folge von
2084 unentwegten Konditionierungen und setze Individualit„t zu einer "durch
2085 Auáenreize produzierte(n), mit beliebig manipulierbaren
2086 Vorstellungsinhalten belegte(n) Innenwelt" herab; damit werde der
2087 Gewinn an Freiheit und Ausdrucksm”glichkeit verspielt, den die
2088 "Etablierung und Verinnerlichung der subjektiven Natur" gebracht habe
2089 (Honneth 1985, 210; Habermas 1985, 337, 342; Turner 1987, 233, 238).
2090 Ein dritter Einwand zielt auf die machttheoretische Aufl”sung der
2091 Geltungsproblematik. Foucault, so Honneth, stelle sich nicht der
2092 Frage, wie denn die bloá unter dem Gesichtspunkt sozialer
2093 Machtgewinnung entwickelten Diskurse in ganz anderen
2094 Handlungskontexten, etwa dem der technischen Beherrschung von
2095 Naturprozessen, von Erfolg gekr”nt sein k”nnten 20. Daá die
2096 vollst„ndige Leugnung universalistischer Geltungsanspr�che im Ergebnis
2097 auf ein "relativistisches Selbstdementi" auch der Machttheorie
2098 hinauslaufe, hat Habermas in einer scharfsinnigen Argumentation
2099 dargelegt (Habermas 1985, 327; Fink-Eitel 1980, 67f.; Bambach 1984;
2100 Taylor 1984). Weder f�r die Eigenart normativer noch f�r diejenige
2101 kognitiver Mechanismen, so l„át sich die Kritik res�mieren, hat die
2102 Machttheorie einen angemessenen Raum. Sie ist deshalb ungeeignet, die
2103 Komplexit„t moderner Gesellschaften zu erfassen.
\r
2105 \x0f\x02\0\0Diese Einw„nde sind schlagend. Um von den zuletzt genannten kognitiven
2106 Mechanismen zuerst zu sprechen, so ist Foucault zwar zuzugeben, daá
2107 eine ganze Reihe von Diskursen in der fr�hen Neuzeit mit politischen
2108 Vorzeichen ins Dasein tritt und somit durchaus einer
2109 machttheoretischen Interpretation entgegenkommt. Es gibt in der Tat
2110 eine politische Anatomie und eine politische Technologie, wie ja auch
2111 bekanntlich die ™konomie sich zun„chst als politische ™konomie
2112 begreift und offen die enge Verzahnung von Herrschaftsinteressen und
2113 Wirtschaftsordnung einbekennt. Alle diese Diskursformationen
2114 verweisen, wie unschwer zu sehen ist, auf die Intensivierung der
2115 politischen Rationalisierung, welche durch die Entstehung eines
2116 europ„ischen Staaten- und Weltsystems seit dem 16. Jh. ausgel”st wurde
2117 und namentlich in einigen kontinental-europ„ischen L„ndern zu einer
2118 weitreichenden Militarisierung und B�rokratisierung f�hrte, aus der
2119 der well-ordered police state des 17. und 18. Jhs. mit seiner Politik
2120 der Sozialdisziplinierung hervorging (Raeff 1983; Rassem 1983; Schulze
2123 \x0f\x02\0\0Soweit Foucault diese durch die Konkurrenz der fr�hmodernen Staaten
2124 vermittelte politische Rationalisierung und deren Ausgreifen auf die
2125 unterschiedlichsten Lebensbereiche beschreibt, ist ihm nicht zu
2126 widersprechen. Die Machttheorie zielt indes dar�ber hinaus und setzt
2127 sich dadurch der Kritik aus. Wenn es n„mlich einen herausragenden Zug
2128 in der Entwicklung seit dem 19. Jh. gibt, dann den, daá sowohl die
2129 Gesellschaft als auch die Wissenschaft immer weniger durch ihr
2130 politisches Vorzeichen bestimmt sind und sich stattdessen in Formen
2131 abstrakt und anonym gewordener Verh„ltnisse realisieren, die sich mit
2132 dem Begriff der Macht nur mehr um den Preis einer Contradictio in
2133 adiecto bezeichnen lassen. Die unterschiedslose Subsumtion der
2134 politisch strukturierten Gesellschaft des Ancien R‚gime und der
2135 modernen kapitalistischen Gesellschaft unter einen Begriff der Macht,
2136 der von Foucault selbst als "Fortsetzung des Krieges mit anderen
2137 Mitteln", als eine Form "kriegerischer Herrschaft " und als
2138 "verallgemeinerter Krieg" (1978, 71, 40; 1976, 38, 217) definiert
2139 \fwird, verdeckt die grundlegende Tatsache, daá die heutige Welt, wie
2140 Marx es ausgedr�ckt hat, eine Welt der
\x18\x02sachlichen
\x18\x02
2141 Abh„ngigkeitsverh„ltnisse im Gegensatz zu den
\x18\x02pers”nlichen
\x18\x02 ist, eine
2142 Welt, in der die Individuen "von
\x18\x02Abstraktionen
\x18\x02 beherrscht werden,
2143 w„hrend sie fr�her voneinander abhingen" (Marx 1974, 81f.).
\r
2145 \x0f\x02\0\0Dieser Satz gilt f�r den Funktionszusammenhang der kapitalistischen
2146 Gesellschaft, der sich nach Marx bekanntlich so sehr anonymisiert, daá
2147 selbst der Kapitalist im Zuge der Entwicklung zum Aktienkapital als
2148 �berfl�ssige Person aus dem Produktionsprozeá verschwindet. Er gilt in
2149 noch eminenterem Sinne f�r Wissenschaft und Technik, die mit
2150 Willenskategorien nicht mehr begriffen werden k”nnen. Wissenschaft und
2151 Technik gehorchen keinem einzigen der Kriterien, die Foucault f�r die
2152 Macht anf�hrt. Sie sind weder relational noch intentional, noch
2153 partikular-interessengebunden, noch milit„risch-kriegerisch, obwohl
2154 ihnen diese Dimensionen sekund„r durchaus zukommen k”nnen. Ihre
2155 Kriterien sind ausnahmslose Geltung (solange keine Falsifizierung
2156 vorliegt), absolute Notwendigkeit, durchgehende rationale
2157 Gesetzm„áigkeit und Autonomie im Sinne der Kontrolle �ber ihre
2158 Voraussetzungen. Wissenschaft und Technik sind keine Funktion der
2159 Macht, sie ersetzen vielmehr das Gef�ge wechselnder
2160 Willensverh„ltnisse durch ein System, das selbstreferentiell und
2161 'autopoietisch' (Luhmann) prozediert, d.h. nur solche Elemente
2162 verwendet, die innerhalb des Systems selbst konstituiert werden. Ein
2163 solches Verst„ndnis schlieát nicht aus, die Autopoiesis von
2164 Wissenschaft und Technik ihrerseits als gesellschaftlich produziert
2165 und durch die herrschende gesellschaftliche Struktur vermittelt zu
2166 begreifen; wohl aber, sie wie Foucault auf ein bloáes Machtspiel zu
2169 \x0f\x02\0\0Als in gleicher Weise inad„quat erweist sich die Machttheorie im
2170 Hinblick auf normative Mechanismen. Zwar fehlt der Begriff der 'Norm'
2171 durchaus nicht in Foucaults Arbeiten, wie dies ja auch bei
2172 Untersuchungen, die mit dem Strafsystem zu tun haben, kaum zu
2173 vermeiden ist. Wie Canguilhem jedoch, auf dessen Vorarbeiten er sich
2174 explizit beruft, versteht Foucault diesen Begriff ausschlieálich im
2175 Sinne der modernen Industrienormen, als ein Richtmaá, das dazu dient,
2176 "einem Daseienden, Gegebenen eine Forderung aufzuzwingen, von der aus
2177 sich Vielfalt und Disparatheit dieses Gegebenen als ein nicht bloá
2178 fremdes, sondern feindliches Unbestimmtes darstellen" (Canguilhem
2179 1977, 163). Die Macht der Norm kommt nach diesem Verst„ndnis vor allem
2180 in der Disziplin zum Ausdruck, in den verschiedenen Techniken der
2181 Normierung und Normalisierung, die die Individuen einem System
2182 zwanghaft fixierter Verhaltensschemata unterwerfen und dadurch
2183 Stabilit„t und Homogenit„t des Herrschaftsgef�ges sichern.
2184 "Disziplinarische Normalisierung", sagt Foucault, "ist der Entwurf
2185 eines optimalen Modelles, die Operation der Disziplin besteht darin,
2186 die Leute an dieses Modell anzupassen" (1982, 8).
\r
2188 \x0f\x02\0\0Es ist unstrittig, daá dieses Konzept eine Vielzahl von Praktiken
2189 einf„ngt, die in den herk”mmlichen Ideen- und Rechtsgeschichten
2190 notorisch unterbelichtet bleiben; der Stellenwert, der ihnen in einer
2191 nichtreduktionistischen Theorie der Rationalisierung zukommt, wird
2192 noch zu er”rtern sein. Nicht weniger evident ist indes, daá es nur
2193 einen Ausschnitt aus jenem breiten Spektrum von Formierungs- und
2194 Kontrollmechanismen erfaát, wie es lange vor Foucault eindrucksvoll
2195 von Kant skizziert worden ist. In seiner Vorlesung �ber P„dagogik
2196 (1803), die Foucault bei seiner Arbeit an der šbersetzung der
2197 \f'Anthropologie in pragmatischer Hinsicht' sicher nicht entgangen sein
2198 wird21, schr„nkt Kant die Disziplin auf die Rolle eines bloá negativen
2199 Fundaments ein: Fundament, weil die Disziplin oder Zucht die Tierheit
2200 in die Menschheit umwandle und verh�te, daá die Individuen durch ihre
2201 animalischen Antriebe von ihrer menschlichen Bestimmung abgelenkt
2202 w�rden; nur negativ, weil die Disziplin bloá Fehler verhindere, ohne
2203 selbst eigene positive Ziele geben zu k”nnen. Neben dieser 'bloá
2204 physischen' Erziehung durch Disziplinierung kennt Kant die praktische
2205 Erziehung, die sich ihm als ein B�ndel komplexer, neben dem „uáeren
2206 Verhalten zunehmend auch das Innere erfassender Strategien darstellt:
2207 als
\x18\x02Kultivierung
\x18\x02, die die n”tigen Fertigkeiten und Geschicklichkeiten
2208 vermittelt; als
\x18\x02Zivilisierung
\x18\x02, die die f�r den gesellschaftlichen
2209 Verkehr unentbehrlichen Formen der Affektmodellierung und
2210 Triebkontrolle bereitstellt; und als
\x18\x02Moralisierung
\x18\x02, die auf die
2211 Unterwerfung der je subjektiven Zwecke und Motive unter
2212 gesellschaftliche, d.h. universalistische Prinzipien zielt. "Der
2213 Mensch soll nicht bloá zu allerlei Zwecken geschickt sein, sondern
2214 auch die Gesinnung bekommen, daá er nur lauter gute Zwecke erw„hle.
2215 Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann
2216 gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein
2217 k”nnen" (Kant 1968, XII, 707).
\r
2219 \x0f\x02\0\0Gewiá l„át sich heute an Kants P„dagogik nicht mehr umstandslos
2220 anschlieáen: einmal, weil die Ethik, auf der sie beruht, die
2221 Sozialisation in eine abstrakte Gesellschaft zum Telos hat (Adorno, GS
2222 6, 211ff.), dann aber auch, weil der Disziplinbegriff mit seiner
2223 Beschr„nkung auf rein negative Funktionen zu eng ist und Kants eigenen
2224 Darlegungen nicht entspricht: Wenn es nicht nur eine Disziplin des
2225 K”rpers und der Affekte, sondern auch eine Disziplin der reinen
2226 Vernunft gibt, so sind zumindest die Grenzen zwischen Disziplinierung
2227 und Kultivierung (im Sinne einer Ausbildung kognitiver F„higkeiten)
2228 weit durchl„ssiger, als Kant wahrhaben will22. Gegen�ber Foucaults
2229 extensivem Verst„ndnis von Disziplin indes, das auch noch
2230 interaktionsbezogene und normative Mechanismen umfaát, ist Kants
2231 Modell vorzuziehen, weil es die verschiedenen Dimensionen des modernen
2232 Formierungsprozesses klarer differenziert: die nichtdiskursiven
2233 Praktiken f�r die Schaffung gehorsamer und gelehriger K”rper; die
2234 Formung eines methodisch-disziplinierten wissenschaftlichen Verstandes
2235 durch Schulung/Unterweisung, welche freilich auf den nichtdiskursiven
2236 Praktiken des Drills und der Bestrafung aufbaut und sich nicht selten
2237 darin ersch”pft, wie ein Blick in die Geschichte der 'Schwarzen
2238 P„dagogik' lehrt (Rutschky 1977; Stone 1979, 115ff.; de Mause 1980, 66
2239 ff.); die mit dem Begriff der Zivilisierung umschriebene Sublimierung
2240 von Interaktionsanforderungen, die f�r das Leben bei Hofe oder in der
2241 guten Gesellschaft erforderlich war; und jene singul„re, untrennbar
2242 mit dem okzidentalen B�rgertum verbundene Strategie der Moralisierung,
2243 die das Prinzip des 'affektiven Individualismus' (Stone) mit der
2244 Implantation eines 'vorhergehenden Gewissens' verkoppelte (Kittsteiner
2245 1984). Erst diese letztere Strategie vollendet die šberwindung des
2246 Naturzustands, weil allein sie in jene inneren Reservate vorzudringen
2247 vermag, die sowohl der Disziplinierung als auch der Kultivierung und
2248 Zivilisierung als bloá „uáerlichen Konditionierungsweisen unzug„nglich
2249 bleiben. Kant hat daher in der Moralisierung das h”chste und zugleich
2250 am schwersten erreichbare Ziel der Erziehung gesehen:
\r
2252 \x0f\x02\0\0\x19\x10"Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft
\x18\x03kultiviert
\x18\x03. Wir sind
\x18\x03zivilisiert
\x18\x03, bis zum šberl„stigen, zu allerlei gesellschaftlicher
2253 Artigkeit und Anst„ndigkeit. Aber, uns f�r schon
\x18\x03moralisiert
\x18\x03 zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralit„t geh”rt
2254 noch zur Kultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sitten„hnliche in der Ehrliebe und der „uáeren Anst„ndigkeit
2255 \fhinausl„uft, macht bloá die Zivilisierung aus. So lange aber Staaten alle ihre Kr„fte auf ihre eiteln und gewaltsamen
2256 Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bem�hung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer B�rger unaufh”rlich
2257 hemmen, ihnen selbst auch alle Unterst�tzung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange
2258 innere Bearbeitung des gemeinen Wesens zur Bildung seiner B�rger erfordert wird" (Kant 1968, XI, 44f.).
\r
2260 \x0f\x02\0\0Der Vorzug dieses differenzierten Modells gegen�ber Foucaults
2261 pauschalisierender Rede von Normierung/Normalisierung besteht darin,
2262 daá es eine ganze Reihe von Forschungen zu integrieren vermag, von
2263 denen Foucault nur am Rande oder gar nicht Notiz nimmt, obwohl sie
2264 sein Thema unmittelbar ber�hren. Auf dem Gebiet der Disziplinierung
2265 ist hier etwa an die verschiedenen relig”s-ethisch motivierten Formen
2266 der Selbstdisziplin zu denken, wie sie in der fr�hen Neuzeit vom
2267 Neostoizismus oder vom Puritanismus propagiert wurden
2268 (Treiber/Steinert 1980, 90, 104ff.; Leites 1988); auf dem Gebiet der
2269 Kultivierung an die Bedeutung der Alphabetisierung und
2270 Literarisierung, die seit dem 16. Jh. einem stets wachsenden Teil der
2271 Bev”lkerung Zugang zu einem der wichtigsten Machtmittel verschafften,
2272 gleichzeitig aber auch die Basis staatlicher Herrschaft erweiterten
2273 (Schenda 1981; Spittler 1980); auf dem Gebiet der Zivilisierung
2274 nat�rlich an die Arbeiten von Norbert Elias �ber die
2275 Verhaltens„nderungen in den weltlichen Oberschichten des Abendlands,
2276 die zum Vorbild f�r zahlreiche weitere Untersuchungen geworden sind
2277 (Gleichmann 1979, 1984; Krumrey 1984; Schr”ter 1985). Der Prozeá der
2278 Moralisierung endlich ist zu wissenschaftlicher Prominenz
2279 haupts„chlich im Zusammenhang mit den Diskussionen �ber die
2280 protestantische Ethik gelangt, doch war er damit mitnichten zuende: so
2281 hat z.B. Wolfgang Dreáen die šberlegenheit der franz”sischen
2282 Revolutionsarmeen gegen�ber dem Heer friderizianischer Pr„gung mit der
2283 gr”áeren taktischen Beweglichkeit erkl„rt, welche das
2284 Erziehungsprinzip der moralischen Selbstregulierung gegen�ber einer
2285 bloá mechanischen Disziplin gew„hrt (Dreáen 1982, 266f.); ein anderes
2286 Beispiel ist der auff„llige R�ckgang der Verbrechensrate in der Zeit
2287 zwischen ca. 1840 und 1930, der von manchen Autoren mit dem Hinweis
2288 auf jene eigent�mliche Intensivierung des Moralbewuátseins erkl„rt
2289 wird, welche sich an so unterschiedlichen Ph„nomenen wie der aus der
2290 evangelikalen Erweckungsbewegung hervorgegangenen Stadtmissionierung,
2291 den philanthropisch inspirierten Reformen des Sozial- und
2292 Erziehungswesens und der Ausbreitung des Temperenzlertums ablesen
2293 lasse23. Ob diese Hypothese stimmt oder nicht - sie steht immerhin in
2294 Widerspruch zu der von Durkheim anhand der kontr„r verlaufenden
2295 Selbstmordkurve entwickelten Anomiethese -, ist eine Frage, die nur
2296 empirisch entschieden werden kann. Daá sie �berhaupt aufgestellt und
2297 mit plausiblen Argumenten untermauert werden kann, ist allerdings ein
2298 Indiz f�r die Notwendigkeit, den kategorialen Rahmen nicht dadurch von
2299 vornherein einzuschr„nken, daá man Moralisierung auf eine Variante der
2300 Disziplinierung reduziert24.
\r
2302 \x0f\x02\0\0Die Bilanz, die nach dieser ersten kritischen Runde gezogen werden
2303 muá, sieht nicht g�nstig aus. Die Machttheorie, die das Konzept der
2304 Disziplinargesellschaft tragen soll, vermag diese Aufgabe nicht zu
2305 erf�llen. Sie ist reduktionistisch und simplifizierend, sie produziert
2306 Pseudoevidenzen und f�hrt dazu, die Bewegung des Gedankens vorschnell
2307 zu sistieren. Sie pr„sentiert sich als objektive Genealogie und ist
2308 doch in Wahrheit reiner Subjektivismus, der alles, was ist, auf Wille
2309 und Handlung zur�ckf�hrt. Sie verspricht eine neue,
2310 nichttotalisierende Geschichte und totalisiert doch selbst, nur sehr
2311 viel schlechter als etwa Marx oder Hegel, indem sie alle Differenzen
2312 in den allgemeinen Nebel der 'Macht' aufl”st. Auf dieser Grundlage ist
2313 \fdas Projekt einer Theorie der Disziplinargesellschaft undurchf�hrbar.
\r
2320 \x0f\x02\0\0\x0f\x03\0\0III
\r
2323 \x0f\x02\0\0Muá man dieses Projekt damit verabschieden? Der Tenor der Kritik weist
2324 in diese Richtung. Habermas, der sich gleichwohl von Foucaults
2325 Analysen der kapillarischen Wirkungen der Disziplin fasziniert zeigt,
2326 ist vom "Primat der Lebenswelt" gegen�ber den vermachteten und
2327 disziplin„r organisierten Subsystemen der modernen Gesellschaft zu
2328 tief �berzeugt, als daá er mit der Diagnose eines 'Kerker-Kontinuums'
2329 sich anfreunden k”nnte. Eine derartige Charakterisierung erscheint ihm
2330 als unhaltbar, weil sie die Zweideutigkeit des
2331 Modernisierungsprozesses, das Nebeneinander von pathologischen und
2332 emanzipatorischen Z�gen, unterschlage. Žhnlich sieht es Honneth: das
2333 von Foucault entworfene "Zwangsmodell gesellschaftlicher Ordnung", das
2334 im Ergebnis auf verbl�ffende Weise mit Adornos Vision der verwalteten
2335 Welt �bereinstimme, sei unbrauchbar, weil in ihm die "normativen und
2336 kulturellen Orientierungen der vergesellschafteten Subjekte" keinen
2337 Anteil an der sozialen Integration h„tten25.
\r
2339 \x0f\x02\0\0Dennoch ist es gerade dieser Zug, der das Modell der
2340 Disziplinargesellschaft so aktuell macht. Wie realit„tsnah Foucaults
2341 Untersuchungen trotz ihrer theoretischen Schw„chen sind, zeigt sich
2342 nirgends deutlicher als in dem Umstand, daá etwa Habermas in seinen
2343 empirisch gerichteten Gegenwartsdiagnosen dem Konzept der
2344 Disziplinargesellschaft erheblich n„her kommt, als es die theoretisch-
2345 programmatische Distanzierung gestattet. Nicht anders als Foucault
2346 konstatiert auch er eine "Ausdehnung und Verdichtung des monet„r-
2347 b�rokratischen Komplexes", die zu einer Entm„chtigung des
2348 kommunikativen Handelns f�hre; nicht anders als der Theoretiker der
2349 Macht-Wissen-Komplexe registriert auch er das "hypertrophe Wachstum
2350 der mediengesteuerten Subsysteme, welches ein šbergreifen
2351 administrativer und monet„rer Steuerungsmechanismen auf die Lebenswelt
2352 zur Folge hat" (Habermas 1981, 516, 460, 489). Gewiá - Habermas geht
2353 nicht so weit, auch im Individuum ein bloáes Korrelat von
2354 Machttechniken zu sehen. Daá die gesellschaftliche Ordnung der Moderne
2355 aber auf weite Strecken von nichtnormativen Praktiken regiert wird,
2356 r„umt auch er ein: "Indem sich die Subsysteme Wirtschaft und Staat
2357 �ber die Medien Geld und Macht aus einem in den Horizont der
2358 Lebenswelt eingelassenen Institutionensystem ausdifferenzieren,
2359 entstehen formal organisierte Handlungsbereiche, die nicht mehr �ber
2360 den Mechanismus der Verst„ndigung integriert werden, die sich von
2361 lebensweltlichen Kontexten abstoáen und zu einer Art normfreier
2362 Sozialit„t gerinnen" (ebda; 455). Als deskriptiver Begriff ist das
2363 Konzept der Disziplinargesellschaft also offenbar doch nicht v”llig
2364 unbrauchbar; und es gewinnt noch an šberzeugungskraft, wenn man sieht,
2365 wie blaá und leer der von Habermas als Konterkategorie eingef�hrte
2366 Begriff der Lebenswelt letztlich bleibt.
\r
2368 \x0f\x02\0\0Tats„chlich ist das Konzept zu negieren und festzuhalten zugleich. Es
2369 ist zu negieren, soweit es sich zur Totalit„t aufspreizt und sich als
2370 Aussage �ber das Ganze der modernen Gesellschaft pr„sentiert, wie dies
2371 \fin der Redeweise vom "Kerker-Gewebe der Gesellschaft" oder vom
2372 "verallgemeinerte(n) Kerkersystem, das in die Tiefe des
2373 Gesellschaftsk”rpers hineinwirkt" (1976, 392, 390), geschieht. Die
2374 Gesellschaft ist kein Gef„ngnis und die Vernunft nicht die Folter.
2375 Festzuhalten aber ist das Konzept, insofern es das Faktum registriert,
2376 daá die Disziplin den �brigen von Kant herausgearbeiteten
2377 Formierungsmechanismen eindeutig den Rang abgelaufen hat. So entpuppt
2378 sich beispielsweise ein erheblicher Teil der von Elias unter dem Titel
2379 'Zivilisierung' beschriebenen Konditionierungsvorg„nge (etwa des
2380 Sexualverhaltens oder der Reinlichkeitsdressur) bei n„herem Hinsehen
2381 als eine Variante der Disziplinierung, wohingegen die typischen
2382 Manifestationen von Zivilisation (im Sinne z.B. des Raffinements der
2383 Konversation, der Steigerung der Distinktionsf„higkeit oder einfach
2384 des schonenden und taktvollen Umgangs miteinander) ihren sozialen
2385 Tr„ger - die h”fische Aristokratie und das noch halb aristokratische
2386 B�rgertum des 18. und 19. Jhs. - nicht �berlebt haben. Daá h”fische
2387 Interaktionsformen ohne wesentlichen Kontinuit„tsbruch von der
2388 industriellen Gesellschaft �bernommen und zu konstitutiven Merkmalen
2389 bestimmter Nationalcharaktere erhoben worden seien - diese seine
2390 Zentralthese belegt Elias nicht, und sie leuchtet auch nicht ein vor
2391 dem Hintergrund einer Konfiguration, die nicht mehr wie die h”fische
2392 Gesellschaft von einer ™konomie der Verschwendung gepr„gt ist, sondern
2393 von einer '™konomie der Zeit' (Marx), die die Zivilisationskurve des
2394 Essens auf das Niveau von fast food und die der Erotik auf dasjenige
2395 von quickies herabgedr�ckt hat. Wie weiter oben gezeigt, gewinnen denn
2396 auch seit einiger Zeit Theorien an Plausibilit„t, die die Epoche in
2397 geradem Gegensatz zu Elias im Zeichen einer s„kularen Entzivilisierung
2400 \x0f\x02\0\0Ein „hnlicher Wandel zeichnet sich auf dem Gebiet der Moralisierung
2401 ab. Nicht daá moralische Codierungen an Prominenz verl”ren oder keinen
2402 Einfluá auf Interaktionen und Entscheidungen mehr aus�bten. Ganz im
2403 Gegenteil. Der moralische Protest beispielweise (um nur eine der
2404 vielf„ltigen Erscheinungsformen des Moralischen herauszugreifen)
2405 verf�gt heute �ber ein so ausgedehntes Themenreservoir und ein so
2406 breites Rekrutierungsfeld, daá seine Regenerationsf„higkeit auf
2407 l„ngere Zeit gesichert ist. Es gibt immer wieder eine neue Diktatur,
2408 auf die sich pl”tzlich die Aufmerksamkeit richtet, immer wieder eine
2409 neue Dummheit irgendwelcher Exekutiven, an der sich die Flamme der
2410 Emp”rung entz�nden kann. Im Zeitalter des Satellitenfunks w„chst die
2411 Zahl der Ungerechtigkeiten mit den im Einsatz befindlichen
2412 Nachrichtenj„gern und f�hrt dem Dauerprotest immer neue Motive zu.
\r
2414 \x0f\x02\0\0Von der Moralisierung indes, wie sie Kant vor Augen hatte und wie sie
2415 auch der b�rgerlichen P„dagogik des 19. Jhs. vorschwebte, m�ssen diese
2416 Erscheinungsformen strikt getrennt werden. Die b�rgerlich-
2417 protestantische Moralisierung zielte auf Formung des Ungeformten, auf
2418 Domestizierung jenes in den unauslotbaren Tiefen der Seele noch
2419 fortwirkenden Naturzustandes, der auf staatlich-juridischer Ebene mit
2420 dem Abschluá des Gesellschaftsvertrages �berwunden worden war. Ihr
2421 Erziehungsmodell war jener von Riesman treffend beschriebene
2422 innengeleitete Charakter, der sich an die Signale eines fr�hzeitig
2423 internalisierten seelischen Kreiselkompasses gebunden f�hlte und
2424 dergestalt individuelle Autonomie mit gesellschaftlicher,
2425 prinzipiengesteuerter Orientierung verband.
\r
2427 \x0f\x02\0\0Durch die Dialektik der b�rgerlichen Gesellschaft wird diesem Typus
2428 die Grundlage entzogen. Schon Freud registrierte, daá nur eine
2429 \fMinderheit �ber ein steuerndes und lenkendes Gewissen verf�gte,
2430 w„hrend die Mehrzahl davon nur ein bescheidenes Maá mitbekommen habe
2431 (Freud I; 500); „hnlicher Ansicht war Max Weber, f�r den das
2432 'stahlharte Geh„use' des Kapitalismus l„ngst ohne die Verinnerlichung
2433 einer spezifischen Berufsethik funktionierte, oder Georg Simmel, f�r
2434 den die Moderne eine Individualisierung wie noch zu Rembrandts oder
2435 Shakespeares Zeiten ausschloá; die heutigen Individuen, meinte Simmel,
2436 seien "nichts als die Oszillationen in einer heraklitischen Welt, zu
2437 deren Totalit„t sie die Zugeh”rigkeit nur um den Preis gewinnen,
2438 jegliche Substanz und Lebenseinheit dem bloáen Jetzt des absoluten
2439 Werdens preiszugeben" (Simmel 1919, 138). Nicht anders sahen es sp„ter
2440 so gegens„tzliche Autoren wie Adorno, von dessen Auffassung noch
2441 ausf�hrlicher die Rede sein wird, und Arnold Gehlen, f�r den die
2442 Moderne einerseits durch 'Schnittpunktexistenzen', andererseits durch
2443 eine ungemeine Ausdehnung der Willk�r bestimmt war. Gerade weil die
2444 Individuen in einer von Automatismen und Schematismen gepr„gten Welt
2445 nichts Wirkliches mehr ver„ndern k”nnten, so Gehlens These, st�rzten
2446 sie sich in einen ungehemmten Subjektivismus, eine
2447 'Moralhypertrophie', die ebenso exaltiert wie folgenlos sei26. Daá
2448 eine derart zum Mittel des pers”nlichen Ausdrucks gewordene Moral noch
2449 als 'Schrittmacher der sozialen Evolution' (Habermas) fungieren
2450 k”nnte, erscheint unwahrscheinlich, was freilich politische und
2451 soziale Folgen des expressiven Moralismus keineswegs ausschlieát. Im
2452 Hinblick auf die Gesamtgesellschaft jedenfalls d�rfte die Vermutung
2453 Luhmanns realistischer sein, daá "die Dominanz funktionaler
2454 Differenzierung, wenn und soweit sie sich als Formprinzip der
2455 Gesellschaft durchsetzt, die Moral evolution„r abh„ngt und ideologisch
2456 wie motivational disprivilegiert"27. Das Ende der Moral ist damit
2457 nicht erreicht. Wohl aber jener Moralisierung, von der noch Kant
2460 \x0f\x02\0\0Um so ungehemmter breitet sich die andere Erfindung der Aufkl„rung
2461 aus, die 'dunkle Kehrseite' der Moralisierung und Zivilisierung - die
2462 Disziplin. Zu den klassischen totalen Institutionen - Kloster und
2463 Kaserne - sind seit dem 19. Jh. zahllose andere hinzugekommen:
2464 Institutionen der aufbewahrenden F�rsorge wie Blinden- und
2465 Altersheime, Waisenh„user und Armenasyle; der isolierenden F�rsorge
2466 wie Krankenh„user und Psychiatrien; der Einschlieáung und Absonderung
2467 wie Zuchth„user, Gefangenen-, Konzentrations- und Arbeitslager. Durch
2468 die Vermehrung und Expansion dieser Disziplinaranlagen verwandelt sich
2469 die Gesellschaft nicht in ein Kerker-Kontinuum. Wie Goffman zu Recht
2470 bemerkt, sind totale Institutionen weder mit der Arbeit-Lohn-Struktur
2471 noch mit der familialen Gliederung, noch, wie man hinzuf�gen kann, mit
2472 der auf Konkurrenz gegr�ndeten Organisation des politischen Systems
2473 vereinbar (Goffman 1972, 22ff.). Unverkennbar ist jedoch, daá
2474 disziplin„re Mechanismen auch in den offenen, durch freie
2475 Mitgliedschaft gekennzeichneten Institutionen eine dominierende Rolle
2476 spielen. Disziplin„r organisiert, sogar mit einem eigenen
2477 Disziplinarrecht ausgestattet, ist der gesamte Staatsapparat mit
2478 seinem stehenden und seinem sitzenden Heer. Disziplin„r organisiert
2479 sind die privaten gewerblichen Betriebe, wovon schon ein einziger
2480 Blick in eine Fabrikhalle oder ein Groáraumb�ro zeugt
2481 (Treiber/Steinert 1980; Fritz 1982) - ganz zu schweigen von den rasch
2482 expandierenden mikroelektronischen Personalinformationssystemen, die
2483 Zugang, Leistung und Kommunikation innerhalb der Betriebe einer
2484 l�ckenlosen Kontrolle unterwerfen und, indem sie das Auge des Meisters
2485 durch das zwingende Wissen des Computers ersetzen, eine neue Stufe in
2486 der Evolution der Disziplin ank�ndigen: die Automatisierung der
2487 \fDisziplin (Ortmann 1984, 107ff.; Poster 1984, 115). Der organisierte
2488 Massensport, vom Volkslauf bis zum Werksfuáball, ist eine einzige
2489 Disziplinaranlage (Rigauer 1982; Eichberg 1986, 185ff.); und ohne
2490 Disziplin geht im modernen Massentourismus nichts. Auch in der
2491 politischen Demokratie dominieren b�rokratische Apparate und
2492 hierarchisch strukturierte Entscheidungsprozesse. Selbst die
2493 Opposition gegen diese Apparate und die von ihnen erzwungene Disziplin
2494 kommt nicht umhin, ihre Anh„nger zu reglementieren und dabei ihr
2495 charismatisches Kapital aufzuzehren. Kein Zweifel: in einer
2496 Gesellschaft, die den weitaus gr”áten Teil ihrer Funktionen �ber
2497 Organisationen abwickelt, ist Disziplin - die pauschale Anerkennung
2498 und automatische Befolgung der Mitgliedschaftsregeln - zur Conditio
2499 sine qua non geworden. Mit seiner ber�hmten Metapher vom 'stahlharten
2500 Geh„use' hat Max Weber diese Entwicklung vor mehr als achtzig Jahren
2503 \x0f\x02\0\0Daá dies so kommen konnte, hat freilich nichts mit Machtverh„ltnissen
2504 oder 'strategischen Spielen' (Foucault) zu tun, sondern ist eine Folge
2505 von Systemprozessen, die sich jeder interaktionistischen Deutung
2506 entziehen. Die moderne Gesellschaft ist das Ergebnis einer
2507 weltgeschichtlich einzigartigen Desintegration, in deren Verlauf sich
2508 der in den vormodernen Kulturen politisch oder religi”s eingekapselte
2509 Modus der funktionalen Differenzierung verselbst„ndigte und zur
2510 Evolution neuer, h”chst unwahrscheinlicher und riskanter Synthesen
2511 trieb. Anstelle der autarken Lokalgesellschaften des Mittelalters trat
2512 ein interdependentes Verflechtungssystem, das den gesellschaftlichen
2513 Stoffwechsel mit der Natur von der Vermittlung durch die Zirkulation
2514 von Waren abh„ngig machte; anstelle der direkten, familial, politisch-
2515 herrschaftlich und religi”s begr�ndeten Bindungen eine indirekte
2516 Synthese, in der die einzelnen ihre Verklammerung in das �bergreifende
2517 Verflechtungsnetz erst auf dem Markt erfuhren.
\r
2519 \x0f\x02\0\0Die Auswirkungen dieses Strukturwandels hat Marx auf immer noch
2520 �berzeugende Weise dargestellt. Er hat gezeigt, wie die Verdichtung
2521 von funktionaler Differenzierung und Marktvergesellschaftung dazu
2522 f�hrte, daá sich das Wertgesetz als Prinzip der Systemintegration
2523 durchsetzte, wie dieses Wertgesetz die Homogenisierung der
2524 Einzelarbeiten durch Messung am Tauschwert, d.h. durch Relationierung
2525 der in Zeitquanta ausgedr�ckten abstrakten Arbeit, bewerkstelligte;
2526 wie diese Homogenisierung mit zunehmender Ausdehnung der Lohnarbeit
2527 und fortschreitender Vergesellschaftung der Produktion mehr und mehr
2528 in den Produktionsprozeá selbst verlagert wurde, indem die Funktionen
2529 der lebendigen und der toten Arbeit (der Maschinerie) nach
2530 einheitlichen Zeitmaást„ben koordiniert bzw., um einen Ausdruck Sohn-
2531 Rethels aufzugreifen, 'kommensuriert' wurden; und wie dadurch die
2532 abstrakte Zeit aus einem nur ideell gesetzten Maástab zum
2533 beherrschenden Organisationsprinzip der ™konomie wird. Damit ist nicht
2534 gesagt, daá die zeit”konomische Durchdringung sich in s„mtlichen
2535 Produktionszweigen linear und simultan durchsetzt. Wie die kritische
2536 Modifizierung der Thesen Sohn-Rethels durch die neueren Forschungen
2537 des 'Instituts f�r Sozialforschung' gezeigt hat, vollzieht sich die
2538 zeit”konomische Rationalisierung in heterogenen Verlaufsformen, die
2539 durch die variierenden Marktverh„ltnisse und durch branchenspezifische
2540 Besonderheiten gepr„gt sind
\x18\a28
\x18\a. Der s„kulare Trend bleibt davon jedoch
2541 unber�hrt. Kapitalisierung bedeutet Objektivierung und Erweiterung der
2542 zirkulationsbegr�ndeten Formen von Wissen, Kommunikation und
2543 Organisation; dagegen Formalisierung und Entwertung aller
2544 'naturw�chsig'-spontanen Kompetenzen, Denk- und Erfahrungsmuster.
2545 \f"™konomie der Zeit, darein l”st sich schlieálich alle ™konomie auf"
2548 \x0f\x02\0\0Hier, wenn irgendwo, ist die strukturelle Voraussetzung der von
2549 Foucault beschriebenen Verallgemeinerung der Disziplin zu suchen.
2550 Nat�rlich beginnt die Geschichte der Disziplin nicht erst mit der
2551 b�rgerlichen Gesellschaft und der f�r sie typischen 'Herausl”sung' der
2552 ™konomie; und nat�rlich spielen auáer”konomische, insonderheit
2553 politische Mechanismen wie die Konzentration der Verwaltungs- und
2554 Kriegsbetriebsmittel im absolutistischen Staat eine nicht
2555 wegzudenkende Rolle f�r den šbergang von der bloáen 'Virtuosen-' zur
2556 'Sozialdisziplinierung' (Treiber/Steinert 1980, 89; Dreyfus/Rabinow
2557 1987, 165; Bauer/Matis 1988, 315ff.). W„hrend aber diese fr�hen Formen
2558 der Disziplinierung des subjektiven Antriebs und der Gewalt nicht
2559 entbehren k”nnen - die Menschen, schreibt Friedrich II. von Preuáen,
2560 "bewegen sich, wenn man sie antreibt, und stehen still, wenn man nur
2561 einen Augenblick aufh”rt, sie vorw„rts zu dr„ngen"(Hubatsch 1973, 234)
2562 - kommt es zu einer Objektivierung und damit zu einer dauerhaften
2563 Verallgemeinerung der Disziplin erst mit der Totalisierung der
2564 abstrakten Arbeit und dem damit verbundenen Aufstieg der abstrakt-
2565 linearen Zeit zur 'Systemzeit'
\x18\a29
\x18\a. Zeit”konomische Imperative f�hren zu
2566 einer Umstrukturierung des konstanten und einer tiefgreifenden
2567 Ver„nderung des variablen Kapitals, welche vor allem die Zurichtung
2568 der motorischen und sensomotorischen Bewegungsabl„ufe und die
2569 Zur�ckdr„ngung des 'K”rper-Wissens' betrifft (B”hle 1989).
2570 Zeitsparende Mechanismen sedimentieren sich im Aufbau der modernen
2571 Groáorganisationen und stellen auch hier das Verhalten unter das
2572 Diktat der Zeitdisziplin. Selbst scheinbar so eigenst„ndige Strukturen
2573 wie die Prinzipien der vertikalen Kommunikation, der Rollentrennung
2574 und der Entscheidung nach universalistischen Kriterien lassen sich
2575 nach Luhmann unter dem Gesichtspunkt interpretieren, daá sie
2576 langwierige interne und externe Kommunikationsprozesse abk�rzen sollen
2577 (Luhmann 1983, 15O). Es d�rfte nicht schwerfallen, auch im sogenannten
2578 Freizeitbereich Formen zu identifizieren, die der ubiquit„ren
2579 Temporalisierung Rechnung tragen und ihr ad„quate Rezeptions- und
2580 Verhaltensstile etablieren (Film, Autokultur). Daá die
2581 'Disziplinarzeit' auf die p„dagogische Praxis �bergreift und hier zu
2582 grundlegenden Umw„lzungen f�hrt, indem sie z.B. die Ausbildungs- von
2583 der Berufszeit l”st, hat Foucault gesehen, allerdings sogleich in den
2584 Rahmen der Machttheorie gepreát: "Die Macht tritt der Zeit sehr nahe
2585 und sichert sich ihre Kontrolle und ihre Ausnutzung" (1976, 206). In
2586 Wirklichkeit verh„lt es sich genau umgekehrt: die Zeit wird nicht zu
2587 einer Funktion der Macht, sondern die zur Systemzeit gewordene Zeit
2588 produziert asymmetrische Handlungs- und Befehlsketten und generiert
2589 damit Machtrelationen, die das Verhalten der einzelnen determinieren.
\r
2596 \x0f\x02\0\0\x0f\x03\0\0\x18\x01IV
\x18\x01\r
2599 \x0f\x02\0\0Axel Honneth hat gegen�ber einer fr�heren Fassung dieser Studie den
2600 Einwand erhoben, sie stelle zu einseitig die Aspekte der
2601 Herrschaftssicherung und Verdinglichung heraus und verfehle damit die
2602 bei Foucault doch auch angelegte Einsicht, daá "jene Vorg„nge eines
2603 \forganisierten Ausbaus der Sozialkontrolle stets in einem
2604 lebensweltlichen Horizont von praktischen Konflikten um die
2605 Legitimit„t sozialer Machtanspr�che verwirklicht sind" (Honneth 1989,
2606 238). Diese Kritik ist nun ihrerseits von Einseitigkeiten nicht frei,
2607 geht sie doch stillschweigend dar�ber hinweg, daá ich von
2608 institutionalisierter Sozialkontrolle allein im Hinblick auf
2609 organisierte Sozialsysteme gesprochen und weder die M”glichkeit von
2610 Widerstand noch von moralischen Orientierungen bestritten habe.
2611 Gleichwohl trifft sie einen Punkt, der in meinen Ausf�hrungen in der
2612 Tat zu kurz kam. Auch organisierte Sozialsysteme lassen sich heute
2613 zunehmend weniger nur aus der Perspektive des 'Kontroll-Paradigmas'
2614 fassen, also jenes Interpretationsrasters, das vor allem die
2615 Reglementierung des Erlebens und Handelns von Personen durch
2616 Organisationen betont und Subjektivit„t auf eine bloáe
2617 Ausf�hrungsinstanz des Sozialsystems reduziert (Schimank 1986, 73).
2618 Dieses Paradagma ist zwar nicht falsch, muá jedoch durch eine andere
2619 Sichtweise erg„nzt werden, derzufolge Subjektivit„t nicht bloá auf den
2620 Nachvollzug immer schon konstituierter sozialer Ordnungen beschr„nkt
2621 ist, sondern diese, wenn schon nicht konstituiert, so doch
2622 mitkonstituiert (ebd. 75). Daá f�r Foucault erst beide Perspektiven
2623 zusammen ein vollst„ndiges Bild ergeben, wurde am Ende des ersten
2624 Abschnittes gezeigt; Foucault selbst hat es noch einmal in der
2625 Einleitung zum zweiten Band der Histoire de la sexualit‚
2626 unterstrichen, in der er darauf verweist, "daá jede 'Moral' im weiten
2627 Sinn die beiden angegebenen Aspekte enth„lt: den der Verhaltenscodes
2628 und den der Subjektivierungsformen" (1986, 41). Honneth hat also
2629 recht, auf eine angemessene Behandlung der letzteren zu dringen. Im
2630 Gegensatz zu der weiteren von ihm vorgeschlagenen Interpretation, die
2631 hierin eine St„rke der handlungs- gegen�ber den systemtheoretischen
2632 Komponenten von Foucaults Analysen sieht, m”chte ich allerdings die
2633 These vertreten, daá die Ber�cksichtigung der Subjektivit„t in
2634 organisierten Sozialsystemen nur zu einer Flexibilisierung, nicht aber
2635 zu einer Sprengung des Begriffs der Disziplinargesellschaft f�hrt.
\r
2637 \x0f\x02\0\0Daá das Kontroll-Paradigma unter den Bedingungen rasch anwachsender
2638 Komplexit„t nicht mehr den gleichen Erkl„rungswert beanspruchen kann
2639 wie zu Beginn des Jahrhunderts, als Weber seine B�rokratietheorie und
2640 Taylor seine Methoden der wissenschaftlichen Arbeitsgestaltung und
2641 Betriebsf�hrung entwickelte, wird heute durch zahlreiche
2642 Untersuchungen best„tigt, die einen Wandel der Institutionen zu
2643 weniger hierarchischen, mehr informalen und kollegialen Strukturen
2644 dokumentieren. Dies gilt etwa f�r die Organisationssoziologie, die
2645 seit l„ngerem das Zur�cktreten der verfahrensorientiert-unpers”nlichen
2646 Strukturen hinter dienstleistungsorientiert-pers”nlichen Formen
2647 registriert und Human-Relations-Gesichtspunkte in den Vordergrund
2648 stellt (Schluchter 1972, 140ff.; Hage 1980). Es gilt aber auch f�r die
2649 Industriesoziologie, die in wichtigen Bereichen eine Abkehr von den
2650 bislang dominierenden tayloristischen Formen der Zeit”konomie
2651 festgestellt hat (Kern/Schumann 1984; Bergmann u.a. 1986; Manske 1987;
2652 Malsch 1987; Wuntsch 1988, 331ff.; Brandt 1990, 358ff.). Zwar hat sich
2653 die Ank�ndigung einer 'Neoindustrialisierung', die eine Zur�ckdr„ngung
2654 der Heteronomie von Industriearbeit erm”glichen und die
2655 "Voraussetzungen f�r kompetentes, selbstbewuátes Verhalten im
2656 Arbeitsprozeá" schaffen sollte (Kern/Schumann 1984, 327; kritisch
2657 hierzu: Schmiede/v. Greiff 1985), als �berzogen erwiesen, doch gilt
2658 dies ebenso f�r die Annahme einer stetigen Steigerung der direkten
2659 sozialen Kontrolle durch Dequalifizierung der Arbeitskraft einerseits,
2660 Zentralisierung des Produktionswissens beim Management andererseits.
2661 \fNeuere empirische Untersuchungen legen den Schluá nahe, daá die
2662 tayloristischen und fordistischen Strategien der zeit”konomischen
2663 Arbeitszerlegung nur f�r bestimmte Sektoren der Massenproduktion
2664 galten, w„hrend sie etwa in der kleinserigen, komplexen
2665 Maschinenfertigung stets an den hohen Kosten scheiterten, die f�r den
2666 Aufbau leistungsf„higer Arbeitsvorbereitungsabteilungen n”tig gewesen
2667 w„ren (Manske 1987, 170); sie zeigen zugleich, daá der Taylorismus als
2668 das Mittel zur zentralistischen Kontrolle der Arbeitsausf�hrung und
2669 damit der Arbeiter �berall dort seine Grenze findet, wo die
2670 Besonderheiten von Materialien und Produkten sowie die Marktlage ein
2671 hohes Maá an betrieblicher Flexibilit„t und Reaktionsf„higkeit
2672 erfordern. Die von Sohn-Rethel (1972) und Bravermann (1977) ganz auf
2673 der Linie von Marx und Weber beschriebene langfristige Tendenz einer
2674 fortschreitenden Einschr„nkung bzw. Eliminierung der
2675 Dispositionsspielr„ume wie auch der kognitiven Kompetenz der
2676 Arbeitskr„fte h„tte von hier aus gesehen mit Gegentendenzen zu
2677 rechnen, die anstelle der reinen Subsumtionslogik st„rker auf
2678 indirekte, 'systemische' Kontrollen setzen (Baethge/Oberbeck 1986, 22;
2679 Manske 1987, 175) und dabei die eindimensionalen, auf
2680 'Fremdbeobachtung' und punktueller Disziplinierung beruhenden
2681 tayloristischen Mechanismen durch neue, die 'Selbstbeobachtung' und
2682 aktive Beteiligung des Personals akzentuierenden Strategien
2683 substituierten (Malsch 1987). Ob sich damit, wie etwa Malsch glaubt,
2684 die Chance einer kommunikativen Rationalisierung er”ffnet, mag
2685 dahingestellt bleiben. Fest steht jedoch, daá das Kontroll-Paradigma
2686 diesen Entwicklungen nur unzureichend Rechnung tr„gt. "Subjektivit„t",
2687 so folgert Uwe Schimank, "ist in formalen Organisationen nicht nur
2688 eine m”glichst weitgehend sozialem und technischem Reglement zu
2689 unterwerfende, weil f�r die organisatorische Ordnung gef„hrliche
2690 St”rgr”áe; sondern Subjektivit„t ist eine wesentliche
2691 Konstitutionsbedingung organisatorischer Ordnung gerade auch in
2692 hochtechnisierten Produktionsorganisationen" (1986, 86).
\r
2694 \x0f\x02\0\0Diese šberlegungen machen eine Differenzierung der im vorigen
2695 Abschnitt skizzierten Argumentation erforderlich, stellen sie jedoch
2696 nicht grunds„tzlich in Frage. Auch wenn die Bedienung der zunehmend
2697 komplexer und st”ranf„lliger werdenden Produktionsanlagen heute eine
2698 flexiblere Funktionsvermischung und eine erh”hte technisch-
2699 wissenschaftliche Kompetenz des Personals verlangt (Wuntsch 1988, 28,
2700 201); auch wenn die Belegschaften ein ganz neuartiges "Drohpotential
2701 der Datenmanipulation und der Wissenszur�ckhaltung" erwerben (Malsch
2702 1987, 79), folgt daraus doch nicht, daá die systemische Integration an
2703 ihre Grenze st”át und eine neue Perspektive er”ffnet, die es
2704 erm”glicht, die organisierten Sozialsysteme "als fragile Gebilde zu
2705 durchschauen, die in ihrer Existenz vom moralischen Konsens aller
2706 Beteiligten abh„ngig bleiben" (Honneth 1985, 334). Bei der
2707 Subjektivit„t, die in organisierten und technisierten Systemen
2708 operiert, handelt es sich zwar um selbstdeterminierte und insofern
2709 zweifellos auch zu moralischen Orientierungen bef„higte personale
2710 Systeme, doch ist gerade diese Kompetenz nicht gemeint, wenn von einem
2711 Beitrag zu den Konstitutionsbedingungen die Rede ist. Gefragt sind
2712 nicht die moralischen und expressiven, sondern die kognitiven und
2713 technischen Kompetenzen, mithin jene F„higkeiten zu formaler
2714 Rationalit„t, diskursiver Symbolisierung und streng linearer
2715 Wahrnehmung, wie sie nur das im kantischen Sinne disziplinierte und
2716 kultivierte Individuum besitzt. Gewiá geht das Individuum darin nicht
2717 auf. Es verf�gt, auch und gerade im Rahmen informatisierter
2718 Produktionstechnologien, �ber die F„higkeit, die durch die jeweilige
2719 \fTechnik gesetzten Grenzen sinnhaften Operierens zu �berschreiten, es
2720 akkumuliert ein Erfahrungswissen, das durch formalisiertes und
2721 standardisiertes Planungswissen nie vollst„ndig ersetzt werden kann.
2722 Dennoch handelt es sich um eine Erfahrung h”chst spezifischer Art:
2723 nicht die spontane, 'naturw�chsige' Erfahrung der konkreten Arbeit,
2724 die eine Wechselbeziehung zwischen dem Arbeitenden, dem Werkzeug und
2725 dem je besonderen Material unterstellt, sondern die domestizierte,
2726 disziplinierte Erfahrung innerhalb eines vorstrukturierten technischen
2727 'Ereignishorizonts', in dem sich die Aktivit„t des Subjekts weitgehend
2728 auf die Selektion und Deutung der Zeichen beschr„nkt, die von den
2729 Informationssystemen in šberf�lle geboten werden (Hartmann 1990, 42).
2730 Erfahrung in diesem Kontext ist immer wissenschaftliche Erfahrung,
2731 Produktion immer: Objektivation von Wissenschaft. Die Ver„nderung
2732 besteht allenfalls darin, daá sich nunmehr nicht bloá die
2733 Wissenschaftler und Ingenieure, sondern Teile der Arbeiterschaft
2734 selbst in wissenschaftlicher Weise auf die Erfahrung bzw. die
2735 Produktion beziehen und damit gleichsam von der passiven auf die
2736 aktive Seite des Abstraktifizierungsprozesses r�cken.
\r
2738 \x0f\x02\0\0Foucault hat dies so nicht gesehen und, bedingt durch die
2739 Unzul„nglichkeiten seiner Machttheorie, auch nicht sehen k”nnen. Er
2740 hat aber immerhin etwas davon geahnt, wenn er von der "Ersetzung eines
2741 juridischen und negativen Rasters durch ein technisches und
2742 strategisches" spricht (1978, 105), wenn er auf neue Machtmechanismen
2743 verweist, die nicht mehr mit dem Recht, sondern mit der Technik
2744 arbeiten, wenn er betont, daá die Macht nicht mehr nur 'von oben',
2745 sondern auch 'von unten', d.h. von den Subjekten selbst kommt (1977,
2746 110, 115). Wenn die direkte Kontrolle … la Taylor �berfl�ssig wird, so
2747 nicht, weil das System durch zunehmend autonomere, ihre Qualifikation
2748 und ihre Intelligenz wiedergewinnende Subjekte in die Defensive
2749 gedr„ngt w�rde. Sondern genau umgekehrt: weil es, flexibler und
2750 gleichsam dialektischer geworden, mit den Beitr„gen der Subjekte
2751 selbst rechnen kann, die, vom wissenschaftlichen Code gepr„gt, die
2752 permanente Optimierung des Systems zu ihre eigenen Sache gemacht
2755 \x0f\x02\0\0Diese Flexibilisierung k”nnte endlich auch der Grund f�r eine
2756 Entwicklung sein, die Foucault unbeachtet gelassen hat, auf die ich
2757 jedoch zum Schluá wenigstens hinweisen m”chte, weil eine Theorie der
2758 Disziplinargesellschaft sie nicht ignorieren kann: die partielle
2759 Entdisziplinierung, von der die fortgeschrittenen
2760 Industriegesellschaften seit einiger Zeit heimgesucht werden. Die
2761 allgemeine Erh”hung des Qualifikationsniveaus im Gefolge der
2762 'Bildungsrevolution' (Parsons) hat zu einer Entwertung der unteren
2763 Bildungsabschl�sse gef�hrt, die die Haupt- und Sonderschulabsolventen
2764 in eine „hnliche Lage geraten l„át wie Analphabeten. Die Hauptschule,
2765 so hat Ulrich Beck es formuliert (1986, 246), verwandelt sich mehr und
2766 mehr in einen 'Aufbewahrungsort f�r arbeitslose Jugendliche', dessen
2767 Funktionsbestimmung sich in Richtung Besch„ftigungstherapie
2768 verschiebt. Die Folge ist nicht nur eine anomische Reaktion der
2769 betroffenen Jugendlichen, die sich etwa am Ph„nomen des ansteigenden
2770 Vandalismus ablesen l„át, sondern eine tiefgreifende Entwertung der
2771 Autorit„t der Schule und eine Erosion der von ihr vermittelten
2772 Disziplin - vor allem in Groást„dten mit anhaltend hoher
2773 Jugendarbeitslosigkeit und hohem Anteil von Angeh”rigen
2774 diskriminierter Minderheiten. W„hrend sich die P„dagogik an Gymnasien
2775 eher mit Problemen wie Ehrgeiz, Schulangst, �bertriebene Anpassung und
2776 Kontaktschwierigkeiten konfrontiert sieht, werden an Hauptschulen in
2777 \fzunehmendem Maáe Verhaltensauff„lligkeiten wie Unkonzentriertheit,
2778 Ungenauigkeit, Interessenmangel, verbale Aggression und Ungehorsam
2779 gegen den Lehrer registriert (Bach 1987, 58 f.). Auch an den
2780 Grundschulen mehren sich inzwischen die Unterrichtsst”rungen in Form
2781 von šbermotorik, diffuser Aggression, ungerichtetem Agieren und
2782 didaktisch-methodischer Unansprechbarkeit, so daá das Bildungsangebot
2783 bei einem wachsenden Teil der Sch�ler ins Leere st”át (Ziehe 1983;
2784 Cloer 1982; ders. 1987; Winkel 1988). Wenn die Zeichen nicht tr�gen,
2785 so scheint es sowohl der sekund„ren als offenbar bereits der prim„ren
2786 Sozialisation in Teilen der Gesellschaft zusehends weniger zu
2787 gelingen, jene innere Disziplin zu vermitteln, die nicht bloá f�r das
2788 Fortkommen, sondern schon f�r das pure šberleben in einer
2789 Disziplinargesellschaft unerl„álich ist. Welches immer die Ursachen
2790 sein m”gen - Wohnverh„ltnisse, Arbeitslosigkeit, damit
2791 zusammenh„ngende defizit„re familiale Kommunikation, nicht zuletzt
2792 auch eine durch Fernsehkonsum ver„nderte Organisationsform der Sinne -
2793 fest steht, daá man heute nicht mehr schlichtweg von einer
2794 Verallgemeinerung der Disziplin, sondern allenfalls von einer
2795 partiellen Erweiterung sprechen kann, bei der ganze Sektoren der
2796 Gesellschaft als disziplin„re Brachen ausgespart bleiben. Je weiter
2797 aber sich diese Brachen ausdehnen, desto dringlicher wird die Frage,
2798 ob die von Foucault beschriebene Modernisierung und Humanisierung der
2799 Disziplin, ihre Abkehr von einer bloáen 'Gewaltrationalit„t' (Dauk
2800 1989, 131), nicht der Anfang eines Prozesses sein k”nnte, in dessen
2801 Verlauf die Disziplinargesellschaft ihre eigenen Voraussetzungen
2802 zerst”rt. Allein mit den von Foucault bereitgestellten Kategorien wird
2803 diese Frage nicht zu beantworten sein.
\r
2805 \f\x0f\x02\0\0\x14\x02PAAdorno, Luhmann
\r
2806 \x0f\x02\0\0Die moderne Gesellschaft zwischen Selbstreferenz und Selbstdestruktion
\r
2813 \x0f\x02\0\0Die Theorien der Zivilisierung und der Disziplinierung, das wurde in
2814 der Auseinandersetzung mit Elias und Foucault deutlich, erfassen
2815 wichtige Aspekte der modernen Gesellschaft. F�r eine Gesamtdiagnose
2816 indes ist ihr Instrumentarium zu grob, ihr begrifflicher Zuschnitt zu
2817 eng. Es ist deshalb an der Zeit, den Fokus zu erweitern und jene
2818 beiden Theorien in den Blick zu nehmen, von denen wir uns in der
2819 Kritik an Elias und Foucault vielfach leiten lieáen: die Kritische
2820 Theorie und die Systemtheorie.
\r
2822 \x0f\x02\0\0šber deren methodische und epistemologische Differenzen ist viel
2823 geschrieben worden: �ber die unterschiedliche Auffassung von Handeln
2824 und Kommunikation, von Wahrheit und Rationalit„t. Nur selten aber, und
2825 dann gew”hnlich am Rande, hat die Debatte das eigentliche Thema
2826 probandum ber�hrt, das zwischen beiden Theorien zur Verhandlung steht:
2827 die moderne Gesellschaft und ihre Entwicklungstendenzen. Dabei ist
2828 kein Feld von so zentraler Bedeutung wie dieses - stimmen doch beide
2829 Theorien darin �berein, daá die Zukunft der Soziologie wesentlich
2830 davon abh„ngt, ob es ihr gelingt, einen Begriff ihres Gegenstandes -
2831 der Gesellschaft - zu entwickeln.
\r
2833 \x0f\x02\0\0Es ist hier nicht der Ort, um �ber die Gr�nde dieser eigent�mlichen
2834 Ber�hrungsangst zu sprechen. Vordringlicher ist es, sie zu
2835 durchbrechen, indem man den Gegenstand selbst in den Mittelpunkt der
2836 Er”rterungen r�ckt. Dies soll im folgenden in drei Schritten
2837 geschehen. Im ersten Abschnitt werde ich die Aussagen beider Theorien
2838 �ber den Aufbau der modernen Gesellschaft vergleichen, die sich im
2839 einen Fall um den Begriff der Totalit„t, im anderen Fall um den des
2840 Systems zentrieren. Im zweiten Abschnitt sollen die wichtigsten Thesen
2841 �ber die Entwicklungstendenzen der modernen Gesellschaft
2842 herausgestellt werden, wobei ich mich vorrangig auf die Frage
2843 Differenzierung oder Entdifferenzierung konzentrieren werde. Der
2844 letzte Abschnitt behandelt die M”glichkeit wechselseitiger
2845 Lernprozesse beider Theorien im Horizont einer sich anbahnenden
2846 Konvergenz von Kritik und Affirmation. Der Vergleich wird sich auf
2847 Adorno und Luhmann als die beiden Autoren beschr„nken, bei denen die
2848 Kritische Theorie und die Systemtheorie in ihrer 'Vollstufe'
2857 \x0f\x02\0\0\x0f\x03\0\0I
\r
2860 \x14\x03AAF
\x04\x021. Jeder Anfang ist eine Vorentscheidung. Nach der Systemtheorie
2861 ist mit Differenz zu beginnen, nach dialektischer Auffassung mit
2862 Einheit. Folgte man der ersten Position, so w„re man in diesem Fall
2863 \fschnell fertig. Man w�rde zeigen, daá f�r Luhmann Gesellschaft
2864 Kommunikation ist und in dieser Eigenschaft sowohl das Ganze
2865 verk”rpert als auch das Wahre einschlieát: die Gesamtheit der
2866 Kommunikationen als Selektion aus der Gesamtheit aller anschluáf„higen
2867 - in Luhmanns Terminologie: 'wahren' - Kommunikationen (1990, 533,
2868 618f., 175)31. Auf der anderen Seite tauchte dann sogleich die Formel
2869 vom Ganzen als dem Unwahren sowie Adornos 'Generalverdacht gegen
2870 Kommunikation' auf (M”rchen 1981, 231). "Alles, was heutzutage
2871 Kommunikation heiát, ausnahmslos, ist nur der L„rm, der die Stummheit
2872 der Gebannten �bert”nt" (GS 6, 341). Der Dialog w„re zuende, ehe er
2873 �berhaupt eingesetzt h„tte.
\r
2875 \x04\x02Wir m�ssen also nach Art der Dialektik beginnen, mit Einheit statt
2876 mit Differenz. Das ist weniger gewaltsam, als es nach dem ersten
2877 Vorgepl„nkel den Anschein haben k”nnte, bestimmen doch Adorno wie
2878 Luhmann die moderne Gesellschaft ganz konventionell, unter R�ckgriff
2879 auf den von Herbert Spencer in die Soziologie eingef�hrten Begriff der
2880 funktionalen Differenzierung. Die moderne Gesellschaft ist nach
2881 Luhmann kein Organismus und kein Subjekt, sondern "dasjenige
2882 Sozialsystem, das die letzterreichbare Form funktionaler
2883 Differenzierung institutionalisiert" (1971, 15). "Modern society,
2884 then, has to be described as a functionally differentiated system.
2885 This is its main characteristic, the principle which generates its
2886 structures" (1984, 64).
\r
2888 \x04\x02Nicht anders sieht es Adorno. Gesellschaft, so verk�ndet er, sei
2889 "ein Funktions- und kein Substanzbegriff" (GS 8, 349), Soziologie die
2890 "Wissenschaft von den gesellschaftlichen Funktionen" (Adorno 1956,
2891 23). W„hrend sich archaische Gesellschaften nicht zuletzt durch ihre
2892 nur geringe Arbeitsteilung auszeichneten, habe sich die moderne
2893 Gesellschaft zu einem gigantischen Interdependenzzusammenhang
2896 \x04\x06\x19\x10"Mit Gesellschaft im pr„gnanten Sinn meint man eine Art Gef�ge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen
2897 abh„ngen; in dem das Ganze sich erh„lt nur durch die Einheit der von s„mtlichen Mitgliedern erf�llten Funktionen, und in dem
2898 jedem Einzelnen grunds„tzlich eine solche Funktion zuf„llt, w„hrend zugleich jeder Einzelne durch seine Zugeh”rigkeit zu dem
2899 totalen Gef�ge in weitem Maáe bestimmt wird" (ebd. 22; vgl. GS 8,10).
\r
2901 \x04\x02F�r Adorno ist mit dieser Bestimmung allerdings nur erst ein
2902 Aspekt der modernen Gesellschaft getroffen. Der zweite f�r ihn
2903 wichtige Aspekt ist, daá Gesellschaft ebensosehr eine Relations-, ja
2904 eine 'Vermittlungskategorie' sei (Adorno 1973, 36, 39). Was damit
2905 gemeint ist, l„át sich durch eine Kontrastierung mit der
2906 funktionalistischen Theorie der Systemdifferenzierung verdeutlichen.
2907 Diese Theorie, die im �brigen, wie das Beispiel Althusser zeigt, auch
2908 in den Marxismus Eingang gefunden hat, geht davon aus, daá die moderne
2909 Gesellschaft durch die Ausdifferenzierung relativ autonomer
2910 Subsysteme, Ebenen oder Instanzen gekennzeichnet ist, welche innerhalb
2911 des Gesamtsystems nebeneinander existieren. Parsons unterscheidet
2912 dabei bekanntlich das politische, ”konomische, sozialkulturelle und
2913 gemeinschaftliche System; Luhmann Teilsysteme f�r Politik, Wirtschaft,
2914 Recht, Erziehung, Religion und Wissenschaft; Althusser die politische,
2915 ”konomische und ideologische Ebene. Diese Differenzierung schlieát
2916 nicht aus, daá zwischen den Subsystemen Beziehungen bestehen: bei
2917 Parsons und Luhmann gibt es das Konzept der Interpenetration, bei
2918 Althusser sogar das Prinzip der Determinierung in letzter Instanz
2919 durch die ™konomie. Typisch aber ist, daá in all diesen Konzeptionen
2920 (von deren Unterschieden hier abgesehen werden kann) die Beziehung
2921 \f„uáerlicher Natur ist, eine bloáe Wechselwirkung zwischen ansonsten
2922 getrennten und nach eigengesetzlichen Regeln prozessierenden Sph„ren.
\r
2924 \x04\x02Adorno bestreitet keineswegs die Existenz solcher autonomer
2925 Sph„ren. Die �bliche Formel, mit der er Bereiche wie Kunst oder
2926 Wissenschaft charakterisiert, lautet, sie seien autonom und fait
2927 social zugleich (GS 7, 16; GS 8, 283). Damit ist jedoch auch gesagt,
2928 daá die Theorie es bei der bloáen Feststellung der Autonomie nicht
2929 belassen kann. Gerade als autonome sind die Teilsysteme vermittelt
2930 durch die konstitutive Struktur der Gesellschaft, ihre objektive
2931 'Wesensgleichheit' (Adorno 1973, 25), die in den Teilsystemen
2932 erscheint und sie ipso facto als Schein, als Reflexionsbestimmung
2933 durchschaubar macht. Was Adorno f�r die Kunst notiert, gilt mutatis
2934 mutandis auch f�r die �brigen Bereiche des gesellschaftlichen Ganzen:
\r
2936 \x04\x06\x19\x10"Die Frage nach der Vermittlung von Geist und Gesellschaft reicht weit �ber die Musik hinaus, wo man sie allzu leicht auf die
2937 nach dem Verh„ltnis von Produktion und Rezeption einengt. Gelten d�rfte, daá jene Vermittlung nicht „uáerlich, in einem dritten
2938 Medium zwischen Sache und Gesellschaft stattfinde, sondern innerhalb der Sache. Und zwar nach ihrer objektiven und subjektiven
2939 Seite. Die gesellschaftliche Totalit„t hat in der Gestalt des Problems und der Einheit der k�nstlerischen L”sungen sich sedimentiert, ist
2940 darin verschwunden. Weil in ihr Gesellschaft sich verkapselt hat, folgt sie, indem sie autonom sich entfaltet, auch der
2941 gesellschaftlichen Dynamik, ohne auf sie hinzublicken, ohne direkt mit ihr zu kommunizieren" (GS 14, 409).
\r
2943 \x04\x02In der Bestimmung dieser Wesensgesetzlichkeit, die in den
2944 Teilsystemen erscheint und diese dadurch als vermittelte konstituiert,
2945 kn�pft Adorno an die klassische dialektische Theorie an, die die
2946 moderne Gesellschaft als b�rgerliche verstand. Wie Marx, der den
2947 Schl�ssel zu diesem System in der politischen ™konomie suchte, geht
2948 auch Adorno vom "Primat der ™konomie" aus (GS 4, 125) und lokalisiert
2949 hier den tragenden Lebensprozeá der Gesellschaft. Damit ist vor allem
2950 die grundlegende Rolle angesprochen, die der gesellschaftlichen Arbeit
2951 in der Moderne zukommt. Die sozialen Prozesse und Institutionen
2952 existieren nicht aus eigener Kraft, sie sind "wesentlich
2953 vergegenst„ndlichte Arbeit lebendiger Menschen"; selbst so subtile
2954 Erscheinungen wie Kunst, Philosophie oder Kulturkritik sind vom
2955 Arbeitsprozeá abh„ngig, "in dessen Schicksal verflochten" (GS 8, 17;
2956 GS 10.1, 18). Ein �berhistorisches Gesetz, wie es etwa Engels' Prinzip
2957 der Determinierung in letzter Instanz aufstellt, ist damit nicht
2958 behauptet, denn eine 'szientifische Invariantenlehre' lehnt Adorno ab.
2959 F�r die moderne Gesellschaft allerdings gilt, daá sie die "Einheit der
2960 durch ihre Arbeit das Leben der Gattung reproduzierenden Subjekte" ist
2961 und daher prim„r als "Totalit„t der Arbeit" konzipiert werden muá (GS
2962 5, 267, 269). "Soweit die Welt ein System bildet, wird sie dazu eben
2963 durch die geschlossene Universalit„t von gesellschaftlicher Arbeit"
2966 \x04\x02Von entscheidender Bedeutung ist nun allerdings, daá sich dieser
2967 Primat der Produktion unter b�rgerlichen Produktionsbedingungen auf
2968 eine h”chst paradoxe Weise „uáert: als Abstraktion der Produktion von
2969 sich selbst. Konstitutiv f�r den gesellschaftlichen Zusammenhang ist
2970 nicht die lebendige Arbeit, auch nicht das konkrete Bed�rfnis.
2971 "Grundbestand der Gesellschaft an sich", "maágebende Struktur der
2972 Gesellschaft" (GS 8, 13; GS 10.2, 745) ist vielmehr der Tausch, in dem
2973 die konkreten Einzelarbeiten auf ihren gemeinsamen Nenner reduziert
2974 werden - abstrakte Arbeit als Substanz des Wertes. Im Tausch, schreibt
2975 Adorno, "nicht erst in der wissenschaftlichen Reflexion, wird objektiv
2976 abstrahiert; wird abgesehen von der qualitativen Beschaffenheit der
2977 Produzierenden und Konsumierenden, vom Modus der Produktion, sogar vom
2978 Bed�rfnis, das der gesellschaftliche Mechanismus beiher, als
2979 \fSekund„res befriedigt" (GS 8, 13).
\r
2981 \x04\x02'Tausch' in diesem Sinne meint mehr als eine ”konomische
2982 Transaktion, meint mehr als den bloáen Besitzwechsel konkret-
2983 n�tzlicher Gegenst„nde. Der Begriff steht f�r eine Gesamtverfassung,
2984 in der der konkret-materielle Inhalt des gesellschaftlichen Lebens,
2985 der Stoffwechselprozeá mit der Natur, und der soziale Zusammenhang
2986 auseinandergetreten sind und sich zum Gegensatz verselbst„ndigt haben.
2987 Ihre Einheit gewinnt die fragmentierte und atomisierte Gesellschaft
2988 nur mehr auf einem Umweg, �ber den Austausch; da aber nur Gleiches,
2989 Vergleichbares, Žquivalentes getauscht werden kann, wechseln in der
2990 Zirkulation nicht Gebrauchswerte den Besitzer, sondern Tauschwerte;
2991 der Markt, so hat es Alfred Sohn-Rethel formuliert, dem Adorno
2992 entscheidende Einsichten verdankt, ist ein "zeitlich und ”rtlich
2993 bemessenes Vakuum an menschlichem Stoffwechsel mit der Natur" (Sohn-
2994 Rethel 1972, 80). Das, was die Einheit herstellt, ist der Wert; der
2995 Wert aber ist eine reine Abstraktion, etwas, in das 'kein Atom
2996 Naturstoff' eingeht, eine 'bloá ideelle' oder 'nur gemeinte
2997 Bestimmung' (MEW 23, 62; Marx 1974, 173). B�rgerliche
2998 Vergesellschaftung heiát dementsprechend abstrakte, reine
2999 Vergesellschaftung, Integration durch eine Sph„re, die in der
3000 traditionellen Metaphysik als 'Schein', in der idealistischen
3001 Philosophie als 'Geist' bezeichnet wurde - eine Welt des Symbolischen,
3002 der Stellvertretung, der Substitution, die alle Erscheinungsformen des
3003 Sozialen, von der Zirkulation �ber Recht und Staat bis zu den
3004 subtileren Gestalten der Kunst, der Philosophie und der Wissenschaft,
3007 \x04\x06\x19\x10"Den Vorwurf des Idealismus", schreibt Adorno, "hat nicht ein jeder zu f�rchten, der Begriffliches der gesellschaftlichen
3008 Realit„t zurechnet...Mag man, gegen�ber der leibhaften Realit„t und allen handfesten Daten, dies begriffliche Wesen Schein
3009 nennen, weil es beim Žquivalententausch mit rechten Dingen und doch nicht mit rechten Dingen zugeht: es ist doch kein Schein,
3010 zu dem organisierende Wissenschaft die Realit„t sublimierte, sondern dieser immanent...Der Tauschwert, gegen�ber dem
3011 Gebrauchswert ein bloá Gedachtes, herrscht �ber das menschliche Bed�rfnis und an seiner Stelle; der Schein �ber die Wirklichkeit"
3014 \x04\x02Diese Hervorhebung des Tauschverh„ltnisses ist von der
3015 marxistischen Orthodoxie h„ufig als R�ckfall in b�rgerliches Denken
3016 kritisiert worden, als Unf„higkeit, �ber den Standpunkt der
3017 Zirkulation hinauszugehen. Der Vorwurf hat eine gewisse Berechtigung,
3018 soweit er darauf zielt, daá Adorno nicht mit der gebotenen
3019 Gr�ndlichkeit auf die Einzelheiten der Marxschen Wertformanalyse
3020 eingegangen ist und deren Begriffe oft nur metaphorisch gebraucht. In
3021 ihrem Kern ist die Kritik jedoch unhaltbar: einmal, weil Adorno
3022 keineswegs bei der Zirkulation stehenbleibt und sehr wohl auch die
3023 entwickelteren Formen des Wertverh„ltnisses bis hin zur
3024 Klassenstruktur im Blick hat32; zum anderen, weil sie die fundamentale
3025 šbereinstimmung verdeckt, die hinsichtlich der strukturellen Bedeutung
3026 der Zirkulation zwischen der Kritischen Theorie und der Kritik der
3027 politischen ™konomie besteht. Auch im Kapital fungiert als
3028 begrifflicher Ausgangspunkt nicht der Arbeitsprozeá oder ein wie immer
3029 geartetes 'System der Bed�rfnisse', sondern die Abstraktion von der
3030 Produktion und vom Bed�rfnis, wie sie sich in der Zirkulation, im
3031 Austausch von Waren gem„á ihren Werten, tagt„glich vollzieht; und wenn
3032 es ein Gliederungsprinzip gibt, einen Grundgedanken, um den sich das
3033 System der politischen ™konomie organisiert, so ist er hier, in den
3034 verschiedenen Metamorphosen dieser Fundamentalabstraktion zu suchen,
3035 die vom einfachen Tausch �ber den Geld- und Kapitalbegriff bis zu den
3036 Oberfl„chenbestimmungen der 'trinitarischen Formel' reichen. Indem
3037 \fAdorno diesen Gedanken, in wie metaphorischer Form auch immer,
3038 festh„lt und zu der These zuspitzt, daá die Produktion nur
3039 gegenstandskonstitutiv, nicht aber gesellschaftskonstitutiv ist, steht
3040 er Marx n„her als alle postmarxschen Arbeitsmythologien, die die Rede
3041 vom Scheincharakter der Zirkulation allzu w”rtlich, n„mlich
3042 b�rgerlich-aufkl„rerisch nehmen. Die Einheit der b�rgerlichen
3043 Gesellschaft ist keine Einheit der Arbeit, sondern eine des Wertes,
3044 der Abstraktion von der Arbeit.
\r
3046 \x04\x02Diese Einheit aber, und damit kehren wir zum Ausgangspunkt zur�ck,
3047 existiert nicht unmittelbar, sondern nur als Prozeá, als "eine
3048 Einheit, die sich durch den Trennungs-, durch den
3049 Abstraktionsmechanismus hindurch �berhaupt eigentlich erst vollzieht"
3050 (Adorno 1973, 47). Die konstitutive Struktur, der Wert, ist keine
3051 isolierte, unbewegliche Instanz, die auf andere Instanzen diese oder
3052 jene Wirkung aus�bt. Sie erzeugt vielmehr unabl„ssig neue Formen, in
3053 denen sie sich zugleich manifestiert und verbirgt - so wie es Hegel
3054 f�r die Sph„ren des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes
3055 beschrieben hat, Marx f�r die verschiedenen 'Verkn”cherungen' des
3056 Mehrwerts vom Profit �ber den Produktionspreis bis hin zu den
3057 'mystischen' Formen von Zins, Arbeitslohn und Rente. Das Wesen muá
3058 erscheinen; die Gesamtheit seiner Erscheinungen aber ist: das System.
3059 Das System ist die dialektische Ordnung der Erscheinungsformen der
3060 Struktur, die Struktur wiederum ist nichts anderes als das System, auf
3061 seinen einfachsten und abstraktesten Ausdruck gebracht. Der hier von
3062 Adorno anvisierte Theorietypus lieáe sich am angemessensten als eine
3063 'strukturalistische Systemtheorie' charakterisieren, die die
3064 Einsichten des Strukturalismus und der Systemtheorie aufnimmt, sie
3065 aber dialektisiert und dadurch ihre Einseitigkeiten vermeidet.
\r
3067 \x04\x02Es ist nur scheinbar ein Widerspruch hierzu, wenn Adorno an
3068 anderer Stelle davon spricht, daá sich das dialektische Denken
3069 zunehmend von der Systemform entfernen m�sse, oder wenn er die
3070 negative Dialektik geradezu als 'Antisystem' definiert (GS 8, 308; GS
3071 20.1, 165ff; GS 6, 10). Gewiá gibt es neben dem Sch�ler Hegels und
3072 Marxens auch den Sch�ler Nietzsches und Benjamins, dessen
3073 antisystematische Affekte sich methodisch in der Bevorzugung der
3074 'Mikrologie' und des Aphorismus niederschlagen und mitunter in
3075 emphatischen Bekenntnissen kulminieren wie demjenigen, daá der
3076 wirklich freie Gedanke mit dem System unvereinbar sei (Adorno 1974,
3077 266). Es w„re indes ein v”lliges Miáverst„ndnis von Adornos Position,
3078 wenn man darin eine Absage an das systematische Denken oder gar eine
3079 Leugnung des Systemcharakters der gesellschaftlichen Realit„t sehen
3080 wollte. Daá die b�rgerliche Gesellschaft ein System ist, eine Einheit
3081 also, die aus einem Punkt heraus erzeugt und nicht nur die „uáerliche
3082 Ordnung eines vorgegebenen Stoffes ist, steht f�r Adorno auáer Frage,
3083 ebenso wie die G�ltigkeit der Kategorien, mit denen Hegel und vor
3084 allem Marx dieses System beschrieben haben. Anders w„re seine im
3085 Positivismusstreit immer wieder ge„uáerte Mahnung unverst„ndlich, daá
3086 die Soziologie ihr Objekt verfehle, wenn sie darauf verzichte,
3087 "Gesellschaft als System" zu denken, wenn sie sich mit bloáen
3088 Systematisierungen begn�ge, anstatt "das den Prozeduren und Daten
3089 wissenschaftlicher Erkenntnis vorgeordnete System der Gesellschaft" zu
3090 rekonstruieren (GS 8, 210, 356). Die Mikrologie setzt an jedem Punkt
3091 die G�ltigkeit der Marxschen Strukturanalysen voraus, sie ist m”glich
3092 nur auf dem Boden des dialektischen Begriffs, auch wenn sie darauf
3093 verzichtet, diesen im Einzelfall zu explizieren. Bei aller Kritik, die
3094 Adorno an Hegels Identifikation des Systems mit dem absoluten Subjekt
3095 \fge�bt hat, hat er doch an der Notwendigkeit und Angemessenheit des
3096 Systembegriffs zu keiner Zeit einen Zweifel gelassen:
\r
3098 \x04\x06\x19\x10"Ist jenes Subjekt-Objekt, zu dem seine (scil. Hegels) Philosophie sich entwickelt, kein System des vers”hnten absoluten
3099 Geistes, so erf„hrt der Geist doch die Welt als System. Sein Name trifft den unerbittlichen Zusammenschluá aller Teilmomente und
3100 Teilakte der b�rgerlichen Gesellschaft durch das Tauschprinzip zu einem Ganzen genauer als irrationalere wie der des Lebens,
3101 selbst wenn dieser der Irrationalit„t der Welt, ihrer Unvers”hntheit mit den vern�nftigen Interessen einer ihrer selbst bewuáten
3102 Menschheit, besser anst�nde. Nur ist die Vernunft jenes Zusammenschlusses zur Totalit„t selber die Unvernunft, die Totalit„t des
3103 Negativen" (GS 5, 324): eben die des Tauschs, der die Einzelnen einem ihnen fremden Gesetz unterwirft.
\r
3105 \x04\x02Daá diese Negativit„t das System, das sie konstituiert, zugleich
3106 in den Untergang treibt, wird weiter unten darzustellen sein.
\r
3110 \x04\x022. Der zentrale Stellenwert, den die dialektische Theorie dem
3111 Systembegriff zuweist, hat ihr wenig Anerkennung bei derjenigen
3112 Theorie eingetragen, die sich diesen Begriff f�r ihre
3113 Selbstbeschreibung zu eigen gemacht hat: der Systemtheorie. Vom
3114 "ehrw�rdige(n) Konzept der b�rgerlichen bzw. proletarischen,
3115 wirtschaftlich konstituierten Gesellschaft" (1974, 217) spricht
3116 Luhmann im gleichen Ton wie ein Raketenkonstrukteur von den Bem�hungen
3117 des Schneiders von Ulm; vom "negatorische(n) Apparat b�rgerlicher
3118 Gesellschaftskritik im Sinne von Rousseau, Hegel oder Marx" (1979,
3119 105) wie von einem �berfl�ssigen Ballast, dessen man sich tunlichst
3120 entledigen sollte. Zwar konzediert Luhmann diesem Theorietypus das
3121 "Erstgeburtsrecht als reflexive Theorie", doch bem„ngelt er
3122 gleichzeitig "die eigent�mliche Schmalspurigkeit, die zu geringe und
3123 zu unbestimmte Komplexit„t, die Fixierung auf wenige Gesichtspunkte,
3124 an die man mit vermeintlich eindeutigen Effekten Negationen ankn�pfen
3125 kann" (1982, 193).
\r
3127 \x04\x02Die Gr�nde f�r diese absch„tzig-distanzierende Haltung sind rasch
3128 benannt. Die Theorie der b�rgerlichen Gesellschaft, sowohl in ihrer
3129 affirmativen als auch in ihrer kritischen Gestalt, ist nach Luhmann
3130 die letzte in einer Serie von Selbstthematisierungen des
3131 Gesellschaftssystems, die die Gesellschaft unzureichend, n„mlich auf
3132 der Basis ontologischer und anthropologischer Pr„missen zu begreifen
3133 versuchte. Im Gegensatz zu der bis auf Aristoteles zur�ckgehenden
3134 'alteurop„ischen' Lehre, welche die Gesellschaft als societas civilis,
3135 d.h. als prim„r politisch konstituierte Ordnung verstand, habe die
3136 Theorie der b�rgerlichen Gesellschaft zwar neues Terrain betreten,
3137 indem sie den Akzent auf das Wirtschaftssystem verlagert habe; doch
3138 seien die anthropologisch-ontologischen Begr�ndungsmuster im Prinzip
3139 beibehalten worden. Wie die Aristoteliker den Primat der Politik,
3140 h„tten auch die b�rgerlichen Theoretiker den Primat der ™konomie mit
3141 Naturbegriffen begr�ndet und ihre Gesellschaftskonzeption darauf
3142 aufgebaut - wobei es nach Luhmann eine zweitrangige Frage ist, ob
3143 diese Naturbegriffe naturrechtlicher oder materialistischer Provenienz
3144 waren: beide Ans„tze h„tten die Gesellschaft als Aggregat von
3145 nat�rlichen Bed�rfnissen und Befriedigungsm”glichkeiten konzipiert und
3146 die Teilsysteme auf dieses Kernsystem bezogen (1974, 142, 206). Marx
3147 erscheint aus dieser Sicht gleichsam nur als Schluápunkt in der
3148 Selbstthematisierung der b�rgerlichen Gesellschaft, sein Materialismus
3149 nicht als Durchbruch zu einer neuen, die b�rgerliche Welt
3150 transzendierenden Auffassung, sondern als b�rgerliche Philosophie par
3151 excellence (1981, 235). Obwohl Luhmann nicht ausschlieát, daá von der
3152 marxistisch-sozialistischen Selbstkritik der b�rgerlichen Gesellschaft
3153 \fbestimmte politische Effekte ausgehen k”nnten, h„lt er deren Potential
3154 doch f�r ersch”pft. Ein wirkliches Verst„ndnis, das sich auf der H”he
3155 der Zeit befindet, ist nach seiner šberzeugung weder von den
3156 Apologeten der b�rgerlichen Gesellschaft zu erwarten noch von deren
3157 Kritikern. Gefordert ist vielmehr eine grundlegende Neuorientierung,
3158 die die Gesellschaftstheorie von anthropologischen und humanistischen
3159 Pr„missen abkoppelt und auf ein anderes, die Eigenst„ndigkeit und
3160 Eigenlogik des Sozialen ber�cksichtigendes Fundament stellt.
\r
3162 \x04\x02Nun ist sicher nicht zu bestreiten, daá ontologische Motive in dem
3163 von Luhmann inkriminierten Sinne eine wichtige Rolle in der
3164 materialistischen Dialektik spielen: nicht bloá in den kruden
3165 Varianten, die man in den Lehrb�chern des real kaum noch existierenden
3166 Sozialismus findet, sondern schon bei Marx, der seine
3167 Revolutionstheorie vollst„ndig auf eine Ontologie der Arbeit gr�ndet,
3168 und auch bei Adorno, der im Gebrauchswert das "Ineffabile der Utopie"
3169 sieht und seine Kritik am b�rgerlichen System auf die Idee eines
3170 "Vorrangs des Objekts" st�tzt (vgl. GS 6, 22, 184ff.). Was indes die
3171 \x18\x02Darstellung
\x18\x02 dieses System betrifft, die Untersuchung seines inneren
3172 Baus, so greift Luhmanns Kritik zu kurz. Weder Marx noch Adorno
3173 benutzen Naturbegriffe oder ontologische Argumente. Vielmehr zeigen
3174 sie pr„zise, daá die b�rgerliche Gesellschaft anstatt auf der
3175 konkreten Arbeit oder dem Bed�rfnis auf der
\x18\x02Abstraktion
\x18\x02 von der Arbeit
3176 und vom Bed�rfnis beruht, auf Verh„ltnissen, die sich hinter dem
3177 R�cken der handelnden Personen herausbilden und sich zu einem
3178 hochkomplexen Gef�ge verdinglichter und subjektivierter Bestimmungen
3179 entfalten. Daá Luhmann dies im �brigen nicht ganz fremd ist, zeigt
3180 sich an solchen Stellen, an denen er auf Marxsche Analysen (wie etwa
3181 die des Geldes) rekurriert und ihnen "ihr volles Recht" bescheinigt
3184 \x04\x02Luhmanns Vorschlag, die Gesellschaft unter Absehung von allen
3185 empirisch-materiellen Elementen zu definieren, kann man unter diesen
3186 Umst„nden wohl kaum als die kopernikanische Revolution begreifen, als
3187 die er ihn pr„sentiert. Weit davon entfernt, die dialektische Theorie
3188 durch einen radikalen Paradigmenwechsel zu
\x18\x02�ber
\x18\x02holen,
\x18\x02wieder
\x18\x02holt er
3189 lediglich (ohne allerdings die Begr�ndung mitzuvollziehen) deren
3190 Einsicht, daá der gesellschaftliche Lebensprozeá unter b�rgerlichen
3191 Produktionsbedingungen in doppelter Gestalt erscheint: als
3192 gegenst„ndlich-materielle, aber private Produktion einerseits, als
3193 gesellschaftlicher, aber immaterieller Zusammenhang andererseits.
3194 Konkret und privat im Sinne von ungesellschaftlich, das sind nach
3195 Luhmann die Individuen, die als autonome, 'autopoietische' Systeme
3196 "auáerhalb aller sozialen Systeme" operieren und dabei, obwohl
3197 wesentlich Bewuátsein, doch einen engen Bezug zum organisch-
3198 materiellen Leben haben (1985, 359, 296f.). Die Gesellschaft hingegen
3199 ist Kommunikation und nichts als Kommunikation. Sie konstituiert sich
3200 zwar aus den Erwartungen und Kommunikationen psychischer Systeme, geht
3201 aber in dieser ihrer Genesis nicht auf, bildet "eine freischwebend
3202 konsolidierte Realit„t, ein sich selbst gr�ndendes Unternehmen" (ebd.
3203 173), eben 'reine' Kommunikation.
\r
3205 \x04\x06\x19\x10"Ganz grob kann man das System der Gesellschaft charakterisieren als Gesamtheit der f�reinander zug„nglichen,
3206 kommunikativ erreichbaren Erlebnisse und Handlungen. Kommunikation verwebt die Gesellschaft zur Einheit" (1981, 309).
\r
3208 \x04\x02Ersetzt man Kommunikation durch Zirkulation, so hat man exakt die
3209 Marxsche These, nach der die b�rgerliche Gesellschaft ihre Einheit und
3210 ihren Selbstbezug allein verm”ge der Ausdifferenzierung einer
3211 \feigenst„ndigen Sph„re der abstrakten Allgemeinheit
\x18\x02neben und auáer
\x18\x02 der
3212 empirisch-materiellen Dimension der Produktion und des Konsums
3213 herzustellen vermag.
\r
3215 \x04\x02Die eigentliche Differenz zwischen Systemtheorie und Dialektik
3216 liegt deshalb nicht darin, daá die erstere Gesellschaft auf
3217 Kommunikation reduziert und alle nichtkommunikativen Elemente, die mit
3218 der Aneignung der Natur zusammenh„ngen, eskamotiert (so Ganámann
3219 1986a, 148ff.). Daá in der b�rgerlichen Gesellschaft die in der
3220 Produktion erfolgende Naturaneignung nicht unmittelbar
3221 gesellschaftlich ist, es vielmehr erst durch die Vermittlung der
3222 Zirkulation wird, ist schlieálich der Kardinaleinwand der Marxschen
3223 Theorie gegen die Warenproduktion. Die Differenz liegt auf der
3224 methodischen Ebene, in der Art und Anordnung der Kategorien, aus denen
3225 das b�rgerliche System besteht. W„hrend f�r die Kritische Theorie
3226 Gesellschaft eine Vermittlungskategorie ist, die zwar nicht im
3227 identischen Subjekt-Objekt, wohl aber in einer konstitutiven Struktur
3228 (dem 'Wesensgesetz') gr�ndet und von diesem 'inneren Kern' her
3229 rekonstruiert werden muá, lehnt Luhmann einen solchen Ansatz ab. Da er
3230 den Strukturbegriff nur in der Fassung kennt, wie er innerhalb der
3231 funktionalistischen Tradition durch Parsons und Merton �berliefert ist
3232 - als Manifestation invarianter, nichtkontingenter Beziehungen
3233 zwischen Elementen (1985, 377ff.) -, kann er der Struktur allenfalls
3234 im Hinblick auf vormoderne Gesellschaften einen privilegierten Rang
3235 zugestehen; f�r die moderne Gesellschaft dagegen erscheint ihm die
3236 Struktur, von dieser Pr„misse her durchaus konsequent, als gegen�ber
3237 der Funktion von zweitrangiger Bedeutung. Die Einheit der modernen
3238 Gesellschaft, so konstatiert er, existiere nur in der Differenz der
3241 \x04\x06\x19\x10"sie ist nichts anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit. Sie ist nichts anderes als die Umsetzung
3242 dieser Struktur in ein Miteinander von hochgetriebener Unabh„ngigkeit und Abh„ngigkeit. Sie ist, mit anderen Worten, die dadurch
3243 entstandene, evolution„r h”chst unwahrscheinliche Komplexit„t" (1986, 216f.).
\r
3245 \x04\x02Diese Auffassung darf nun nicht so verstanden werden, als gebe es
3246 nach Luhmann kein Gesamtsystem, als sei die Gesellschaft nichts weiter
3247 als die Summe der von den Teilsystemen erf�llten Funktionen. Auch
3248 Luhmanns Entwurf bleibt insofern der Tradition
3249 gesamtgesellschaftlicher Theorie verpflichtet, als in ihm der
3250 Gesellschaftsbegriff Begr�ndungsfunktionen erf�llt, "das heiát den
3251 Horizont des M”glichen und Erwartbaren definiert und letzte
3252 grundlegende Reduktionen einrichtet" (1974, 145). Diese
3253 Begr�ndungsfunktion manifestiert sich erstens nach auáen, in der
3254 Abgrenzung des Sozialen vom Nichtsozialen, die durch die
3255 Unterscheidung von Kommunikation und Nichtkommunikation erreicht wird.
3256 "Gesellschaft betreibt Kommunikation, und was immer Kommunikation
3257 betreibt, ist Gesellschaft" (1985, 555). Sie manifestiert sich
3258 zweitens in der internen Strukturierung, im Aufbau von Teilsystemen,
3259 die auf bestimmte, nur ihnen zurechenbare Funktionen spezialisiert
3260 sind. Und sie manifestiert sich drittens
\x18\x02auch
\x18\x02 in einem Zugriff auf
3261 diese Teilsysteme, der daf�r sorgt, daá sich keines derselben auf
3262 Kosten anderer Teilsysteme totalisiert: z.B. durch Einbau von
3263 Beschr„nkungen in die Reflexionsstruktur der Teilsysteme (1977, 245).
3264 Insofern kann auch Luhmann von der "Einheit der Gesellschaft" sprechen
3265 und Dimensionen angeben, in denen diese Einheit sich zeigt (vgl. 1974,
3266 147, 149; 1985, 37f.; 1986, 202, 205).
\r
3268 \x04\x02Der Unterschied zur dialektischen Theorie liegt darin, daá diese
3269 \fEinheit den Ph„nomenen „uáerlich bleibt, mit ihnen nicht vermittelt
3270 ist. Gelangt f�r Adorno die gesellschaftliche Determinierung in den
3271 Ph„nomenen selbst zum Ausdruck, so daá die deutende Analyse das
3272 Einzelne auf sein Allgemeines hin durchsichtig zu machen vermag, so
3273 rutscht sie bei Luhmann gleichsam zwischen die Ph„nomene, in die
3274 "Interdependenz und (den) Abstimmungszwang unter den Folgeproblemen
3275 st„rkerer Differenzierung" (1974, 147). Die Teilsysteme sind in der
3276 modernen Gesellschaft per definitionem nicht Manifestationen der
3277 Gesamtgesellschaft bzw. der konstitutiven Struktur, sie sind
3278 Manifestationen einer Funktion und damit gerade nicht des Ganzen; daá
3279 sie gleichwohl einem �bergeordneten Zusammenhang angeh”ren, zeigt sich
3280 nicht in ihnen selbst, sondern nur in ihrer Umwelt, in der
3281 Mannigfaltigkeit innergesellschaftlicher System-Umwelt-Differenzen.
3282 Von hier aus wird die eigenwillige, der Auffassung Adornos kontr„r
3283 entgegengesetzte Deutung verst„ndlich, die Luhmann dem
3284 traditionsreichen Begriff der Integration verleiht:
\r
3286 \x04\x06\x19\x10"Mit dem šbergang von segment„rer zu schichtenm„áiger und von schichtenm„áiger zu funktionaler Prim„rdifferenzierung
3287 des Gesellschaftssystems „ndert sich die Zugriffsform des gesamtgesellschaftlichen Systems auf die Teilsysteme; sie verlagert sich
3288 von den
\x18\x03Strukturen der Teilsysteme
\x18\x03 auf ihre
\x18\x03innergesellschaftliche Umwelt
\x18\x03. Die Gesellschaft kann bei zunehmender Komplexit„t
3289 immer weniger garantieren, daá alle Teilsysteme unter gleichen Strukturen gleichf”rmig operieren und sich aus diesem Grunde
3290 nicht �berm„áig belasten. Integration muá vielmehr dadurch vermittelt werden, daá
\x18\x03alle Teilsysteme f�reinander
3291 innergesellschaftliche Umwelt
\x19\x18\x18\x03 \x19\x10\x18\x03sind
\x18\x03. Ein Teilsystem geh”rt dann weniger dadurch der Gesellschaft an, daá es in seiner Strukturwahl
3292 sich nach den Erfordernissen, Werten oder gar Normen richtet, die f�r alle Systeme gelten, sondern dadurch, daá es sich an einer
3293 nichtbeliebig geordneten, als Gesellschaft garantierten und vorstrukturierten Umwelt auszurichten hat" (1977, 243f.).
\r
3295 \x04\x02Gegen�ber diesem Ansatz sind unterschiedliche Reaktionsformen
3296 m”glich. Man kann ihn in toto zur�ckweisen und von auáen her, etwa vom
3297 Standpunkt einer dialektisch-materialistischen Konzeption, monieren,
3298 daá Luhmann der Oberfl„che der b�rgerlichen Gesellschaft verhaftet
3299 bleibt und beispielsweise auáerstande ist, den Geldfetisch zu
3300 durchschauen (Blanke/J�rgens/Kastendiek 1975, 381ff.; Giegel 1975,
3301 96ff.; Ganámann 1986). Das mag zutreffen, endet aber in den meisten
3302 F„llen mit einer Rehabilitation eben jener Philosophie der Arbeit,
3303 deren mangelnde Tragf„higkeit Luhmann wohl zu Recht herausstellt. Man
3304 kann ferner immanent-kritisch fragen, ob Luhmann sein eigenes
3305 "postdialektisches Forschungsprogramm" realisiert und Analysen
3306 entwickelt, aus denen hervorgeht,
\x18\x02wie
\x18\x02 die Gesellschaft die ihr
3307 zugewiesene Aufgabe der Einregulierung der innergesellschaftlichen
3308 Umwelt erf�llt; wobei man dann feststellen wird, daá sich der sonst so
3309 beredte Autor an dieser 'theoriebautechnisch' so wichtigen
3310 Scharnierstelle in Schweigen h�llt. Jedenfalls hat Luhmann
3311 bemerkenswert wenig Energie daran gesetzt, den "Leerplatz" zu f�llen,
3312 den er schon 1970 an der Stelle einer den heutigen Verh„ltnissen
3313 angemessenen Theorie des Gesellschaftssystems entdeckte (1974, 152).
\r