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[reichenbach.git] / Hans_Reichenbach_-_Relativitaetstheorie_und_Erkenntnis_apriori.txt
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4 \usepackage{nccfoots}\r
5 \r
6 % \erratum - mark changes with respect to the original book\r
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8 % Second arg: corrected version\r
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20 \begin{document}\r
21 RELATIVITÄTSTHEORIE\r
22 UND ERKENNTNIS APRIORI\r
24 VON\r
26 HANS REICHENBACH\r
28 BERLIN\r
30 VERLAG VON JULIUS SPRINGER\r
32 1920\r
33 \newpage\r
34 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung\r
35 in fremde Sprachen, vorbehalten.\r
37 Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.\r
38 \newpage\r
39 ALBERT EINSTEIN\r
41 GEWIDMET\r
46 %Inhaltsübersicht.\r
47 %\r
48 %/*\r
49 %  Seite\r
50 %\r
51 %I. Einleitung      1\r
52 %\r
53 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten\r
54 %Widersprüche      6\r
55 %\r
56 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten\r
57 %Widersprüche      21\r
58 %\r
59 %IV. Erkenntnis als Zuordnung      32\r
60 %\r
61 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung\r
62 %Kants      46\r
63 %\r
64 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die\r
65 %Relativitätstheorie      59\r
66 %\r
67 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische\r
68 %Methode      71\r
69 %\r
70 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der\r
71 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes      89\r
72 %\r
73 %Literarische Anmerkungen      104\r
74 %*/\r
79 \chapter*{I. Einleitung.}\r
80 \page{1}\r
82 Die \erratum{\name{Einsteinsche}}{\name{Einstein}sche} Relativitätstheorie hat die philosophischen\r
83 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung\r
84 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu\r
85 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie\r
86 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als\r
87 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in\r
88 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie\r
89 nur Behauptungen über \emph{physikalische} Meßbarkeitsverhältnisse\r
90 und physikalische \emph{Größenbeziehungen} \erratum{auf\r
92 aber}{auf, aber} es muß durchaus zugegeben werden, daß diese\r
93 speziellen Behauptungen den allgemeinen \emph{philosophischen}\r
94 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen\r
95 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen\r
96 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen\r
97 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte\r
98 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;\r
99 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die\r
100 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer\r
101 physikalischen Annahmen gemacht.\r
103 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere\r
104 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.\r
105 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht\r
106 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse\r
107 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem\r
108 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist\r
109 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,\r
110 auch zu dem Zeitbegriff \name{Kants}. Man hat\r
111 \page{2}\r
112 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem\r
113 man die \glqq{}physikalische Zeit\grqq{} von der \glqq{}phänomenologischen\r
114 Zeit\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die\r
115 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis} immer die irreversible\r
116 Folge blieb. Aber in \name{Kants} Sinne ist diese Trennung\r
117 sicherlich nicht. Denn für \name{Kant} ist es gerade das Wesentliche\r
118 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine \emph{Bedingung\r
119 der Naturerkenntnis} bildet, und nicht bloß\r
120 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er\r
121 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung\r
122 \glqq{}affizieren\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,\r
123 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form\r
124 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente\r
125 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde\r
126 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische\r
127 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,\r
128 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts\r
129 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn\r
130 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände\r
131 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie\r
132 %sic: No name-markup on the next line - verified from scan\r
133 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.\r
135 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese\r
136 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde\r
137 nichts Geringeres behauptet, als \emph{daß die euklidische\r
138 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden\r
139 dürfte}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser\r
140 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit\r
141 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung\r
142 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung\r
143 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher\r
144 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich\r
145 evidenten Axiomen \name{Euklids} widersprechen.\r
146 \page{3}\r
147 \name{Riemann} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in\r
148 analytischer Form begründet, in der der \glqq{}ebene\grqq{} Raum\r
149 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche\r
150 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen\r
151 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,\r
152 daß man sie als \emph{anschaulich evident} von den anderen\r
153 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen\r
154 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne \name{Kants} -- die\r
155 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung\r
156 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden\r
157 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie\r
158 auf einen Einwand gegen ihre rein \emph{begriffliche}\r
159 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der\r
160 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte\r
161 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die\r
162 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung\r
163 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden\r
164 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von\r
165 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der\r
166 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein\r
167 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über\r
168 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt\r
169 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches\r
170 Schema ersetzt werden könnte\litref{1}. Gegenüber\r
171 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen\r
172 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken\r
173 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie\r
174 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen\r
175 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt \emph{falsch} wären.\r
176 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten\r
177 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,\r
178 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht\r
179 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung\r
180 \page{4}\r
181 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.\r
182 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie\r
183 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein\r
184 Zweifel, daß \name{Kants} transzendentale Ästhetik von der\r
185 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;\r
186 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer\r
187 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie\r
188 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität\r
189 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so\r
190 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der \emph{Ungültigkeit}\r
191 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.\r
193 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist\r
194 die Relativitätstheorie falsch, oder die \name{Kant}ische Philosophie\r
195 bedarf in ihren \name{Einstein} widersprechenden Teilen\r
196 einer Änderung\litref{2}. Der Untersuchung dieser Frage ist die\r
197 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint\r
198 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,\r
199 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung\r
200 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung\r
201 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es\r
202 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos\r
203 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische\r
204 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir\r
205 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst\r
206 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,\r
207 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen\r
208 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen\r
209 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie\r
210 für ihre Behauptungen anführt\litref{3}. Danach untersuchen\r
211 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,\r
212 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie \name{Kants} einschließt,\r
213 und indem wir diese den Resultaten unserer\r
214 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden\r
215 \page{5}\r
216 wir, in welchem Sinne die Theorie \name{Kants} durch\r
217 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann\r
218 eine solche Änderung des Begriffs \glqq{}apriori\grqq{} durchführen,\r
219 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr\r
220 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie\r
221 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine\r
222 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.\r
223 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische\r
224 Methode.\r
229 \chapter*{II. Die von der speziellen Relativitätstheorie\r
230 behaupteten Widersprüche.}\r
231 \page{6}\r
233 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt\r
234 das Wort apriori im Sinne \name{Kants} gebrauchen, also dasjenige\r
235 apriori nennen, was die Formen der Anschauung\r
236 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir\r
237 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche\r
238 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien\r
239 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche\r
240 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der\r
241 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die \emph{Geltung}\r
242 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori\r
243 nicht vorweggenommen sein\litref{4}.\r
245 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese\r
246 Theorie auch heute noch als für \emph{homogene} Gravitationsfelder\r
247 gültig ansehen -- behauptet \name{Einstein}, daß das\r
248 \name{Newton-Galilei}sche Relativitätsprinzip der Mechanik\r
249 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
250 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der\r
251 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen\r
252 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit\r
253 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.\r
254 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:\r
255 Auf welche Voraussetzungen stützen sich \name{Einstein}s\r
256 Prinzipien?\r
258 Das \name{Galilei}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein\r
259 \page{7}\r
260 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein\r
261 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen\r
262 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt\r
263 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil\r
264 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand\r
265 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende\r
266 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung\r
267 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische\r
268 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber\r
269 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits\emph{änderungen}\r
270 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung\r
271 kennen, an das Auftreten einer \emph{Beschleunigung} geknüpft\r
272 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren\r
273 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das \name{Galilei}sche\r
274 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.\r
276 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form\r
277 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von\r
278 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig\r
279 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen\r
280 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik\r
281 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser\r
282 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form\r
283 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.\r
284 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,\r
285 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die\r
286 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte\r
287 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,\r
288 wie im alten, daß also der \emph{Funktionalzusammenhang}\r
289 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller\r
290 als die \name{Galilei}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung\r
291 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier\r
292 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen\r
293 an, bei welchen die Erhaltung des\r
294 \page{8}\r
295 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung\r
296 der Kraft\emph{größen} herbeigeführt wird. Daß es solche\r
297 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings\r
298 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische\r
299 \emph{Gesetz}, und nicht nur die \emph{Kraft}, invariant gegen\r
300 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer\r
301 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen\r
302 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen\r
303 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist\r
304 durch die Verteilung und die Natur der \emph{Dinge}, und die\r
305 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang\r
306 haben kann. Für den \name{Kant}ischen Standpunkt, auf dem\r
307 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und\r
308 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die\r
309 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,\r
310 daß gegen die \name{Galilei-Newton}schen Gesetze\r
311 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von\r
312 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben\r
313 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs\r
314 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,\r
315 liegt für den Philosophen kein Grund vor;\r
316 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts\r
317 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch\r
318 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung\r
319 der Geschehnisse äquivalent sein. \name{Mach}\r
320 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken\r
321 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn\r
322 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand\r
323 hat \name{Einstein} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie\r
324 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal\r
325 genug sei. Erst \name{Einstein} selbst hat seiner Theorie diesen\r
326 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine\r
327 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die \name{Kant}ische\r
328 \page{9}\r
329 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend\r
330 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;\r
331 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht\r
332 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,\r
333 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik\r
334 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung\r
335 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern\r
336 lag, um von ihr erkannt werden zu können.\r
338 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische\r
339 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische\r
340 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als\r
341 \name{Einstein} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung\litref{5} zur\r
342 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,\r
343 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange\r
344 zeigen.\r
346 \name{Einstein} ging davon aus, daß man, um in einem\r
347 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die\r
348 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter\r
349 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang\r
350 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu\r
351 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses\r
352 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann\r
353 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die\r
354 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an\r
355 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen\r
356 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung\r
357 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle\r
358 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition\r
359 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen\r
360 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,\r
361 also eine negative Auswahl treffen. In jeder \glqq{}Koordinatenzeit\grqq{}\r
362 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert\r
363 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die\r
364 \page{10}\r
365 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von\r
366 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme\r
367 ansetzt.\r
369 Es ist keineswegs gesagt, daß diese \emph{einfachste} Annahme\r
370 auch \emph{physikalisch zulässig} ist. Sie führt z.\,B.,\r
371 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der\r
372 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),\r
373 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere\r
374 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens\r
375 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten\r
376 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition\r
377 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit\r
378 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit\r
379 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt\r
380 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit\r
381 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen\r
382 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.\,h. ob nicht\r
383 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden\r
384 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch\r
385 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als\r
386 Entscheidung darüber konnte der \name{Michelson}sche Versuch\r
387 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
388 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem\r
389 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen\r
390 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage\r
391 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit\r
392 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat\r
393 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung\r
394 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben\r
395 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete\r
396 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der\r
397 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste\r
398 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die\r
399 \page{11}\r
400 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall\r
401 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.\r
403 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung\r
404 der speziellen Relativitätstheorie die empirische\r
405 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials\r
406 erhebt sich der tiefe Gedanke \name{Einsteins}: \emph{daß\r
407 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese\r
408 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten\r
409 unmöglich ist}. Auch die alte Definition einer\r
410 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:\r
411 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich\r
412 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung\r
413 gibt.\r
415 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist\r
416 \name{Einstein} eingewandt worden, daß seine Überlegungen\r
417 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln\r
418 niemals zu einer genauen \glqq{}absoluten\grqq{} Zeit kommen\r
419 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend\r
420 approximativen Messung müßte festgehalten\r
421 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die \glqq{}absolute\grqq{} Zeit\r
422 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit\r
423 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren\r
424 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung\r
425 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen\r
426 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht\r
427 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts\r
428 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei\r
429 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung\r
430 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,\r
431 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt\r
432 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei\r
433 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine\r
434 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip\r
435 \page{12}\r
436 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,\r
437 wie etwa \name{Kant} die Unzerstörbarkeit der Substanz\r
438 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten\r
439 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden\r
440 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige\r
441 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.\r
442 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten\r
443 eine obere Grenze nicht geben. Darüber\r
444 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist\r
445 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade\r
446 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur\r
447 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung\r
448 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie\r
449 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger\r
450 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar\r
451 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese\r
452 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht\r
453 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,\r
454 in denen z.\,B. die kinetische Energie eines Massenpunktes\r
455 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich\r
456 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,\r
457 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,\r
458 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere\r
459 Grenze der Temperatur zu unterschreiten\Footnote{a}\r
460 {Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur\r
461 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören\r
462 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen\r
463 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,\r
464 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.\r
465 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische\r
466 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.}, kann auch\r
467 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch\r
468 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das\r
469 \page{13}\r
470 andere, aber es handelt sich hier gerade um das \emph{physikalisch\r
471 Erreichbare}. Wenn ein physikalisches Gesetz\r
472 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze\r
473 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die \glqq{}absolute\grqq{}\r
474 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des\r
475 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von\r
476 einer \glqq{}idealen Zeit\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe\r
477 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch\r
478 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch\r
479 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten\litref{6}).\r
481 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip\r
482 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur\r
483 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten\r
484 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),\r
485 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute\r
486 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch\r
487 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide\r
488 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,\r
489 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der\r
490 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten\r
491 ist aber eine empirische Angelegenheit\r
492 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von\r
493 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem\r
494 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare\r
495 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip\r
496 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken\r
497 vollzieht dabei \name{Einsteins} Entdeckung, daß die\r
498 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung\r
499 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden\r
500 kann.\r
502 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls\r
503 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit\r
504 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die\r
505 \page{14}\r
506 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.\r
507 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert\r
508 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit\r
509 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.\r
510 Allerdings wird sich der experimentelle\r
511 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit\r
512 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen\r
513 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir\r
514 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze\r
515 ist, z.\,B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung\r
516 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische\r
517 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit\r
518 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;\r
519 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch\r
520 der \name{Michelson}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn\r
521 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des\r
522 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.\r
523 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine\r
524 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den\r
525 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste\r
526 Extrapolation verwendet, das \emph{Prinzip der\r
527 normalen Induktion} nennen. Allerdings verbirgt sich\r
528 hinter dem Begriff \glqq{}\emph{wahrscheinlichste Extrapolation}\grqq{}\r
529 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf\r
530 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die\r
531 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen\r
532 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl\r
533 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden\r
534 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches\r
535 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.\r
536 Denken wir uns z.\,B. die Werte der kinetischen Energie\r
537 des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0--99\% der\r
538 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und\r
539 \page{15}\r
540 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die\r
541 sich bei 100\% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.\r
542 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve\r
543 zwischen 99\% und 100\% noch einen Knick macht,\r
544 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins\r
545 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der\r
546 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,\r
547 den \name{Michelson}schen Versuch eingerechnet, nicht\r
548 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten\r
549 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer\r
550 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,\r
551 um seinen aprioren Charakter im Sinne des\r
552 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im\r
553 Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung\r
554 dieses Prinzips näher eingehen.\r
556 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,\r
557 daß die Prinzipien:\r
558 \begin{itemize}\r
559 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten\r
560 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität\r
561 \item Prinzip der Nahewirkung\r
562 \item Prinzip des approximierbaren Ideals\r
563 \item Prinzip der normalen Induktion\r
564 \item Prinzip der absoluten Zeit\r
565 \end{itemize}\r
566 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar\r
567 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit\r
568 gleichem Recht \emph{apriore} Prinzipien nennen. Zwar sind\r
569 sie nicht alle von \name{Kant} selbst als apriori genannt. Aber\r
570 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem\r
571 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,\r
572 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir\r
573 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit\r
574 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen\r
575 \page{16}\r
576 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere\r
577 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige\r
578 dieser Prinzipien, z.\,B. das der Nahewirkung, bestritten\r
579 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen\r
580 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien\r
581 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das\r
582 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung\r
583 besonders aufführten, in ihnen nochmals\r
584 implizit enthalten.\r
586 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen\r
587 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum \emph{Kausalprinzip}\r
588 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität\r
589 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale\r
590 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann\r
591 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema\r
592 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten\r
593 Charakter hat.\r
595 \name{Minkowski} hat den \name{Einstein}schen Gedanken eine\r
596 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer\r
597 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_{4}$-Koordinate\r
598 durch $x_{4} = i c t$ und leitet die Lorentztransformation\r
599 aus der Forderung ab, daß das Linienelement\r
600 der 4-dimensionalen Mannigfaltigkeit\r
601 \[\r
602 \diff{s}^{2} = \sum_{1}^{4} \diff{x_\nu}^{2}\r
603 \]\r
604 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen\r
605 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören\r
606 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip\r
607 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als\r
608 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
609 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen\r
610 in die eine der \r
611 \page{17}\r
612 \emph{Relativität aller orthogonalen\r
613 Transformationen in der Minkowski-Welt}. Die\r
614 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam\r
615 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der\r
616 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene\r
617 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern\r
618 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird\r
619 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem\r
620 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen\r
621 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für\r
622 die einzelnen Systeme verschieden wäre.\r
624 Man muß jedoch beachten, daß das \name{Minkowski}sche\r
625 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare\r
626 Formulierung der \name{Einstein}schen Gedanken. An deren\r
627 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie\r
628 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,\r
629 denn die Einführung der vierten Koordinate\r
630 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet\r
631 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit\r
632 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind\r
633 raumartige und zeitartige Vektoren in der \name{Minkowski}-Welt\r
634 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch\r
635 mögliche Transformation ineinander überführen.\r
637 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine\r
638 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen\r
639 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen\r
640 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen\r
641 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.\r
642 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,\r
643 das in unseren Überlegungen eine so\r
644 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben\r
645 worden.\r
647 Nach \name{Einsteins} zweiter Theorie gilt die spezielle\r
648 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen\r
649 \page{18}\r
650 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.\,B. die\r
651 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so\r
652 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit\r
653 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle\r
654 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt\r
655 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall\r
656 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung\r
657 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die\r
658 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.\r
659 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,\r
660 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,\r
661 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß\r
662 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere\r
663 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn\r
664 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener\r
665 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier\r
666 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen\r
667 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch\r
668 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber\r
669 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten\r
670 als $c = 3 \cdot 10^{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die\r
671 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit\r
672 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.\r
674 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld\r
675 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,\r
676 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge\r
677 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.\r
678 Für jedes Volumelement des Raumes hat $c$ einen bestimmten\r
679 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang\r
680 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat\r
681 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten\r
682 $c = 3 \cdot 10^{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem\r
683 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller\r
684 \page{19}\r
685 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,\r
686 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer \emph{oberen\r
687 Grenze}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein\r
688 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach\r
689 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt\r
690 also unsere vorher angewandte Betrachtung\r
691 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.\r
693 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich\r
694 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht\r
695 von einer \emph{allmählichen Annäherung} an eine absolute\r
696 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht\r
697 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren\r
698 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom\r
699 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens\r
700 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl\r
701 $c > 3 \cdot 10^{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die\r
702 absolute Zeit beliebig genau wird?\r
704 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl $c$ für das gewählte\r
705 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung\r
706 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,\r
707 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos\r
708 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,\r
709 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen\r
710 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß\r
711 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements\r
712 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und\r
713 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren\r
714 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht\r
715 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen\r
716 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung\r
717 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der\r
718 größeren Konstanten $c$ als eine Genauigkeitssteigerung\r
719 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die\r
720 \page{20}\r
721 Konstante $c$ einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur\r
722 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst\r
723 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit\r
724 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig\r
725 erschiene es allein, den Wert von $c$ festzuhalten, etwa (wie es\r
726 vielfach geschieht) $c = 1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,\r
727 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.\r
729 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge\r
730 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn\r
731 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit\r
732 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung\r
733 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne\r
734 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine\r
735 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich\r
736 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit\r
737 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;\r
738 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des\r
739 Raumes. Die Größe $c$ ist aber nicht eine Funktion bestimmter\r
740 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines\r
741 \emph{universalen Zustands}, und alle Meßmethoden sind\r
742 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,\r
743 daß innerhalb jedes Universalzustands eine\r
744 obere Grenze $c$ für jedes Volumelement existiert, bleibt\r
745 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch\r
746 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man\r
747 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die\r
748 allgemeine einordnet.\r
750 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um\r
751 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen\r
752 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die\r
753 \emph{Geltung} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes\r
754 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.\r
759 \chapter*{III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie\r
760 behaupteten Widersprüche.}\r
761 \page{21}\r
763 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie\r
764 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die\r
765 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.\r
766 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,\r
767 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum\r
768 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?\r
770 \name{Einstein} sagt in seiner grundlegenden Schrift: \glqq{}Es\r
771 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die\r
772 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches\r
773 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.\r
774 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie\r
775 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit\r
776 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß\r
777 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung\r
778 möglichst gesichert erscheinen\litref{7}.\grqq{}\r
780 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,\r
781 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung\r
782 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine\r
783 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an\r
784 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft\r
785 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,\r
786 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem\r
787 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden\r
788 wir finden, daß \name{Einsteins} Darstellung in Wahrheit eine\r
789 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden\r
790 Worten beansprucht.\r
791 \page{22}\r
793 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen\r
794 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität\r
795 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen\r
796 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher\r
797 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen\r
798 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen\r
799 Raumes?\r
801 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von\r
802 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.\r
803 In diesem Koordinatensystem ist dann das\r
804 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß\r
805 dann das vierdimensionale Linienelement\r
806 \[\r
807 \diff{s}^2 = \sum_1^4 \diff{x_\nu}^2\r
808 \]\r
809 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale\r
810 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch\r
811 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich\r
812 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird\r
813 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,\r
814 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:\r
815 \[\r
816 \diff{s}^2 = \sum_1^4 g_{\mu\nu} \diff{x_\mu} \diff{x_\nu}.\r
817 \]\r
819 Dieser Ausdruck ist nach \name{Gauß} und \name{Riemann}\r
820 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie\Footnote{b}\r
821 {Wir gebrauchen hier das Wort \glqq{}euklidisch\grqq{} für die vierdimensionale\r
822 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen\r
823 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen\r
824 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen\r
825 Raum, denn wenn die erstere eine \name{Riemann}sche Krümmung aufweist,\r
826 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch\r
827 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die\r
828 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten \name{Erwin Freundlich}, Anmerkung\r
829 3, S. 29 ff.}.\r
830 \page{23}\r
831 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_{\mu\nu}$ drücken sich\r
832 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems\r
833 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung\r
834 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld\r
835 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für\r
836 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang\r
837 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld\r
838 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten\r
839 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß\r
840 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat \name{Einstein} den\r
841 Schluß gezogen, daß \emph{jedes} Gravitationsfeld, nicht bloß\r
842 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung\r
843 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.\r
845 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine\r
846 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;\r
847 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der\r
848 \name{Einstein}schen Extrapolation geführt haben.\r
850 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch\r
851 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen\r
852 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,\r
853 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen\r
854 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.\r
855 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit\r
856 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:\r
857 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß\r
858 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit\r
859 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine\r
860 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.\,B. daß\r
861 das \name{Riemann}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall\r
862 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar\r
863 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur\r
864 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale\r
865 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische\r
866 \page{24}\r
867 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche\r
868 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann\r
869 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen\r
870 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten\r
871 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme\r
872 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen\r
873 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige\r
874 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des\r
875 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum\r
876 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes\r
877 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen\r
878 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber\r
879 bleibt dabei gleich Null.\r
881 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung\r
882 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.\r
883 Wenn also die \name{Einstein}sche Theorie, indem sie von\r
884 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen\r
885 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer\r
886 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich\r
887 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet\r
888 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,\r
889 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir\r
890 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.\r
891 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch\r
892 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische\r
893 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte\r
894 Raum das Krümmungsmaß Null behält.\r
896 Auch das von \name{Einstein} angeführte Beispiel der rotierenden\r
897 Kreisscheibe\litref{8} kann eine so weitgehende Verallgemeinerung\r
898 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings\r
899 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender\r
900 Beobachter für den Quotienten aus Umfang\r
901 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als $\pi$\r
902 \page{25}\r
903 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem\r
904 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber\r
905 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate\r
906 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von\r
907 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das\r
908 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit\r
909 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --\r
910 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge\r
911 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine\r
912 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was\r
913 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).\r
914 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,\r
915 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des\r
916 Sonnensystems, das für die \name{Newton}schen Gleichungen\r
917 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe\r
918 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß\r
919 ist gleich Null.\r
921 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie\r
922 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als\r
923 die \name{Einstein}sche. Wir wollen folgende Forderungen an\r
924 sie stellen:\r
926 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in\r
927 die spezielle Relativitätstheorie;\r
929 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer\r
930 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.\r
932 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden\r
933 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.\,B.\r
934 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem\r
935 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des\r
936 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken\r
937 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem\r
938 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante\r
939 \page{26}\r
940 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich\r
941 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen\r
942 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;\r
943 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß\r
944 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen\r
945 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.\r
946 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das\r
947 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen\r
948 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung\r
949 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten\r
950 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen\r
951 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und\r
952 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene\r
953 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische\r
954 System.\r
956 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von \name{Einstein}\r
957 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang\r
958 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a\r
959 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei \emph{festgehaltenem\r
960 Raumgebiet} die Feldstärken in den verschiedenen\r
961 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch\r
962 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß\r
963 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;\r
964 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir\r
965 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in\r
966 der Weise vollziehen, daß wir \emph{bei festgehaltener Feldstärke}\r
967 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.\r
968 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes\r
969 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende \name{Einstein}sche\r
970 Voraussetzung für die Extrapolation machen:\r
972 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich\r
973 kleine Gebiete übergehen in die spezielle\r
974 Relativitätstheorie.\r
975 \page{27}\r
977 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b\r
978 vereinbar?\r
980 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld\r
981 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend\r
982 homogen betrachten dürfen. Dort können wir\r
983 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die\r
984 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem\r
985 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar\r
986 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme\r
987 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.\r
988 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes\r
989 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen\r
990 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen\r
991 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören\r
992 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit\r
993 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch\r
994 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$\r
995 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c\r
996 mit Forderung b nicht vereinbar.\r
998 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen\r
999 Relativitätstheorie nach der \name{Einstein}schen Forderung c\r
1000 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie\r
1001 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes\r
1002 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen\r
1003 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl\r
1004 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die\r
1005 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des\r
1006 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.\r
1008 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits\r
1009 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die\r
1010 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation\r
1011 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt\r
1012 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit\r
1013 \page{28}\r
1014 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die\r
1015 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine\r
1016 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,\r
1017 daß also der \emph{Raum homogen} ist; denn nur unter dieser\r
1018 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine\r
1019 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn\r
1020 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.\r
1021 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,\r
1022 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung\r
1023 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten\r
1024 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,\r
1025 so daß doch keine Annäherung an die spezielle\r
1026 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den\r
1027 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens\r
1028 beruht die Forderung c auf dem \name{Einstein}schen Äquivalenzprinzip,\r
1029 denn sie besagt, daß \emph{jedes} homogene Gravitationsfeld,\r
1030 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,\r
1031 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier\r
1032 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.\r
1033 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die\r
1034 Gleichheit von schwerer und träger Masse für \emph{jedes}\r
1035 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch\r
1036 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment\r
1037 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.\r
1038 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche\r
1039 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.\r
1041 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und\r
1042 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien\r
1043 im \name{Kant}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,\r
1044 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden\r
1045 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c\r
1046 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse\r
1047 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß\r
1048 \page{29}\r
1049 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf\r
1050 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da\r
1051 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität\r
1052 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,\r
1053 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die\r
1054 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch\r
1055 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen\r
1056 Fall in die spezielle übergeht, die \emph{Stetigkeit der Gesetze},\r
1057 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen\r
1058 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie\r
1059 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen\r
1060 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie\r
1061 folgende Prinzipien als \emph{gemeinsam unvereinbar mit\r
1062 der Erfahrung} nachgewiesen hat.\r
1064 \begin{itemize}\r
1065 \item Prinzip der speziellen Relativität\r
1066 \item Prinzip der normalen Induktion\r
1067 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz\r
1068 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze\r
1069 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen\r
1070 \item Prinzip der Homogenität des Raumes\r
1071 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.\r
1072 \end{itemize}\r
1074 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar\r
1075 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und\r
1076 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,\r
1077 mit Ausnahme des ersten, apriori im \name{Kant}ischen\r
1078 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches\r
1079 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden\r
1080 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.\r
1082 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das\r
1083 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.\r
1084 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir\r
1085 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch\r
1086 der \name{Einstein}sche Raum noch besitzt.\r
1087 \page{30}\r
1089 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der \name{Einstein}schen\r
1090 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr\r
1091 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,\r
1092 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen\r
1093 wird. \name{Riemann} nennt diese Eigenschaft:\r
1094 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen\grqq{}. Sie drückt sich analytisch\r
1095 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements\r
1096 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl\r
1097 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das\r
1098 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.\r
1099 Man kann also ein Koordinatensystem immer so\r
1100 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet\r
1101 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß\r
1102 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld\r
1103 immer \glqq{}wegtransformieren\grqq{} kann, wie auch das Feld\r
1104 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied\r
1105 zwischen den durch Transformation erzeugten und\r
1106 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der\r
1107 Inhalt der \name{Einstein}schen Äquivalenzhypothese für die\r
1108 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese\r
1109 Hypothese der Grund für die quadratische Form des\r
1110 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen\r
1111 hat danach ihren \emph{physikalischen} Grund. Würden die\r
1112 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für\r
1113 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa\r
1114 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde\r
1115 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes\r
1116 verschwinden.\r
1118 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen\r
1119 Form für das Linienelement auch folgendermaßen\r
1120 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen\r
1121 $g_{\mu\nu}$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der\r
1122 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig\r
1123 \page{31}\r
1124 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,\r
1125 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen\r
1126 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der\r
1127 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die\r
1128 metrischen Funktionen $g_{\mu\nu}$ gilt also \emph{keine} Relativität,\r
1129 d.\,h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man\r
1130 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn\r
1131 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem\r
1132 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in\r
1133 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen\r
1134 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie\r
1135 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese\r
1136 Eigenschaft \glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten\grqq{}\r
1137 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die\r
1138 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.\r
1139 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für\r
1140 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere\r
1141 Formen, z.\,B. den Differentialausdruck vierten Grades,\r
1142 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der\r
1143 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die\r
1144 \name{Einstein}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in\r
1145 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb\r
1146 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische\r
1147 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer\r
1148 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.\r
1153 \chapter*{IV. Erkenntnis als Zuordnung.}\r
1154 \page{32}\r
1156 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie\r
1157 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie\r
1158 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,\r
1159 den Sinn des Apriori zu formulieren.\r
1161 Es ist das Kennzeichen der modernen \emph{Physik,} daß\r
1162 sie alle Vorgänge durch \emph{mathematische} Gleichungen\r
1163 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf\r
1164 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.\r
1165 Für den mathematischen Satz bedeutet \emph{Wahrheit}\r
1166 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen\r
1167 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas\r
1168 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.\r
1169 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der\r
1170 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute\r
1171 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur\r
1172 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese\r
1173 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der\r
1174 beiden Wissenschaften.\r
1176 Der \emph{mathematische Gegenstand} ist durch die\r
1177 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig\r
1178 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie\r
1179 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten\r
1180 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede\r
1181 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er\r
1182 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.\r
1183 Und durch die Axiome: denn sie geben die\r
1184 \page{33}\r
1185 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen\r
1186 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe\r
1187 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen\r
1188 definiert. Wenn \name{Hilbert}\litref{9} unter seine Axiome der\r
1189 Geometrie den Satz aufnimmt: \glqq{}unter irgend drei\r
1190 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,\r
1191 der zwischen den beiden andern liegt\grqq{}, so ist dies ebensowohl\r
1192 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte\r
1193 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation\r
1194 \glqq{}zwischen\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine \emph{erschöpfende}\r
1195 Definition. Aber die Definition wird vollständig\r
1196 durch die Gesamtheit der Axiome. Der \name{Hilbert}sche\r
1197 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was\r
1198 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.\r
1199 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c \ldots{} an Stelle\r
1200 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,\r
1201 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten\r
1202 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,\r
1203 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die\r
1204 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch\r
1205 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,\r
1206 und obgleich unsere Anschauung mit beiden\r
1207 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und\r
1208 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,\r
1209 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache\r
1210 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz\r
1211 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich\r
1212 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche\r
1213 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,\r
1214 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß\r
1215 eine Beziehung auf \glqq{}absolute Definitionen\grqq{} nötig wäre,\r
1216 ist von \name{Schlick}\litref{10} in der Lehre von den impliziten Definitionen\r
1217 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese\r
1218 \page{34}\r
1219 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit\r
1220 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.\r
1222 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,\r
1223 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.\r
1224 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung\r
1225 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich\r
1226 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,\r
1227 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten\r
1228 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.\r
1229 \name{Schlick} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine\r
1230 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht\r
1231 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen\r
1232 empirischen Ungenauigkeiten ist.\r
1234 Für den \emph{physikalischen Gegenstand} aber ist eine\r
1235 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der\r
1236 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.\r
1237 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des\r
1238 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen\r
1239 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,\r
1240 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie\r
1241 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung\r
1242 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen\r
1243 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was\r
1244 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System\r
1245 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt\r
1246 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,\r
1247 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß\r
1248 dies System von Gleichungen \emph{Geltung für die Wirklichkeit}\r
1249 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als\r
1250 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir\r
1251 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen\r
1252 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die\r
1253 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des\r
1254 \page{35}\r
1255 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die \emph{einzelnen}\r
1256 Dinge den \emph{einzelnen} Gleichungen. Dabei ist das\r
1257 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als\r
1258 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,\r
1259 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur\r
1260 \glqq{}Kugel\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und\r
1261 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe\r
1262 der Zuordnung vollziehend, als \glqq{}Wahrnehmungsbilder der\r
1263 Erde\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem \name{Boile}schen\r
1264 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p \cdot V = R \cdot T$\r
1265 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte\r
1266 (z.\,B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte\r
1267 (z.\,B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen\r
1268 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung\r
1269 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist\r
1270 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine\r
1271 Metaphysik hinweg zu interpretieren.\r
1273 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen\r
1274 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet\r
1275 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.\r
1276 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie\r
1277 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen\r
1278 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.\r
1279 Dazu müssen aber die Elemente jeder der\r
1280 Mengen \emph{definiert} sein; d.\,h. es muß für jedes Element\r
1281 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die\r
1282 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese\r
1283 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen\r
1284 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,\r
1285 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber\r
1286 für das \glqq{}Wirkliche\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.\r
1287 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst\r
1288 durch die Zuordnung zu Gleichungen.\r
1289 \page{36}\r
1291 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen\r
1292 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge\r
1293 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa\r
1294 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu\r
1295 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst\r
1296 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl\r
1297 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt\r
1298 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder\r
1299 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem\r
1300 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,\r
1301 welcher von ihnen \glqq{}rechts\grqq{}, welcher \glqq{}links\grqq{} liegt. Aber\r
1302 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden\r
1303 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen\r
1304 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der\r
1305 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst\r
1306 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem\r
1307 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er\r
1308 zu der zugeordneten  Untermenge gehört; um das festzustellen,\r
1309 müssen wir erst nach einer Methode, die durch\r
1310 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine\r
1311 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung\r
1312 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge\r
1313 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das\r
1314 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn\r
1315 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene\r
1316 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die\r
1317 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung\r
1318 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen\r
1319 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.\r
1320 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer\r
1321 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem\r
1322 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte\r
1323 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen\r
1324 \page{37}\r
1325 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben\r
1326 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die\r
1327 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb\r
1328 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man\r
1329 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der\r
1330 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt\r
1331 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende\r
1332 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen\r
1333 angegeben sind. So kann man fordern, daß\r
1334 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter\r
1335 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt\r
1336 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen\r
1337 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die\r
1338 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung\r
1339 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden\r
1340 worden sind, ist durch die diskrete Menge und\r
1341 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den\r
1342 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung\r
1343 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber\r
1344 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen\r
1345 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen\r
1346 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben\r
1347 sind.\r
1349 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer\r
1350 noch von der Zuordnung, die im \emph{Erkenntnisprozeß}\r
1351 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die \emph{Obermenge}\r
1352 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.\r
1353 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft\r
1354 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,\r
1355 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;\r
1356 von letzterer z.\,B. in der Forderung, daß dem\r
1357 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden\r
1358 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für\r
1359 \page{38}\r
1360 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben\r
1361 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber\r
1362 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist\r
1363 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,\r
1364 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal\r
1365 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was\r
1366 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst\r
1367 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,\r
1368 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten\r
1369 eine Größe \glqq{}Länge\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht\r
1370 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.\r
1371 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir\r
1372 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,\r
1373 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre\r
1374 Ordnung erhält, sondern \emph{in ihren Elementen erst\r
1375 durch die Zuordnung definiert wird}.\r
1377 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung\r
1378 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,\r
1379 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung\r
1380 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element\r
1381 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben\r
1382 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers\r
1383 als solches Element auf, so geraten wir deshalb\r
1384 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr\r
1385 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.\,B. auf dem Manometer\r
1386 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies\r
1387 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,\r
1388 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,\r
1389 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem\r
1390 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,\r
1391 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen, \glqq{}das Wesentliche\r
1392 vom Unwesentlichen scheiden\grqq{}; aber das ist bereits\r
1393 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen\r
1394 \page{39}\r
1395 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn\r
1396 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.\r
1397 Man könnte vermuten, daß etwa die \emph{zeitliche Aufeinanderfolge}\r
1398 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite\r
1399 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.\r
1400 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil\r
1401 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung\r
1402 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen\r
1403 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge\r
1404 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über\r
1405 den \glqq{}wirklichen\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert\r
1406 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,\r
1407 z.\,B. muß die physikalische Natur der Uhren,\r
1408 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der\r
1409 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete\r
1410 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung\r
1411 brauchbaren Ordnungssinn.\r
1413 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes\r
1414 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge\r
1415 der  wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen\r
1416 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein\r
1417 Erkenntnisurteil, d.\,i. aber ein  Zuordnungsprozeß, kann\r
1418 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines\r
1419 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem\r
1420 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.\r
1421 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der\r
1422 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die\r
1423 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen\r
1424 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was\r
1425 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine \emph{Definition}\r
1426 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.\r
1428 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten\r
1429 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die\r
1430 \page{40}\r
1431 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge\r
1432 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte\r
1433 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß\r
1434 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre\r
1435 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst\r
1436 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.\r
1438 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem\r
1439 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man\r
1440 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen \glqq{}wirklich\grqq{}\r
1441 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein\r
1442 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so\r
1443 die Auffassung des \name{Berkeley}schen Solipsismus und in\r
1444 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.\r
1445 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.\r
1446 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre\r
1447 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur\r
1448 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich\r
1449 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,\r
1450 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise\r
1451 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung\r
1452 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren\r
1453 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge\r
1454 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt\r
1455 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten\r
1456 Seite vorschreibt. \emph{In dieser Wechselseitigkeit der\r
1457 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen\r
1458 aus}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von\r
1459 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.\r
1460 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene\r
1461 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns\r
1462 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu\r
1463 formulieren.\r
1465 Hier erhebt sich die Frage: Worin  besteht denn die\r
1466 \page{41}\r
1467 Auszeichnung der \glqq{}richtigen\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet\r
1468 sie sich von der \glqq{}unrichtigen\grqq{}? Nun, dadurch,\r
1469 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden\r
1470 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.\r
1471 Berechnet man etwa aus der \name{Einstein}schen Theorie\r
1472 eine Lichtablenkung von $1,7^{\prime\prime}$ an der Sonne, und würde\r
1473 man an Stelle dessen $10^{\prime\prime}$ finden, so ist das ein Widerspruch,\r
1474 und solche Widersprüche sind es allemal, die über\r
1475 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun\r
1476 ist die Zahl $1,7^{\prime\prime}$ auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen\r
1477 an anderem Material gewonnen; die Zahl $10^{\prime\prime}$\r
1478 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs\r
1479 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe\r
1480 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente\r
1481 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und\r
1482 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis\r
1483 die Zahl 1,7 zuordnet, die andere die Zahl 10, und dies\r
1484 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend\r
1485 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen\r
1486 wir \emph{wahr}. \name{Schlick} hat deshalb ganz recht, wenn er\r
1487 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert}\litref{11}.\r
1488 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe\r
1489 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine\r
1490 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;\r
1491 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten\r
1492 Erfahrungswissenschaft durch \name{Galilei} und \name{Newton} und\r
1493 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch \name{Kant} als unbedingter\r
1494 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß\r
1495 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im\r
1496 Erkenntnisprozeß zukommt. \emph{Die Wahrnehmung liefert\r
1497 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung}.\r
1498 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande\r
1499 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber\r
1500 \page{42}\r
1501 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer\r
1502 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen\r
1503 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind\r
1504 nämlich gar keine Täuschung der \emph{Sinne}, sondern der\r
1505 \emph{Interpretation}; daß auch in der Halluzination die\r
1506 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,\r
1507 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die\r
1508 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen\r
1509 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist\r
1510 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb\r
1511 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde\r
1512 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,\r
1513 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer\r
1514 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein\r
1515 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang\r
1516 zurückführen will, denn ich beobachte auf der\r
1517 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung\r
1518 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den\r
1519 einer physiologischen Theorie, so entsteht \emph{kein} Widerspruch,\r
1520 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr\r
1521 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage\r
1522 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung\r
1523 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung\r
1524 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also\r
1525 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft\r
1526 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist\r
1527 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.\r
1529 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte\r
1530 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von\r
1531 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen\r
1532 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort\r
1533 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der\r
1534 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte\r
1535 \page{43}\r
1536 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe\r
1537 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu\r
1538 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls\r
1539 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene\r
1540 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für\r
1541 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,\r
1542 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen\r
1543 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,\r
1544 die dies leistet, immer dieselben Elemente der\r
1545 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.\r
1546 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit\r
1547 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt\r
1548 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit\r
1549 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren\r
1550 deshalb: \emph{Eindeutigkeit} heißt für die Erkenntniszuordnung,\r
1551 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung\r
1552 aus \emph{verschiedenen Erfahrungsdaten} durch\r
1553 \emph{dieselbe Messungszahl} wiedergegeben wird.\r
1555 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße\r
1556 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an\r
1557 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die\r
1558 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen\r
1559 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine\r
1560 Behauptung der Kausalität\Footnote{c}\r
1561 {Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft\r
1562 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein\r
1563 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,\r
1564 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint\r
1565 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht\r
1566 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt\r
1567 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte\r
1568 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.\r
1569 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation\r
1570 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität\r
1571 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.}. Auch wenn sie nicht\r
1572 \page{44}\r
1573 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;\r
1574 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung\r
1575 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen\r
1576 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,\r
1577 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,\r
1578 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings\r
1579 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert\r
1580 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und\r
1581 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet\r
1582 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier\r
1583 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,\r
1584 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener\r
1585 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.\r
1587 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig\r
1588 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man\r
1589 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie\r
1590 bedeutet nichts anderes als die \name{Kant}ische Frage: Wie ist\r
1591 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe\r
1592 sein, die Antwort, die \name{Kant} auf diese Frage gab, mit den\r
1593 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu\r
1594 untersuchen, ob die \name{Kant}ische Antwort sich heute noch\r
1595 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,\r
1596 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort\r
1597 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie\r
1598 geben kann, die an ihr vorbeigeht.\r
1600 Was bedeutet das Wort \glqq{}möglich\grqq{} in dieser Frage?\r
1601 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch\r
1602 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er\r
1603 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht\r
1604 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen\r
1605 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier\r
1606 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet\r
1607 die Frage nach den logischen Bedingungen der\r
1608 \page{45}\r
1609 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß\r
1610 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst\r
1611 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über\r
1612 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge\r
1613 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung\r
1614 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,\r
1615 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne\r
1616 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen\r
1617 Frage diese Form geben: \emph{Mit welchen Prinzipien wird\r
1618 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit\r
1619 eindeutig?}\r
1621 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,\r
1622 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien\r
1623 charakterisieren. Denn sie bedeuten\r
1624 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori \name{Kants}.\r
1629 \chapter*{V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite\r
1630 Voraussetzung Kants.}\r
1631 \page{46}\r
1633 Der Begriff des Apriori hat bei \name{Kant} zwei verschiedene\r
1634 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie \glqq{}apodiktisch\r
1635 gültig\grqq{}, \glqq{}für alle Zeiten gültig\grqq{}, und zweitens bedeutet\r
1636 er \glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend\grqq{}.\r
1638 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.\r
1639 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,\r
1640 ist nach \name{Kant} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung\r
1641 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den\r
1642 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch\r
1643 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,\r
1644 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt\r
1645 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in\r
1646 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der\r
1647 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter\r
1648 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in\r
1649 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls\r
1650 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche\r
1651 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand\r
1652 der Wissenschaft ist also nicht ein \glqq{}Ding an sich\grqq{},\r
1653 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung\r
1654 basiertes Bezugsgebilde.\r
1656 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den\r
1657 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,\r
1658 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß\r
1659 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element\r
1660 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,\r
1661 \page{47}\r
1662 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der\r
1663 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht\r
1664 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart\r
1665 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe\r
1666 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren\r
1667 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.\r
1668 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der\r
1669 Erfahrung bezeichnen. \name{Kant} nennt als solche Schemata\r
1670 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen\r
1671 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen\r
1672 für die eindeutige Zuordnung sind.\r
1674 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls\r
1675 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die\r
1676 zentrale Stellung, die er seit \name{Kant} in der Erkenntnistheorie\r
1677 inne hat. Es war die große Entdeckung \name{Kants},\r
1678 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin\r
1679 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente\r
1680 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten\r
1681 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt\r
1682 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur\r
1683 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte\r
1684 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht\r
1685 \name{Kant} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar\r
1686 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der\r
1687 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.\r
1689 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und\r
1690 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu\r
1691 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht\r
1692 unzweckmäßig, sich die \name{Kant}ische Lehre in mehr anschaulicher\r
1693 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit\r
1694 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken\r
1695 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß\r
1696 die \name{Kant}ischen Begriffsbildungen einer mehr von\r
1697 \page{48}\r
1698 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten\r
1699 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser\r
1700 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.\r
1701 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe\r
1702 bildhaft nennen.\r
1704 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in\r
1705 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen\r
1706 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie\r
1707 es vor uns steht; es hat  keinen  Sinn, dieses Sein noch\r
1708 näher definieren zu wollen, denn was \glqq{}wirklich\grqq{} bedeutet,\r
1709 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung\r
1710 bleiben Analogien oder sind  Darstellungen für den \emph{begrifflichen\r
1711 Ausdruck} dieses  Erlebnisses. Die Wirklichkeit\r
1712 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit\r
1713 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur\r
1714 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche\r
1715 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem\r
1716 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert\r
1717 wird, was in dem \glqq{}Kontinuum\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding\r
1718 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang\r
1719 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes\r
1720 Einzelding \glqq{}in Wirklichkeit da ist\grqq{}.\r
1722 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei\r
1723 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,\r
1724 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem\r
1725 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst\r
1726 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch\r
1727 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich\r
1728 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene\r
1729 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion\r
1730 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man\r
1731 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man\r
1732 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei\r
1733 \page{49}\r
1734 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,\r
1735 die von der Definiertheit der Elemente auf \emph{beiden} Seiten\r
1736 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer\r
1737 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes\r
1738 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,\r
1739 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den\r
1740 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder\r
1741 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre\r
1742 z.\,B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) = 0$\r
1743 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies\r
1744 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen\r
1745 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung\r
1746 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,\r
1747 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und\r
1748 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.\r
1749 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter\r
1750 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.\r
1751 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,\r
1752 daß man für jeden Wert $z = p = \mathrm{konst.}$ eine Kurve\r
1753 $f(x, y, p) = 0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige\r
1754 Funktion $\varphi (x, z) = p^\prime = \mathrm{konst.}$ annehmen und $p^\prime$ als Parameter\r
1755 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von\r
1756 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut\r
1757 ein Bild der Funktion $f (x, y, z)$ wie die erste. Man\r
1758 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser\r
1759 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser\r
1760 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen\r
1761 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also\r
1762 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der\r
1763 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu $f (x, y, z)$\r
1764 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters\r
1765 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine\r
1766 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei\r
1767 \page{50}\r
1768 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,\r
1769 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur\r
1770 auf die \emph{eine} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem\r
1771 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem\r
1772 Einfluß sind.\r
1774 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente\r
1775 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und\r
1776 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien\r
1777 der ersten Art geben, sondern nur solche, die\r
1778 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen\r
1779 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen\r
1780 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art\r
1781 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große\r
1782 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen\r
1783 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber\r
1784 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses\r
1785 überhaupt, und hängt damit zusammen,\r
1786 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes\r
1787 bedeutet als eine Beziehung auf \glqq{}dasselbe\grqq{} Element der\r
1788 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung\r
1789 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert\r
1790 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für\r
1791 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für\r
1792 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung\r
1793 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der\r
1794 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie\r
1795 \emph{konstitutiv} für den wirklichen Gegenstand; in \name{Kants}\r
1796 Worten: \glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein\r
1797 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann\grqq{}\litref{12}.\r
1799 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip\r
1800 genannt, welches definiert, wann\r
1801 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten\r
1802 anzusehen sind\litref{13}. (Man denke etwa an eine\r
1803 \page{51}\r
1804 Verteilung nach dem \name{Gauß}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip\r
1805 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,\r
1806 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch\r
1807 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen\r
1808 dient; es definiert die physikalische Konstante.\r
1809 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip\litref{14},\r
1810 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen\r
1811 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in\r
1812 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch\r
1813 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn\r
1814 sie besagen z.\,B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt\r
1815 definieren. Für die alte Physik war auch\r
1816 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn\r
1817 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne\r
1818 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten\r
1819 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie\r
1820 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,\r
1821 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen\r
1822 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese\r
1823 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung\r
1824 sind und ihr als \emph{Zuordnungsaxiome} vorangestellt\r
1825 werden können, unterscheiden sie sich von den\r
1826 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man\r
1827 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives\r
1828 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen\r
1829 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen\r
1830 enthalten aber immer noch spezielle mathematische\r
1831 Operationen; so geben die \name{Einstein}schen Gravitationsgleichungen\r
1832 an, in welcher speziellen mathematischen\r
1833 Beziehung die physikalische Größe $R_{ik}$ zu den\r
1834 physikalischen Größen $T_{ik}$ und $g_{ik}$ steht. Wir wollen sie\r
1835 deshalb \emph{Verknüpfungsaxiome} nennen\litref{15}. Die Zuordnungsaxiome\r
1836 unterscheiden sich von ihnen dadurch,\r
1837 \page{52}\r
1838 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,\r
1839 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen\r
1840 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen\r
1841 die Axiome der Arithmetik als Regeln der\r
1842 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien\r
1843 der Physik.\r
1845 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig\r
1846 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen\r
1847 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an\r
1848 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher\r
1849 Weise gebunden. Wenn wir z.\,B. ein bestimmtes\r
1850 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,\r
1851 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand\r
1852 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen\r
1853 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen\r
1854 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive\r
1855 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs\Footnote{d}\r
1856 {Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der\r
1857 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen\r
1858 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die\r
1859 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.}.\r
1860 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,\r
1861 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch\r
1862 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als\r
1863 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang\r
1864 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis\r
1865 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber\r
1866 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,\r
1867 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche\r
1868 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der\r
1869 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch\r
1870 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so\r
1871 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte\r
1872 \page{53}\r
1873 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten\r
1874 machen.\r
1876 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,\r
1877 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.\r
1878 Definieren wir einmal \glqq{}apriori\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung\r
1879 als \glqq{}Gegenstand konstituierend\grqq{}. Wie folgt\r
1880 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,\r
1881 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?\r
1883 \name{Kant} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die\r
1884 menschliche Vernunft, d.\,i. der Inbegriff von Verstand\r
1885 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.\r
1886 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach\r
1887 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit\r
1888 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist\r
1889 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande\r
1890 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis\r
1891 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese\r
1892 apodiktische Gültigkeit.\r
1894 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht\r
1895 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch\r
1896 \emph{Erfahrungen} eine Änderung der menschlichen Vernunft\r
1897 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft\r
1898 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren\r
1899 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und\r
1900 für \name{Kant} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,\r
1901 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive\r
1902 Prinzipien benutzen als wir\litref{16}; damit ist natürlich\r
1903 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische\r
1904 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,\r
1905 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft\r
1906 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet. \name{Kant}\r
1907 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie\r
1908 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine\r
1909 \page{54}\r
1910 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft\r
1911 und ihrer Ordnungsprinzipien durch \emph{Erfahrungen}; in\r
1912 diesem Sinne ist das \glqq{}apodiktisch gültig\grqq{} zu verstehen.\r
1914 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen\r
1915 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:\r
1916 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,\r
1917 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung\r
1918 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien\r
1919 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den\r
1920 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,\r
1921 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die\r
1922 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die\r
1923 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert. \name{Kants}\r
1924 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht\r
1925 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den\r
1926 Abschnitten II und III eine Reihe von Prinzipien apriori\r
1927 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach\r
1928 dem \name{Kant}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben\r
1929 würden. Wir durften dafür das Kriterium der\r
1930 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von \name{Kant} als\r
1931 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch\r
1932 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die\r
1933 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen\r
1934 müssen\litref{17}.\r
1936 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien\r
1937 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige\r
1938 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns\r
1939 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht\r
1940 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft\r
1941 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das\r
1942 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von\r
1943 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein\r
1944 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen\r
1945 \page{55}\r
1946 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur\r
1947 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich\r
1948 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit\r
1949 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,\r
1950 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien\r
1951 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.\r
1953 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer\r
1954 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es\r
1955 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die\r
1956 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,\r
1957 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise\r
1958 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der\r
1959 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht\r
1960 alle  verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf\r
1961 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,\r
1962 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie\r
1963 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme\r
1964 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur\r
1965 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen\r
1966 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich\r
1967 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht\r
1968 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System\r
1969 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme\r
1970 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel\r
1971 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung\r
1972 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene\r
1973 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.\r
1974 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die\r
1975 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System\r
1976 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,\r
1977 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich\r
1978 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.\r
1980 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht\r
1981 \page{56}\r
1982 so einfach schließen. Wäre z.\,B. das  Prinzipiensystem\r
1983 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze\r
1984 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System\r
1985 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen\r
1986 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung\r
1987 \name{Kants}) deuten, daß es sich in dem evidenten\r
1988 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.\r
1989 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,\r
1990 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System\r
1991 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann\r
1992 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen\r
1993 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch\r
1994 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,\r
1995 die Wahrnehmung, von dem System ganz\r
1996 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl\r
1997 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn\r
1998 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir\r
1999 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,\r
2000 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst\r
2001 das euklidische System übernommen wird; daß durch das\r
2002 so gewonnene  System kein Widerspruch entsteht, läßt\r
2003 sich erst durch den \emph{konsequenten Ausbau dieser\r
2004 Geometrie} feststellen. Freilich ist gerade das System\r
2005 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann\r
2006 hier nur der \emph{Ausbau einer experimentellen Physik}\r
2007 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,\r
2008 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,\r
2009 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.\r
2011 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich\r
2012 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte\r
2013 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen\r
2014 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer\r
2015 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip\r
2016 \page{57}\r
2017 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt\r
2018 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten\r
2019 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien\r
2020 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert\r
2021 ein \emph{System}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht\r
2022 auskommen; und auch die \name{Kant}ische Philosophie hat\r
2023 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen\r
2024 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,\r
2025 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip\r
2026 enthält unter Umständen einen \emph{Komplex} von Gedanken,\r
2027 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe\r
2028 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem \emph{unvollständigen}\r
2029 System äquivalent ist.\r
2031 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;\r
2032 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine\r
2033 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung\r
2034 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn\r
2035 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der\r
2036 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen\r
2037 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit\r
2038 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die\r
2039 Erkenntnis geben.\r
2041 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir\r
2042 die Geltung der \name{Kant}ischen Erkenntnislehre von der\r
2043 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig\r
2044 machen können. \name{Kants} Theorie enthält die Hypothese,\r
2045 daß es \emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme\r
2046 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der\r
2047 Wirklichkeit gibt}. Da diese Hypothese gleichbedeutend\r
2048 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit\r
2049 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu\r
2050 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit\r
2051 kommen kann, wollen wir sie als \emph{Hypothese}\r
2052 \page{58}\r
2053 \emph{der Zuordnungswillkür} bezeichnen. Nur wenn sie\r
2054 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes\r
2055 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die\r
2056 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung\r
2057 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt\r
2058 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die\r
2059 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.\r
2064 \chapter*{VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung\r
2065 durch die Relativitätstheorie.}\r
2066 \page{59}\r
2068 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte II und III\r
2069 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie\r
2070 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung\r
2071 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?\r
2072 Schließt nicht der \name{Kant}ische Beweis für die unbeschränkte\r
2073 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch\r
2074 aus?\r
2076 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit\r
2077 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet\r
2078 wird, auf S.~15 zusammengestellt. Wir haben\r
2079 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit\r
2080 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten\r
2081 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials\r
2082 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen\r
2083 der Dehnbarkeit des Begriffs \glqq{}normal\grqq{} ist das in gewissen\r
2084 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch\r
2085 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch\r
2086 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält\r
2087 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale\r
2088 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne\r
2089 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet\r
2090 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im\r
2091 Sinne \name{Kants}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die\r
2092 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines\r
2093 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven\r
2094 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.\r
2095 \page{60}\r
2097 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse\r
2098 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach\r
2099 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf S.~29\r
2100 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet\r
2101 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr\r
2102 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip\r
2103 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses\r
2104 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten\r
2105 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,\r
2106 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt\r
2107 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung\r
2108 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt\r
2109 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente\r
2110 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den\r
2111 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu\r
2112 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,\r
2113 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.\r
2115 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf\r
2116 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die\r
2117 Geltung der \name{Kant}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,\r
2118 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.\r
2119 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips\r
2120 für die Erkenntnis untersucht werden.\r
2122 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem\r
2123 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß\r
2124 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit\r
2125 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der\r
2126 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;\r
2127 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß\r
2128 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der\r
2129 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist\r
2130 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im\r
2131 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über\r
2132 \page{61}\r
2133 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie\r
2134 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur\r
2135 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium\r
2136 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die\r
2137 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.\r
2138 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,\r
2139 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,\r
2140 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem\r
2141 Gedanken beruht der \name{Kant}ische Beweis für die Unabhängigkeit\r
2142 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.\r
2143 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage\r
2144 unmittelbar an diesen Beweis.\r
2146 \name{Kants} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung\r
2147 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien\r
2148 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze\r
2149 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der\r
2150 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,\r
2151 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine\r
2152 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr\r
2153 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein\r
2154 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.\r
2156 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung\r
2157 zweier Fragen zurückführen.\r
2159 Ist es logisch \emph{widersinnig}, solche induktiven Deutungen\r
2160 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen\r
2161 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?\r
2163 Ist es logisch \emph{zulässig}, vor der induktiven Deutung\r
2164 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,\r
2165 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?\r
2167 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,\r
2168 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen\r
2169 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang\r
2170 \page{62}\r
2171 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren\r
2172 der Physik, wie wir es im Abschnitt II geschildert\r
2173 haben, verstehen werden.\r
2175 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn\r
2176 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man\r
2177 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines\r
2178 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen\r
2179 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das\r
2180 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren\r
2181 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr\r
2182 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit\r
2183 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man\r
2184 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien\r
2185 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,\r
2186 daß das zu prüfende Prinzip bereits in \emph{sämtlichen} zur\r
2187 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.\r
2188 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des\r
2189 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.\r
2191 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir\r
2192 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht\r
2193 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.\r
2195 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage\r
2196 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein\r
2197 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es\r
2198 seien etwa Messungen zum \name{Boile}schen Gesetz ausgeführt,\r
2199 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe\r
2200 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte\r
2201 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen\r
2202 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen\r
2203 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^2 = \mathrm{konst.}$\r
2204 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch\r
2205 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen\r
2206 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.\,B. die\r
2207 \page{63}\r
2208 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört\Footnote{e}\r
2209 {Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente\r
2210 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen\r
2211 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten\r
2212 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der\r
2213 Bezeichnungsweise.}.\r
2214 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb\r
2215 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler\r
2216 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich\r
2217 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen\r
2218 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren\r
2219 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre\r
2220 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler\r
2221 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß\r
2222 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch\r
2223 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe\r
2224 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist\r
2225 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel\r
2226 $p V^2 = \mathrm{konst.}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende\r
2227 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen\r
2228 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die\r
2229 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur\r
2230 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende\r
2231 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man\r
2232 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen\r
2233 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings\r
2234 \emph{möglich}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen\r
2235 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer\r
2236 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig\r
2237 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden\r
2238 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte\r
2239 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß\r
2240 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen\r
2241 \page{64}\r
2242 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der\r
2243 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede\r
2244 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion\r
2245 festgehalten werden\litref{18}.\r
2247 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn\r
2248 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.\r
2249 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,\r
2250 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip\r
2251 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der\r
2252 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle\r
2253 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,\r
2254 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar\r
2255 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische\r
2256 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.\r
2257 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen\r
2258 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst\r
2259 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn\r
2260 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so\r
2261 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als\r
2262 das Induktionsprinzip.\r
2264 Der \name{Kant}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus\r
2265 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien\r
2266 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie\r
2267 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen\r
2268 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort\r
2269 auf die \name{Kant}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in\r
2270 folgenden Satz zusammenfassen: \emph{Es gibt Systeme von\r
2271 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der\r
2272 Zuordnung unmöglich machen, also implizit\r
2273 widerspruchsvolle Systeme.} Wir bemerken nochmals,\r
2274 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,\r
2275 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen\r
2276 Physik möglich wurde. Hat man kein solches\r
2277 \page{65}\r
2278 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung\r
2279 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu\r
2280 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip\r
2281 gesprochen werden könnte.\r
2283 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine\r
2284 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich\r
2285 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches\r
2286 durch \emph{Evidenz} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;\r
2287 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht\r
2288 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch\r
2289 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch\r
2290 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr\r
2291 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der\r
2292 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir\r
2293 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß\r
2294 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie\r
2295 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen\r
2296 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur\r
2297 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses\r
2298 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß\r
2299 Zuordnungsprinzipien in \emph{jedem} Gesetz enthalten sind,\r
2300 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen\r
2301 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische\r
2302 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,\r
2303 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,\r
2304 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.\r
2305 Wollte man z.\,B. versuchsweise den Raum als vierdimensional\r
2306 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser\r
2307 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung\r
2308 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität\r
2309 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle\r
2310 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in\r
2311 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts\r
2312 \page{66}\r
2313 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren\r
2314 wäre aber \emph{technisch unmöglich}. Denn wir können\r
2315 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.\r
2317 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß\r
2318 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt\r
2319 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch\r
2320 neue zu ersetzen.\r
2322 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie\r
2323 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem\r
2324 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;\r
2325 und das Verfahren, welches \name{Einstein} dabei benutzt hat,\r
2326 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.\r
2328 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem\r
2329 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit\r
2330 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter\r
2331 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine\r
2332 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden\r
2333 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze\r
2334 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt\r
2335 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit\r
2336 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.\r
2337 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,\r
2338 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem\r
2339 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung\r
2340 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.}\r
2341 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil\r
2342 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte\r
2343 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit\r
2344 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses\r
2345 induktive Verfahren als \emph{Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2346 bezeichnen}.\r
2348 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie\r
2349 ging. Als \name{Eötvös} die Gleichheit von\r
2350 \page{67}\r
2351 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte\r
2352 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung\r
2353 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner\r
2354 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat\r
2355 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der\r
2356 \name{Riemann}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper\r
2357 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie\r
2358 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,\r
2359 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen\r
2360 vernachlässigt werden können. Wenn z.\,B.\r
2361 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen\r
2362 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so\r
2363 braucht er deswegen noch nicht die \name{Einstein}sche Zeitkorrektion\r
2364 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem\r
2365 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,\r
2366 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis\r
2367 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie\r
2368 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld\r
2369 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung\r
2370 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb\r
2371 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion\r
2372 nach der üblichen Methode berechnen.\r
2373 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf\r
2374 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie\r
2375 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung\r
2376 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich\r
2377 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,\r
2378 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen\r
2379 liegen und darum als euklidisch angenommen\r
2380 werden können.\r
2382 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2383 den Kernpunkt für die Widerlegung der \name{Kant}ischen\r
2384 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur\r
2385 \page{68}\r
2386 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern\r
2387 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und\r
2388 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,\r
2389 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.\r
2391 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,\r
2392 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür\r
2393 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung \name{Kants}\r
2394 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen\r
2395 mag. \name{Kant} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit\r
2396 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl\r
2397 bewußt, daß er einen \emph{Beweis für diese Möglichkeit}\r
2398 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,\r
2399 daß \emph{Erkenntnis unmöglich} wäre, und sah es für einen\r
2400 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit\r
2401 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den\r
2402 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden\r
2403 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier\r
2404 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum\r
2405 Gegenstand der Untersuchung gemacht. \glqq{}Der Verstand\r
2406 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,\r
2407 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein\r
2408 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer\r
2409 gewissen Ordnung der Natur \ldots{} Diese Zusammenstimmung\r
2410 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird\r
2411 von der Urteilskraft \ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie\r
2412 der \emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt}.\r
2413 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für\r
2414 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche\r
2415 Ordnung zu entdecken\litref{19}.\grqq{} Es erscheint befremdend,\r
2416 daß \name{Kant}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit\r
2417 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an\r
2418 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der\r
2419 \page{69}\r
2420 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem\r
2421 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten\r
2422 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,\r
2423 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den\r
2424 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der\r
2425 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht\r
2426 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie\r
2427 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven\r
2428 Prinzipien ändern muß, glaubte \name{Kant}, daß damit jede\r
2429 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche\r
2430 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene\r
2431 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,\r
2432 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung\r
2433 fortkommen und Erkenntnis erwerben können\grqq{}. Erst das\r
2434 \name{Kant} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2435 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein\r
2436 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens\r
2437 durch die Physik widerlegt werden.\r
2439 Wir müssen dieser Auflösung der \name{Kant}ischen Aprioritätslehre\r
2440 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.\r
2441 Es scheint uns der Fehler \name{Kants} zu sein, daß er, der mit\r
2442 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie\r
2443 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten\r
2444 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen\r
2445 der Erkenntnis suchte, so mußte er die \emph{Erkenntnis}\r
2446 analysieren; aber was er analysierte, war die \emph{Vernunft}.\r
2447 Er mußte \emph{Axiome} suchen, anstatt \emph{Kategorien}. Es ist\r
2448 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft\r
2449 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,\r
2450 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,\r
2451 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine\r
2452 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft\r
2453 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das\r
2454 \page{70}\r
2455 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar\r
2456 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf\r
2457 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner\r
2458 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft\r
2459 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch\r
2460 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen\r
2461 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig\r
2462 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade\r
2463 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann\r
2464 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem\r
2465 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch\r
2466 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die\r
2467 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel\r
2468 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem\r
2469 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein\r
2470 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft\r
2471 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen\r
2472 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren\r
2473 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung\r
2474 des \glqq{}gesunden Menschenverstandes\grqq{}, jener\r
2475 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich\r
2476 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.\r
2478 In diesem Verfahren \name{Kants} scheint uns sein methodischer\r
2479 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig\r
2480 angelegte System der kritischen Philosophie nicht\r
2481 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden\r
2482 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die\r
2483 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller\r
2484 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen\r
2485 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung\r
2486 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht\r
2487 befreit ist.\r
2492 \chapter*{VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die\r
2493 wissenschaftsanalytische Methode.}\r
2494 \page{71}\r
2496 Die Widerlegung des positiven Teils der \name{Kant}ischen\r
2497 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,\r
2498 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen\r
2499 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,\r
2500 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig\r
2501 von der \name{Kant}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und\r
2502 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine\r
2503 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der\r
2504 \name{Kant}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur\r
2505 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit\r
2506 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung\r
2507 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?\r
2509 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der \emph{wissenschaftsanalytischen\r
2510 Methode} in die Erkenntnistheorie.\r
2511 Die von den positiven Wissenschaften in stetem\r
2512 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate\r
2513 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische\r
2514 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau\r
2515 der Axiomatik, die seit \name{Hilberts} Axiomen der Geometrie\r
2516 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen\r
2517 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche\r
2518 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar\r
2519 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes\r
2520 Verfahren gibt, \emph{als festzustellen, welches die in der\r
2521 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien\r
2522 \page{72}\r
2523 sind}. Der Versuch \name{Kants}, diese Prinzipien aus der Vernunft\r
2524 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet\r
2525 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine\r
2526 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als\r
2527 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial\r
2528 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich\r
2529 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um\r
2530 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den\r
2531 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.\r
2533 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,\r
2534 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser\r
2535 bereits durchgeführt werden\litref{20}. Sie führte zur Aufdeckung\r
2536 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für\r
2537 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der\r
2538 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der\r
2539 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie\r
2540 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer\r
2541 geleistet worden. Denn \name{Einstein} hat bei allen seinen\r
2542 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen\r
2543 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,\r
2544 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,\r
2545 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.\r
2546 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen\r
2547 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will\r
2548 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und\r
2549 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.\r
2550 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine\r
2551 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte\r
2552 II und III dieser Untersuchung aufgefaßt werden.\r
2554 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied\r
2555 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist\r
2556 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit\r
2557 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein\r
2558 \page{73}\r
2559 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich\r
2560 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik\r
2561 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der\r
2562 \emph{Naturerkenntnis}. Darum konnte auch die Axiomatik\r
2563 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische\r
2564 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie\r
2565 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,\r
2566 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge\r
2567 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.\r
2568 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie\r
2569 z.\,B. \name{Weyl} und auch \name{Haas}\litref{21}, wieder den Schluß ziehen\r
2570 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin\r
2571 zusammenwachsen. Die Frage der \emph{Geltung} von Axiomen\r
2572 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen\r
2573 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das\r
2574 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der\r
2575 \emph{Geltung} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen\r
2576 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt\r
2577 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt\r
2578 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,\r
2579 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser\r
2580 Einwand muß der \name{Weyl}schen Verallgemeinerung der\r
2581 Relativitätstheorie\litref{22} entgegengehalten werden, bei der\r
2582 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich\r
2583 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings\r
2584 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit\r
2585 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer\r
2586 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum\r
2587 muß die \name{Weyl}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt\r
2588 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre\r
2589 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik\r
2590 ist eben keine \glqq{}geometrische Notwendigkeit\grqq{}; wer das\r
2591 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt\r
2592 \page{74}\r
2593 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.\r
2594 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine\r
2595 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die\r
2596 \name{Kant}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern\r
2597 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.\r
2599 Der \emph{Begriff des Apriori} erfährt durch unsere\r
2600 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,\r
2601 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder\r
2602 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung\r
2603 der \name{Kant}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.\r
2604 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:\r
2605 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst\r
2606 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches\r
2607 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung\r
2608 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen\r
2609 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine\r
2610 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang\r
2611 mit anderen Gegenständen gemacht werden.\r
2612 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form\r
2613 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der\r
2614 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische\r
2615 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,\r
2616 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst\r
2617 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien\r
2618 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt\r
2619 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer\r
2620 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange\r
2621 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.\r
2623 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,\r
2624 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,\r
2625 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip\r
2626 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es\r
2627 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den\r
2628 \page{75}\r
2629 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten\r
2630 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung\r
2631 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das\r
2632 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben\r
2633 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze\r
2634 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie\r
2635 leicht verfällt. Als man die dem \name{Kant}ischen\r
2636 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung\r
2637 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war\r
2638 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die\r
2639 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten\r
2640 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,\r
2641 denn \name{Kant} hatte gewiß mit der Substanz\r
2642 die Masse gemeint\litref{23}. Aber man ist damit keineswegs\r
2643 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip\r
2644 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es\r
2645 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding\r
2646 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man\r
2647 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens\r
2648 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung\r
2649 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt\r
2650 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen\r
2651 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere\r
2652 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,\r
2653 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung\r
2654 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen\r
2655 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten\r
2656 \name{Kant}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.\r
2657 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor\r
2658 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn\r
2659 wenn z.\,B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen\r
2660 der Koordinaten nicht invariant sind, muß\r
2661 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man\r
2662 \page{76}\r
2663 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten\r
2664 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip\r
2665 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich \emph{mit der\r
2666 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung\r
2667 begnügen}. So wollen wir, nach der Niederlage der \name{Kant}ischen\r
2668 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht\r
2669 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und\r
2670 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung\r
2671 unter allen Umständen wenigstens die \name{Riemann}sche\r
2672 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß\r
2673 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts\r
2674 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags\r
2675 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom\r
2676 vierten Grade übergegangen ist. Die \name{Weyl}sche Theorie\r
2677 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der \name{Einstein}schen\r
2678 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch\r
2679 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.\r
2680 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar\r
2681 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge\r
2682 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der\r
2683 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer\r
2684 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß\r
2685 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung\r
2686 und gleiche Länge hat. In der \name{Einstein-Riemann}schen\r
2687 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche\r
2688 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der \name{Weyl}schen\r
2689 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.\r
2690 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert\r
2691 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich\r
2692 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die\r
2693 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch\r
2694 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge\r
2695 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.\r
2696 \page{77}\r
2698 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige\r
2699 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen\r
2700 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten\r
2701 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,\r
2702 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt\r
2703 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese\r
2704 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter\r
2705 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten\r
2706 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen\r
2707 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie\r
2708 sie wieder aufgibt. Z.\,B. ist in der \name{Weyl}schen\r
2709 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche\r
2710 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem\r
2711 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit\r
2712 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.\r
2713 Nach der \name{Weyl}schen Theorie ist die Frequenz\r
2714 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man\r
2715 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß\r
2716 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen\r
2717 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.\,B. die\r
2718 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen\r
2719 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen\r
2720 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes\r
2721 solche Fälle nachweisen, wo die \name{Weyl}sche\r
2722 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.\r
2724 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der\r
2725 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung\r
2726 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.\r
2727 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen\r
2728 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen\r
2729 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,\r
2730 daß die Größenwerte sich einer \emph{stetigen} Häufigkeitsfunktion\r
2731 einfügen. Würde man aber z.\,B. die\r
2732 \page{78}\r
2733 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische\r
2734 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches\r
2735 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese\r
2736 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte\r
2737 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer\r
2738 noch mit großer Näherung gelten\litref{24}. Wir wollen uns aber\r
2739 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend\r
2740 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft\r
2741 wird allein zeigen können, in welcher \emph{Richtung} sich die\r
2742 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das\r
2743 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle\r
2744 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem\r
2745 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein\r
2746 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall\r
2747 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten\r
2748 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere\r
2749 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine\r
2750 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall\r
2751 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.\r
2753 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer\r
2754 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede\r
2755 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die\r
2756 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten\r
2757 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.\r
2758 Aber \emph{daß} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige\r
2759 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und\r
2760 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im\r
2761 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der\r
2762 \name{Kant}ischen Philosophie?\r
2764 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder\r
2765 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen\r
2766 können: nämlich daß die \emph{eindeutige} Zuordnung immer\r
2767 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition\r
2768 \page{79}\r
2769 der Erkenntnis als \emph{eindeutiger} Zuordnung? Aus einer\r
2770 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann\r
2771 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen\r
2772 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;\r
2773 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit\r
2774 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die\r
2775 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen\r
2776 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten\r
2777 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen\r
2778 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische\r
2779 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine\r
2780 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine\r
2781 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse\litref{25}. Aber\r
2782 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es\r
2783 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse\r
2784 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und\r
2785 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der\r
2786 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem\r
2787 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,\r
2788 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede\r
2789 physikalische Konstante die Form hat: $C + k \alpha$, wo $\alpha$\r
2790 sehr klein und $k$ eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch\r
2791 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß $k$ meistens\r
2792 klein ist, vielleicht zwischen 1 und 10 liegt. Für Konstanten\r
2793 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied\r
2794 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine\r
2795 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.\,B.\r
2796 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die\r
2797 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe\r
2798 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem\r
2799 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte\r
2800 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der\r
2801 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen\r
2802 \page{80}\r
2803 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen\r
2804 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit\r
2805 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer\r
2806 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch\r
2807 dadurch, daß man den neuen Ausdruck $C + k \alpha$ einführt,\r
2808 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir\r
2809 hatten oben (Abschnitt IV) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung\r
2810 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen\r
2811 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben\r
2812 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit\r
2813 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der\r
2814 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck $C + k \alpha$\r
2815 ist aber die Größe $k$ ganz unabhängig von physikalischen\r
2816 Faktoren. Darum können wir die Größe $C + k \alpha$ niemals\r
2817 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten\r
2818 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden\r
2819 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.\r
2820 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten\r
2821 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.\r
2822 Wir hätten, da $k$ auch von den Koordinaten unabhängig\r
2823 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen\r
2824 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu\r
2825 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände\r
2826 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe\r
2827 $C + k \alpha$ ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme\r
2828 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer\r
2829 \glqq{}individuellen Kausalität\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben\r
2830 haben und wie sie z.\,B. \name{Schlick}\litref{26} als möglich annimmt,\r
2831 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt\r
2832 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen\r
2833 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem\r
2834 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt\r
2835 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des\r
2836 \page{81}\r
2837 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu\r
2838 dieser etwa wie der \name{Riemann}sche Raum zum euklidischen;\r
2839 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff\r
2840 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung\r
2841 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr\r
2842 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie\r
2843 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn\r
2844 z.\,B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen\r
2845 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit\r
2846 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.\r
2847 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten\r
2848 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu\r
2849 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch\r
2850 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer\r
2851 praktischen Verwertung finden lassen.\r
2853 \tb\r
2855 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar\r
2856 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon\r
2857 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar\r
2858 nicht \emph{konstatiert} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche\r
2859 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.\r
2860 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip\r
2861 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen\r
2862 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt\r
2863 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt\r
2864 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese\r
2865 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch\r
2866 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu\r
2867 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung\r
2868 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme\r
2869 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs\r
2870 die Bestimmtheit in die Definition\r
2871 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der\r
2872 \page{82}\r
2873 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung\r
2874 des Zuordnungsbegriffs\litref{27}.\r
2876 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der\r
2877 \name{Kant}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,\r
2878 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.\r
2879 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren\r
2880 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.\r
2881 Denn vorläufig \emph{gilt} dieser  Begriff, und wir können\r
2882 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis\r
2883 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der\r
2884 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,\r
2885 daß diese \emph{stetig} erfolgen muß, und darum wird der alte\r
2886 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden\r
2887 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem\r
2888 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den\r
2889 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit\r
2890 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist\r
2891 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell\r
2892 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.\r
2893 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich\r
2894 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise\r
2895 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --\r
2896 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,\r
2897 daß \emph{unsere} Resultate \emph{nun ewig} gelten sollen, nachdem\r
2898 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv\r
2899 nachgewiesen haben.\r
2901 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung\r
2902 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie\r
2903 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs\r
2904 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis\r
2905 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist\r
2906 nicht der Begriff der \emph{Zuordnung} überhaupt jenes allgemeinste\r
2907 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor\r
2908 aller Erkenntnis steht?\r
2909 \page{83}\r
2911 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den\r
2912 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.\r
2913 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,\r
2914 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs\r
2915 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit\r
2916 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns\r
2917 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis\r
2918 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.\r
2919 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies\r
2920 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den\r
2921 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.\r
2922 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe}.\r
2924 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische\r
2925 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn\r
2926 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle\r
2927 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.\r
2928 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung\r
2929 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die\r
2930 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist\r
2931 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das\r
2932 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.\r
2933 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.\r
2935 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu\r
2936 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,\r
2937 wenn wir die \name{Kant}ische Analyse der Vernunft ablehnen,\r
2938 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige\r
2939 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien\r
2940 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die\r
2941 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren\r
2942 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich\r
2943 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von\r
2944 der Erfahrung \emph{erhält}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten\r
2945 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft\r
2946 \page{84}\r
2947 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche\r
2948 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von\r
2949 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das\r
2950 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen\r
2951 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt\r
2952 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,\r
2953 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.\r
2954 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt\r
2955 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,\r
2956 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während\r
2957 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung\r
2958 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet\r
2959 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien\r
2960 eine Entwicklung des \emph{Gegenstandsbegriffs}\r
2961 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung\r
2962 von der \name{Kant}ischen: während bei \name{Kant} nur die\r
2963 Bestimmung des \emph{Einzelbegriffs} eine unendliche Aufgabe\r
2964 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden, \emph{daß auch\r
2965 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft\r
2966 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,\r
2967 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung\r
2968 entgegengehen können}.\r
2970 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht\r
2971 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe\r
2972 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten\r
2973 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat\r
2974 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir\r
2975 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere\r
2976 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem\r
2977 in seinen begrifflichen Relationen durch\r
2978 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung\r
2979 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in\r
2980 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie\r
2981 \page{85}\r
2982 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff\r
2983 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft\r
2984 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich\r
2985 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie \name{Kant}\r
2986 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,\r
2987 die von der Vernunft als notwendig hingestellt\r
2988 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet\r
2989 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen\r
2990 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur\r
2991 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten\r
2992 sind, für die \emph{keine} Auswahl vorgeschrieben ist,\r
2993 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in\r
2994 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich\r
2995 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff\r
2996 verdanken. \emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der\r
2997 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des\r
2998 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche\r
2999 Elemente im System auftreten.} Damit\r
3000 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils\r
3001 wesentlich gegenüber der \name{Kant}ischen; aber gerade\r
3002 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise\r
3003 gefunden.\r
3005 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür\r
3006 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit\r
3007 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,\r
3008 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da\r
3009 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt\r
3010 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung\r
3011 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln\r
3012 aus, die den Übergang von einem System aufs\r
3013 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein\r
3014 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit\r
3015 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige\r
3016 \page{86}\r
3017 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,\r
3018 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß\r
3019 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,\r
3020 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche\r
3021 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach\r
3022 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,\r
3023 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig\r
3024 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen\r
3025 $g_{\mu\nu}$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,\r
3026 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte\r
3027 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven\r
3028 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver\r
3029 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien\r
3030 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den\r
3031 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit\r
3032 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen\r
3033 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist\r
3034 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,\r
3035 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,\r
3036 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft\r
3037 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.\r
3038 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der\r
3039 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen\r
3040 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was \name{Kant} in\r
3041 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch\r
3042 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert\r
3043 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel\r
3044 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung\r
3045 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu\r
3046 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive\r
3047 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische\r
3048 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn\r
3049 Funktionen $g_{\mu\nu}$ beliebig wählbar sein. Aber die\r
3050 \page{87}\r
3051 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie\r
3052 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und\r
3053 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft\r
3054 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv\r
3055 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten\r
3056 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die\r
3057 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger\r
3058 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der \name{Kant}ischen\r
3059 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik\r
3060 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft\r
3061 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die\r
3062 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die\r
3063 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als\r
3064 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen\r
3065 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.\r
3066 Wenn sich z.\,B. die \name{Weyl}sche Verallgemeinerung\r
3067 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder\r
3068 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.\r
3069 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe\r
3070 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive\r
3071 Relation mehr, die er bei \name{Einstein} trotz der Abhängigkeit\r
3072 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl\r
3073 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive\r
3074 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten\r
3075 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend\r
3076 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs\r
3077 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft\r
3078 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise\r
3079 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung\r
3080 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen\r
3081 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,\r
3082 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.\r
3084 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den\r
3085 \page{88}\r
3086 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven\r
3087 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem\r
3088 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle\r
3089 der \name{Kant}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist\r
3090 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als \name{Kants}\r
3091 Versuch einer direkten Formulierung, und die \name{Kant}ische\r
3092 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen\r
3093 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem\r
3094 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,\r
3095 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der\r
3096 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen\r
3097 Vernunft gestattet.\r
3102 \chapter*{VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie\r
3103 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.}\r
3104 \page{89}\r
3106 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren\r
3107 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege\r
3108 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt\r
3109 oder widerlegt werden können, so bedeutet das\r
3110 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.\r
3111 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung\r
3112 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,\r
3113 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei\r
3114 Weise mit der Bemerkung \glqq{}alles ist Erfahrung\grqq{} abtun\r
3115 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied\r
3116 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen\r
3117 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,\r
3118 daß die letzteren für den \emph{logischen Aufbau} der Erkenntnis\r
3119 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.\r
3120 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:\r
3121 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch\r
3122 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und\r
3123 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung\r
3124 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung\r
3125 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.\r
3127 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung\r
3128 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des\r
3129 \emph{Gegenstandsbegriffs} beschreiben, die mit der Änderung\r
3130 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie\r
3131 vollzogen wurde.\r
3132 \page{90}\r
3134 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem\r
3135 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und\r
3136 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen\r
3137 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.\r
3138 So konstatiert sie das Auftreten von\r
3139 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender\r
3140 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,\r
3141 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte\r
3142 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert\r
3143 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die\r
3144 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die\r
3145 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten\r
3146 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte\r
3147 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß\r
3148 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die\r
3149 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß\r
3150 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den\r
3151 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu\r
3152 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die\r
3153 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in\r
3154 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.\r
3155 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt\r
3156 nach der \name{Newton}schen Theorie eine Abplattung. Der\r
3157 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,\r
3158 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen\r
3159 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln\r
3160 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch\r
3161 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis\r
3162 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.\,B. eines\r
3163 Breitenkreises) gleich $\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender\r
3164 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen\r
3165 in der pythagoräischen Beziehung steht (und\r
3166 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten\r
3167 \page{91}\r
3168 für \emph{alle} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen\r
3169 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen\r
3170 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige\r
3171 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er\r
3172 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser\r
3173 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding\r
3174 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,\r
3175 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die\r
3176 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen\r
3177 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum \emph{Gegenstandsbegriff\r
3178 der Physik}.\r
3180 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,\r
3181 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese\r
3182 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten\r
3183 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles\r
3184 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und\r
3185 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine\r
3186 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch\r
3187 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache\r
3188 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor\r
3189 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung\r
3190 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten\r
3191 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat \name{Helge\r
3192 Holst}\litref{28} den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch\r
3193 zu retten, daß er entgegen der \name{Einstein}schen Relativität\r
3194 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die\r
3195 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben\r
3196 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch\r
3197 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die\r
3198 \name{Einstein}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante\r
3199 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall\r
3200 der Natur beruht.\r
3202 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare\r
3203 \page{92}\r
3204 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung\r
3205 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines\r
3206 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits\r
3207 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine\r
3208 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung\r
3209 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem\r
3210 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen\r
3211 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als\r
3212 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch\r
3213 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,\r
3214 welcher der Körper die Verkürzung \glqq{}wirklich\grqq{} erfährt,\r
3215 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute\r
3216 Eigenschaft des Körpers ist; aber \name{Einstein} hatte gerade\r
3217 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes\r
3218 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.\r
3219 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab\r
3220 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)\r
3221 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem\r
3222 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als\r
3223 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir\r
3224 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den\r
3225 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.\r
3226 Allerdings können wir sie \emph{formulieren} nur in\r
3227 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir\r
3228 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere\r
3229 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen\r
3230 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:\r
3231 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln\r
3232 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn\r
3233 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen\r
3234 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu\r
3235 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene\r
3236 Länge. Aber sie ist nur \emph{ein} Ausdruck der realen Relation.\r
3237 \page{93}\r
3238 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,\r
3239 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam\r
3240 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft\r
3241 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.\r
3242 Das soll keine Versetzung des Realen in ein\r
3243 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale\r
3244 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in\r
3245 \emph{einem} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln\r
3246 angeben; aber wir müssen uns daran\r
3247 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als\r
3248 eine Verhältniszahl formulieren kann.\r
3250 \tb\r
3252 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:\r
3253 was früher eine Eigenschaft des \emph{Dinges} war,\r
3254 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;\r
3255 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,\r
3256 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,\r
3257 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung\r
3258 des Realen.\r
3260 \tb\r
3262 Bedeutet insofern der \name{Einstein}sche Längenbegriff\r
3263 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden\r
3264 realen Relation formuliert, so erhält er doch im\r
3265 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche\r
3266 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der\r
3267 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt\r
3268 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt\r
3269 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,\r
3270 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,\r
3271 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein\r
3272 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende\r
3273 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich\r
3274 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache\r
3275 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst\r
3276 \page{94}\r
3277 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation\r
3278 ineinander hinreichend beschrieben wird.\r
3280 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur\r
3281 Charakterisierung eines \emph{physikalischen Zustandes}\r
3282 macht, ist in der \emph{allgemeinen} Relativitätstheorie in noch\r
3283 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie\r
3284 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte\r
3285 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,\r
3286 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand\r
3287 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen\r
3288 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,\r
3289 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.\r
3290 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten\r
3291 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird\r
3292 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer\r
3293 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der\r
3294 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische\r
3295 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz\r
3296 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite\r
3297 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle\r
3298 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen\r
3299 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische\r
3300 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die\r
3301 \name{Riemann}sche analytische Metrik ist imstande, solchen\r
3302 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu\r
3303 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,\r
3304 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen\r
3305 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das\r
3306 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,\r
3307 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut\r
3308 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,\r
3309 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung\r
3310 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der\r
3311 \page{95}\r
3312 \name{Einstein-Riemann}schen Raumkrümmung, daß sie die\r
3313 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das \glqq{}unmöglich\grqq{}\r
3314 ist hier nicht \emph{technisch} aufzufassen, etwa so,\r
3315 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie\r
3316 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern \emph{begrifflich};\r
3317 auch die \emph{gedachte} gerade Linie ist im \name{Riemann}schen\r
3318 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf\r
3319 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach\r
3320 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische\r
3321 Stäbe zu suchen; auch die \emph{Annäherung} ist unmöglich.\r
3322 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein\r
3323 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine\r
3324 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie\r
3325 behauptet vielmehr: daß es \emph{überhaupt keinen Sinn}\r
3326 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu\r
3327 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten\r
3328 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der \name{Einstein}schen\r
3329 Theorie verhält sich zur \name{Newton}schen Bahn\r
3330 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die \name{Einstein}sche\r
3331 Krümmung ist von höherer Ordnung als die \name{Newton}sche.\r
3332 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen\r
3333 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,\r
3334 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands\r
3335 macht.\r
3337 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse\r
3338 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,\r
3339 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen\r
3340 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig\r
3341 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese\r
3342 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten\r
3343 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein\r
3344 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine\r
3345 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in\r
3346 \page{96}\r
3347 die Gesamtheit der Körper. \emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom\r
3348 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom\r
3349 geworden.} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung\r
3350 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle\r
3351 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die\r
3352 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit\r
3353 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff\r
3354 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen\r
3355 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer\r
3356 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß\r
3357 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.\r
3358 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,\r
3359 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.\r
3360 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,\r
3361 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.\r
3362 Darum kann sich auch nur in der Längen- und\r
3363 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.\r
3364 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich\r
3365 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser\r
3366 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was\r
3367 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir\r
3368 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:\r
3369 das Reale wird nicht mehr durch ein \emph{Ding} beschrieben,\r
3370 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den\r
3371 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik\r
3372 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des\r
3373 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten\r
3374 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch\r
3375 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen\r
3376 zwischen den metrischen Koeffizienten, und\r
3377 wenn man 4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig\r
3378 vorgibt, sind die anderen 6 durch Transformationsformeln\r
3379 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt\r
3380 \page{97}\r
3381 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche\r
3382 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren\r
3383 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;\r
3384 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen\r
3385 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.\r
3386 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --\r
3387 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch\r
3388 der Zustand der Körper ausdrücken.\r
3390 \tb\r
3392 Damit ist der alte auch noch von \name{Kant} benutzte\r
3393 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz\r
3394 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man\r
3395 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen\r
3396 dem Ausspruch des \name{Thales von Milet}, daß das Wasser\r
3397 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff\r
3398 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein\r
3399 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere\r
3400 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das\r
3401 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen\r
3402 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,\r
3403 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die\r
3404 \name{Einstein}sche Änderung der \emph{Zuordnungsprinzipien}\r
3405 ging auf den \emph{Begriff} des Seienden. An diese Theorie\r
3406 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist\r
3407 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?\r
3408 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den\r
3409 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue\r
3410 Ausfüllung. Daß etwas \emph{ist}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen\r
3411 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;\r
3412 da wir diese durch Messung feststellen können -- und \emph{nur}\r
3413 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß\r
3414 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung\r
3415 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element\r
3416 \page{98}\r
3417 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn\r
3418 der allgemeinen Relativitätstheorie\Footnote{f}\r
3419 {Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis\r
3420 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat\r
3421 \name{Rutherford} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des\r
3422 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.\r
3423 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff\r
3424 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung\r
3425 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und \name{Rutherfords} Arbeiten\r
3426 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen\r
3427 im \name{Einstein}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die\r
3428 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie\r
3429 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im\r
3430 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes\r
3431 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen\r
3432 Meßtechnik.}.\r
3434 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn\r
3435 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung\r
3436 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von\r
3437 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen\r
3438 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.\r
3439 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung\r
3440 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;\r
3441 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,\r
3442 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen\r
3443 werden muß\Footnote{g}\r
3444 {Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst\r
3445 umgekehrt den \glqq{}scheinbaren\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die \glqq{}wirkliche\grqq{}\r
3446 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne\r
3447 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese\r
3448 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr\r
3449 tiefgehenden Ausführungen bei \name{Weyl}, Anmerkung 21, S.~162.}.\r
3450 Der Begriff des Einzeldings verliert\r
3451 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete\r
3452 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht\r
3453 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte\r
3454 \page{99}\r
3455 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie\r
3456 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im\r
3457 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den\r
3458 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert\r
3459 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man\r
3460 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne\r
3461 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst\r
3462 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit\r
3463 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an\r
3464 Stelle der \emph{Physik der Kräfte und Dinge} tritt die\r
3465 \emph{Physik der Feldzustände}.\r
3467 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs\r
3468 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch\r
3469 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu\r
3470 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien\r
3471 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie\r
3472 nicht, \emph{was} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern \emph{wie}\r
3473 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,\r
3474 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.\r
3475 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie\r
3476 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was\r
3477 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen\r
3478 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die\r
3479 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen\r
3480 führt; in diesem logischen Sinne ist das \glqq{}möglich\grqq{} jener\r
3481 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen\r
3482 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein\r
3483 können wie bei \name{Kant}: \emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis\r
3484 geändert hat, und der veränderte Gegenstand\r
3485 der physikalischen Erkenntnis auch andere\r
3486 logische Bedingungen voraussetzt}. Diese Änderung\r
3487 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und\r
3488 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die\r
3489 \page{100}\r
3490 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur\r
3491 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der\r
3492 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist\r
3493 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch\r
3494 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben\r
3495 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten\r
3496 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln\r
3497 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.\r
3498 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung\r
3499 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige\r
3500 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,\r
3501 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,\r
3502 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder\r
3503 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die\r
3504 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,\r
3505 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori\r
3506 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,\r
3507 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.\r
3509 \begin{center}\r
3510 * \quad * \quad *\r
3511 \end{center}\r
3513 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne\r
3514 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in\r
3515 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:\r
3516 die Vorstellbarkeit des \name{Riemann}schen Raums. Wir\r
3517 müssen allerdings betonen, daß die Frage der \emph{Evidenz}\r
3518 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist\r
3519 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische\r
3520 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu\r
3521 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen\r
3522 Axiome führt. Mit dem Schlagwort \glqq{}Gewöhnung\grqq{}\r
3523 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar\r
3524 \page{101}\r
3525 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um\r
3526 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil\r
3527 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen\r
3528 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns\r
3529 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte\r
3530 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch\r
3531 vollkommen unerklärt.\r
3533 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten\r
3534 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu\r
3535 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach\r
3536 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere\r
3537 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der\r
3538 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,\r
3539 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.\r
3540 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir\r
3541 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden\r
3542 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns\r
3543 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend\r
3544 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser\r
3545 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen\r
3546 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis\r
3547 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,\r
3548 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,\r
3549 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir\r
3550 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische\r
3551 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.\r
3553 Als im 15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,\r
3554 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen\r
3555 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht\r
3556 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte\r
3557 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,\r
3558 um festzustellen, daß die Erde \emph{keine} Kugel sei. Später\r
3559 \page{102}\r
3560 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es\r
3561 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine\r
3562 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen\r
3563 richtig. Es ist auch gar nicht \emph{vorstellbar}, daß\r
3564 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,\r
3565 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich\r
3566 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,\r
3567 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber\r
3568 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung\r
3569 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel\r
3570 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene\r
3571 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten\r
3572 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht\r
3573 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der\r
3574 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.\r
3575 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr\r
3576 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.\r
3577 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel\r
3578 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran\r
3579 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,\r
3580 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.\r
3582 Genau so, glaube ich, steht es mit dem \name{Riemann}schen\r
3583 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht\r
3584 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der\r
3585 Dinge war, nun plötzlich im \name{Riemann}schen Sinne krumm\r
3586 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild\r
3587 \emph{nicht gibt}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas\r
3588 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des\r
3589 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen\r
3590 Zustandes die in uns liegenden geometrischen\r
3591 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.\r
3592 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,\r
3593 \page{103}\r
3594 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die\r
3595 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann\r
3596 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten\r
3597 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche\r
3598 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns\r
3599 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie\r
3600 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,\r
3601 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.\r
3603 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,\r
3604 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis\r
3605 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen\r
3606 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie\r
3607 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;\r
3608 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse\r
3609 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,\r
3610 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.\r
3615 \chapter*{Literarische Anmerkungen.}\r
3616 \page{104}\r
3618 \litanm{1}{S. 3. \name{Poincaré} hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und\r
3619 Hypothese, Teubner 1906, S. 49--52. Es ist bezeichnend, daß er für\r
3620 seine Äquivalenzbeweise die \name{Riemann}sche Geometrie von vornherein\r
3621 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung\r
3622 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der\r
3623 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der\r
3624 Geometrie nicht behaupten können.}\r
3626 \litanm{2}{S. 4. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich\r
3627 auftauchenden Ansichten, daß die \name{Einstein}sche Raumlehre sich mit der\r
3628 \name{Kant}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,\r
3629 ob man \name{Kant} oder \name{Einstein} recht gibt, läßt sich der \emph{Widerspruch}\r
3630 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,\r
3631 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft\r
3632 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die\r
3633 \name{Kant}ische Raumlehre völlig unberührt. E. \name{Sellien} schreibt in \glqq{}Die\r
3634 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie\grqq{}, Kantstudien,\r
3635 Ergänzungsheft 48, 1919: \glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf\r
3636 die \glqq{}reine\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie\r
3637 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst\r
3638 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie\r
3639 die Berechtigung genommen zu behaupten, die \glqq{}wahre\grqq{} Geometrie ist\r
3640 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können\r
3641 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische\r
3642 Maßbestimmungen zugrunde legen.\grqq{} Leider übersieht \name{Sellien}\r
3643 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im \name{Einstein}schen\r
3644 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,\r
3645 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie\r
3646 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen\r
3647 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und \emph{eine} Physik kann\r
3648 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man\r
3649 versteht nicht, warum \name{Sellien} nicht die Relativitätstheorie als \emph{falsch}\r
3650 bezeichnet, wenn er doch an \name{Kant} festhält. Befremdend erscheint auch\r
3651 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen\r
3652 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte \name{Newton}sche\r
3653 Theorie viel bequemer war. Wenn \name{Sellien} aber weiterhin\r
3654 behauptet, der \name{Einstein}sche Raum sei ein anderer als der von \name{Kant}\r
3655 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu \name{Kant}. Freilich läßt\r
3656 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als\r
3657 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber\r
3658 \name{Kants} Raum ist gerade wie \name{Einsteins} Raum derjenige, in dem die\r
3659 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der \emph{Physik}, lokalisiert\r
3660 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der \name{Kant}ischen\r
3661 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation\r
3662 über anschauliche Hirngespinste.}\r
3663 \page{105}\r
3665 \litanm{3}{S. 4. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,\r
3666 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;\r
3667 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,\r
3668 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer\r
3669 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit\r
3670 der Prinzipien, die Darstellung von \name{Erwin Freundlich} (Die Grundlagen\r
3671 der \name{Einstein}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer\r
3672 1920. 4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung\r
3673 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen\r
3674 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der\r
3675 Abschnitte II und III dieser Untersuchung auf die Schrift \name{Freundlichs},\r
3676 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.\r
3678 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der\r
3679 Theorie sei auch die Schrift von \name{Moritz Schlick}, Raum und Zeit in der\r
3680 gegenwärtigen Physik, 3.~Aufl., Verlag von Julius Springer 1920, genannt.}\r
3682 \litanm{4}{S. 6. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes Anmerkung\r
3683 17.}\r
3685 \litanm{5}{S. 9. A. \name{Einstein}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,\r
3686 Ann. d. Phys. 17, 1905, S.~891.}\r
3688 \litanm{6}{S. 13. Wir müssen diesen Einwand auch der \name{Natorp}schen Deutung\r
3689 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den \glqq{}Logischen Grundlagen\r
3690 der exakten Wissenschaften\grqq{}, Teubner 1910, S.~402, gibt. Er hat\r
3691 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als\r
3692 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit\r
3693 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch\r
3694 \name{Natorps} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche\r
3695 auf die Unmöglichkeit ihrer \glqq{}empirischen Erfüllung\grqq{} zu schieben, nicht\r
3696 als gelungen betrachtet werden.}\r
3698 \page{106}\r
3699 \litanm{7}{S. 21. \name{A. Einstein}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.\r
3700 Ann. d. Phys. 1916, S.~777.}\r
3702 \litanm{8}{S. 24. \name{Einstein}, a.~a.~O. S.~774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung\r
3703 dieses Beispiels bei \name{Bloch}, Einführung in die Relativitätstheorie,\r
3704 Teubner 1918, S.~95.}\r
3706 \litanm{9}{S. 33. \name{David Hilbert}, Grundlagen der Geometrie, Teubner 1913, S.~5.}\r
3708 \litanm{10}{S. 33. \name{Moritz Schlick}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer\r
3709 1918, S.~30.}\r
3711 \litanm{11}{S. 41. \name{Schlick}. a.~a.~O. S.~55.}\r
3713 \litanm{12}{S. 50. \name{Kant}, Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. §~14, S.~126\r
3714 der Originalausgabe.}\r
3716 \litanm{13}{S. 50. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in Anmerkung\r
3717 20 genannten Arbeiten.}\r
3719 \litanm{14}{S. 51. Dieses Prinzip ist von \name{Kurt Lewin} analysiert worden.\r
3720 Vgl. seine in Anmerkung 20 genannten Arbeiten.}\r
3722 \litanm{15}{S. 51. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen\r
3723 Verknüpfungsaxiome gibt \name{Haas}, Naturwissenschaften 7, 1919, S.~744.\r
3724 Freilich glaubt \name{Haas}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu\r
3725 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht\r
3726 sieht.}\r
3728 \litanm{16}{S. 53. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~43. Es ist nicht recht\r
3729 einzusehen, warum \name{Kant} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der\r
3730 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.\r
3731 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.}\r
3733 \litanm{17}{S. 54. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß \name{Kant} niemals\r
3734 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt\r
3735 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von \name{Kant} behauptete \emph{Einsicht\r
3736 in die notwendige Geltung} apriorer Sätze nichts anderes ist,\r
3737 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,\r
3738 daß das Verfahren \name{Kants}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze\r
3739 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff\r
3740 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden\r
3741 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der\r
3742 \page{107}\r
3743 \name{Kant}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt\r
3744 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung\r
3745 mit der Lehre \name{Kants} in ihrer ursprünglichen Form\r
3746 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter\r
3747 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem\r
3748 exakt ausgeführten System der \name{Einstein}schen Lehre äquivalent in dem\r
3749 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner\r
3750 Auffassung von \name{Kants} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus\r
3751 der Kritik der reinen Vernunft (2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):\r
3752 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis\r
3753 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß\r
3754 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein\r
3755 könne. Findet sich also erstlich ein Satz, \emph{der zugleich mit seiner\r
3756 Notwendigkeit gedacht wird}, so ist er ein Urteil apriori (S.~3). Wo\r
3757 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,\r
3758 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich\r
3759 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~4). Daß es nun dergleichen\r
3760 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile\r
3761 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.\r
3762 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze\r
3763 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten\r
3764 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache\r
3765 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff\r
3766 einer Ursache so \emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit} der\r
3767 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der\r
3768 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn \ldots{} von\r
3769 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte\grqq{}\r
3770 (S.~4--5).\r
3772 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien\r
3773 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,\r
3774 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der\r
3775 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung\r
3776 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An\r
3777 beiden ist nicht allein die \emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung\r
3778 apriori}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar\grqq{} (S.~17).\r
3780 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,\r
3781 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es: \glqq{}Von\r
3782 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl\r
3783 geziemend fragen, \emph{wie} sie möglich sind, denn \emph{daß} sie möglich sein\r
3784 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen\grqq{} (S.~20). Und Prolegomena,\r
3785 S.~275 und 276 der Akademieausgabe: \glqq{}Es trifft sich aber\r
3786 glücklicherweise, \ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori\r
3787 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;\r
3788 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß\r
3789 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der\r
3790 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig\r
3791 anerkannt werden. \ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher\r
3792 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.\,i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es\r
3793 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.\grqq{}\r
3795 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht\r
3796 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise\r
3797 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik\r
3798 der reinen Vernunft.}\r
3800 \page{108}\r
3801 \litanm{18}{S. 64. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen\r
3802 Hypothese muß auf die in Anmerkung 20 genannten Arbeiten\r
3803 des Verfassers hingewiesen werden.}\r
3805 \litanm{19}{S. 68. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~V.}\r
3807 \litanm{20}{S. 72. \name{Reichenbach}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die\r
3808 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen 1915\r
3809 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~161,\r
3810 Barth 1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,\r
3811 Naturwiss. 8, 3, S.~46--55. -- Philosophische Kritik der\r
3812 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss. 8, 8, S.~146--153, Springer 1920, --\r
3813 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.\r
3814 Zeitschrift für Physik 1920, Bd.~2. Heft 2, S.~150--171.\r
3816 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen\r
3817 Arbeiten von \name{Kurt Lewin}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und\r
3818 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,\r
3819 Berlin 1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,\r
3820 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin\r
3821 1920.\r
3823 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie\r
3824 liegt neuerdings eine Arbeit von \name{Ernst Cassirer} vor (Zur \name{Einstein}schen\r
3825 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920,\r
3826 B. \name{Cassirer}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter\r
3827 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen\r
3828 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion\r
3829 \page{109}\r
3830 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat\r
3831 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion\r
3832 berufener als \name{Cassirer}, dessen kritische Auflösung physikalischer\r
3833 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie\r
3834 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E. \name{Cassirer},\r
3835 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910. B. \name{Cassirer}).\r
3836 Leider war es mir nicht möglich, auf \name{Cassirers} Arbeit einzugehen, da\r
3837 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.}\r
3839 \litanm{21}{S. 73. \name{Hermann Weyl}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius\r
3840 Springer 1918, S.~227. \name{Arthur Haas}, Die Physik als geometrische\r
3841 Notwendigkeit. Naturwiss. 8, 7, S.~121--140. Springer 1920.}\r
3843 \litanm{22}{S. 73 \name{Hermann Weyl}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.\r
3844 der Berliner Akademie. 1918, S.~465--480.}\r
3846 \litanm{23}{S. 75. Vgl. z.\,B. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~228. \glqq{}Ein\r
3847 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe\r
3848 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden\r
3849 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als\r
3850 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)\r
3851 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.\grqq{}\r
3852 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret\r
3853 sich \name{Kant} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.}\r
3855 \litanm{24}{S. 78. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten\r
3856 (vgl. Anm. 20) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen\r
3857 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung\r
3858 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren\r
3859 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so\r
3860 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen\r
3861 gelegentlich versucht wird.}\r
3863 \litanm{25}{S. 79. Vgl. hierzu meine in Anmerkung 20 genannte erste Arbeit,\r
3864 S. 229.}\r
3866 \litanm{26}{S. 80. Vgl. die in Anmerkung 10 genannte Arbeit, S. 323.}\r
3868 \litanm{27}{S. 82. Es ist auffallend, daß \name{Schlick}, der den Begriff der eindeutigen\r
3869 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und\r
3870 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst\r
3871 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen\r
3872 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein\r
3873 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese\r
3874 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus\r
3875 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr\r
3876 weiter käme (Anmerkung 10, S.~344). Aber etwas anderes hatte \name{Kant}\r
3877 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend\r
3878 für \name{Schlicks} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der\r
3879 \name{Kant}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,\r
3880 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften\r
3881 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis\r
3882 als eindeutige Zuordnung ist \name{Schlicks} Analyse der Vernunft,\r
3883 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.}\r
3884 \page{110}\r
3886 \litanm{28}{S. 91. \name{Helge Holst}, Die kausale Relativitätsforderung und\r
3887 \name{Einsteins} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab\r
3888 Math.-fys. Medd. II, 11, Kopenhagen, 1919.}\r
3890 \end{document}\r