2 \usepackage[T1]{fontenc}
\r
4 \newcommand{\name}[1]{\textsc{#1}}
\r
5 \newcommand{\page}[1]{}
\r
9 UND ERKENNTNIS APRIORI
\r
17 VERLAG VON JULIUS SPRINGER
\r
21 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
\r
22 in fremde Sprachen, vorbehalten.
\r
24 Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.
\r
40 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten
\r
43 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten
\r
46 %IV. Erkenntnis als Zuordnung 32
\r
48 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung
\r
51 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die
\r
52 %Relativitätstheorie 59
\r
54 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische
\r
57 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der
\r
58 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes 89
\r
60 %Literarische Anmerkungen 104
\r
66 \chapter*{I. Einleitung.}
\r
69 Die \name{Einstein}sche Relativitätstheorie hat die philosophischen
\r
70 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung
\r
71 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu
\r
72 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie
\r
73 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als
\r
74 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in
\r
75 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie
\r
76 nur Behauptungen über \emph{physikalische} Meßbarkeitsverhältnisse
\r
77 und physikalische \emph{Größenbeziehungen} auf
\r
79 aber es muß durchaus zugegeben werden, daß diese
\r
80 speziellen Behauptungen den allgemeinen \emph{philosophischen}
\r
81 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen
\r
82 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen
\r
83 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen
\r
84 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte
\r
85 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;
\r
86 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die
\r
87 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer
\r
88 physikalischen Annahmen gemacht.
\r
90 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere
\r
91 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.
\r
92 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht
\r
93 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse
\r
94 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem
\r
95 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist
\r
96 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,
\r
97 auch zu dem Zeitbegriff \name{Kants}. Man hat
\r
99 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem
\r
100 man die \glqq{}physikalische Zeit\grqq{} von der \glqq{}phänomenologischen
\r
101 Zeit\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die
\r
102 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis} immer die irreversible
\r
103 Folge blieb. Aber in \name{Kants} Sinne ist diese Trennung
\r
104 sicherlich nicht. Denn für \name{Kant} ist es gerade das Wesentliche
\r
105 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine \emph{Bedingung
\r
106 der Naturerkenntnis} bildet, und nicht bloß
\r
107 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er
\r
108 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung
\r
109 \glqq{}affizieren\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,
\r
110 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form
\r
111 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente
\r
112 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde
\r
113 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische
\r
114 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,
\r
115 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts
\r
116 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn
\r
117 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände
\r
118 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie
\r
119 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.
\r
121 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese
\r
122 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde
\r
123 nichts Geringeres behauptet, als \emph{daß die euklidische
\r
124 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden
\r
125 dürfte}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser
\r
126 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit
\r
127 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung
\r
128 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung
\r
129 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher
\r
130 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich
\r
131 evidenten Axiomen \name{Euklids} widersprechen.
\r
133 \name{Riemann} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in
\r
134 analytischer Form begründet, in der der \glqq{}ebene\grqq{} Raum
\r
135 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche
\r
136 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen
\r
137 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,
\r
138 daß man sie als \emph{anschaulich evident} von den anderen
\r
139 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen
\r
140 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne \name{Kants} -- die
\r
141 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung
\r
142 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden
\r
143 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie
\r
144 auf einen Einwand gegen ihre rein \emph{begriffliche}
\r
145 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der
\r
146 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte
\r
147 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die
\r
148 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung
\r
149 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden
\r
150 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von
\r
151 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der
\r
152 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein
\r
153 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über
\r
154 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt
\r
155 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches
\r
156 Schema ersetzt werden könnte\footnotemark[1]. Gegenüber
\r
157 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen
\r
158 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken
\r
159 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie
\r
160 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen
\r
161 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt \emph{falsch} wären.
\r
162 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten
\r
163 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,
\r
164 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht
\r
165 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung
\r
167 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.
\r
168 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie
\r
169 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein
\r
170 Zweifel, daß \name{Kants} transzendentale Ästhetik von der
\r
171 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;
\r
172 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer
\r
173 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie
\r
174 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität
\r
175 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so
\r
176 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der \emph{Ungültigkeit}
\r
177 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.
\r
179 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist
\r
180 die Relativitätstheorie falsch, oder die \name{Kant}ische Philosophie
\r
181 bedarf in ihren \name{Einstein} widersprechenden Teilen
\r
182 einer Änderung\footnotemark[2]. Der Untersuchung dieser Frage ist die
\r
183 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint
\r
184 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,
\r
185 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung
\r
186 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung
\r
187 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es
\r
188 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos
\r
189 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische
\r
190 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir
\r
191 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst
\r
192 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,
\r
193 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen
\r
194 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen
\r
195 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie
\r
196 für ihre Behauptungen anführt\footnotemark[3]. Danach untersuchen
\r
197 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,
\r
198 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie \name{Kants} einschließt,
\r
199 und indem wir diese den Resultaten unserer
\r
200 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden
\r
202 wir, in welchem Sinne die Theorie \name{Kants} durch
\r
203 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann
\r
204 eine solche Änderung des Begriffs \glqq{}apriori\grqq{} durchführen,
\r
205 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr
\r
206 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie
\r
207 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine
\r
208 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.
\r
209 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische
\r
215 \chapter*{II. Die von der speziellen Relativitätstheorie
\r
216 behaupteten Widersprüche.}
\r
219 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt
\r
220 das Wort apriori im Sinne \name{Kants} gebrauchen, also dasjenige
\r
221 apriori nennen, was die Formen der Anschauung
\r
222 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir
\r
223 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche
\r
224 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien
\r
225 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche
\r
226 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der
\r
227 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die \emph{Geltung}
\r
228 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori
\r
229 nicht vorweggenommen sein\footnotemark[4].
\r
231 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese
\r
232 Theorie auch heute noch als für \emph{homogene} Gravitationsfelder
\r
233 gültig ansehen -- behauptet \name{Einstein}, daß das
\r
234 \name{Newton-Galilei}sche Relativitätsprinzip der Mechanik
\r
235 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
236 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der
\r
237 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen
\r
238 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit
\r
239 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.
\r
240 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:
\r
241 Auf welche Voraussetzungen stützen sich \name{Einstein}s
\r
244 Das \name{Galilei}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein
\r
246 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein
\r
247 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen
\r
248 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt
\r
249 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil
\r
250 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand
\r
251 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende
\r
252 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung
\r
253 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische
\r
254 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber
\r
255 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits\emph{änderungen}
\r
256 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung
\r
257 kennen, an das Auftreten einer \emph{Beschleunigung} geknüpft
\r
258 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren
\r
259 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das \name{Galilei}sche
\r
260 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
\r
262 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form
\r
263 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von
\r
264 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig
\r
265 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen
\r
266 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik
\r
267 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser
\r
268 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form
\r
269 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.
\r
270 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,
\r
271 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die
\r
272 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte
\r
273 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,
\r
274 wie im alten, daß also der \emph{Funktionalzusammenhang}
\r
275 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller
\r
276 als die \name{Galilei}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung
\r
277 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier
\r
278 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen
\r
279 an, bei welchen die Erhaltung des
\r
281 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung
\r
282 der Kraft\emph{größen} herbeigeführt wird. Daß es solche
\r
283 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings
\r
284 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische
\r
285 \emph{Gesetz}, und nicht nur die \emph{Kraft}, invariant gegen
\r
286 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer
\r
287 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen
\r
288 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen
\r
289 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist
\r
290 durch die Verteilung und die Natur der \emph{Dinge}, und die
\r
291 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang
\r
292 haben kann. Für den \name{Kant}ischen Standpunkt, auf dem
\r
293 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und
\r
294 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die
\r
295 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,
\r
296 daß gegen die \name{Galilei-Newton}schen Gesetze
\r
297 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von
\r
298 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben
\r
299 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs
\r
300 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,
\r
301 liegt für den Philosophen kein Grund vor;
\r
302 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts
\r
303 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch
\r
304 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung
\r
305 der Geschehnisse äquivalent sein. \name{Mach}
\r
306 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken
\r
307 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn
\r
308 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand
\r
309 hat \name{Einstein} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie
\r
310 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal
\r
311 genug sei. Erst \name{Einstein} selbst hat seiner Theorie diesen
\r
312 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine
\r
313 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die \name{Kant}ische
\r
315 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend
\r
316 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;
\r
317 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht
\r
318 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,
\r
319 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik
\r
320 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung
\r
321 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern
\r
322 lag, um von ihr erkannt werden zu können.
\r
324 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische
\r
325 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische
\r
326 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als
\r
327 \name{Einstein} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung\footnotemark[5] zur
\r
328 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,
\r
329 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange
\r
332 \name{Einstein} ging davon aus, daß man, um in einem
\r
333 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die
\r
334 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter
\r
335 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang
\r
336 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu
\r
337 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses
\r
338 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann
\r
339 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die
\r
340 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an
\r
341 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen
\r
342 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung
\r
343 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle
\r
344 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition
\r
345 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen
\r
346 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,
\r
347 also eine negative Auswahl treffen. In jeder \glqq{}Koordinatenzeit\grqq{}
\r
348 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert
\r
349 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die
\r
351 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von
\r
352 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme
\r
355 Es ist keineswegs gesagt, daß diese \emph{einfachste} Annahme
\r
356 auch \emph{physikalisch zulässig} ist. Sie führt z.~B.,
\r
357 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der
\r
358 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),
\r
359 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere
\r
360 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens
\r
361 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten
\r
362 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition
\r
363 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit
\r
364 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit
\r
365 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt
\r
366 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit
\r
367 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen
\r
368 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.~h. ob nicht
\r
369 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden
\r
370 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch
\r
371 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als
\r
372 Entscheidung darüber konnte der \name{Michelson}sche Versuch
\r
373 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
374 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem
\r
375 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen
\r
376 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage
\r
377 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit
\r
378 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat
\r
379 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung
\r
380 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben
\r
381 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete
\r
382 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der
\r
383 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste
\r
384 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die
\r
386 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall
\r
387 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
\r
389 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung
\r
390 der speziellen Relativitätstheorie die empirische
\r
391 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials
\r
392 erhebt sich der tiefe Gedanke \name{Einsteins}: \emph{daß
\r
393 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese
\r
394 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten
\r
395 unmöglich ist}. Auch die alte Definition einer
\r
396 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:
\r
397 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich
\r
398 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung
\r
401 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist
\r
402 \name{Einstein} eingewandt worden, daß seine Überlegungen
\r
403 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln
\r
404 niemals zu einer genauen \glqq{}absoluten\grqq{} Zeit kommen
\r
405 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend
\r
406 approximativen Messung müßte festgehalten
\r
407 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die \glqq{}absolute\grqq{} Zeit
\r
408 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit
\r
409 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren
\r
410 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung
\r
411 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen
\r
412 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht
\r
413 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts
\r
414 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei
\r
415 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung
\r
416 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,
\r
417 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt
\r
418 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei
\r
419 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine
\r
420 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip
\r
422 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,
\r
423 wie etwa \name{Kant} die Unzerstörbarkeit der Substanz
\r
424 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten
\r
425 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden
\r
426 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige
\r
427 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.
\r
428 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten
\r
429 eine obere Grenze nicht geben. Darüber
\r
430 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist
\r
431 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade
\r
432 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur
\r
433 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung
\r
434 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie
\r
435 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger
\r
436 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar
\r
437 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese
\r
438 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht
\r
439 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,
\r
440 in denen z.~B. die kinetische Energie eines Massenpunktes
\r
441 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich
\r
442 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,
\r
443 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,
\r
444 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere
\r
445 Grenze der Temperatur zu unterschreiten\footnotemark[a], kann auch
\r
446 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch
\r
447 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das
\r
449 \footnotetext[a]{Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur
\r
450 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören
\r
451 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen
\r
452 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,
\r
453 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.
\r
454 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische
\r
455 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.}
\r
457 andere, aber es handelt sich hier gerade um das \emph{physikalisch
\r
458 Erreichbare}. Wenn ein physikalisches Gesetz
\r
459 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze
\r
460 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die \glqq{}absolute\grqq{}
\r
461 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des
\r
462 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von
\r
463 einer \glqq{}idealen Zeit\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe
\r
464 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch
\r
465 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch
\r
466 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten\footnotemark[6]).
\r
468 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip
\r
469 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur
\r
470 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten
\r
471 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),
\r
472 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute
\r
473 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch
\r
474 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide
\r
475 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,
\r
476 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der
\r
477 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten
\r
478 ist aber eine empirische Angelegenheit
\r
479 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von
\r
480 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem
\r
481 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare
\r
482 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip
\r
483 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken
\r
484 vollzieht dabei \name{Einsteins} Entdeckung, daß die
\r
485 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung
\r
486 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden
\r
489 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls
\r
490 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit
\r
491 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die
\r
493 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.
\r
494 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert
\r
495 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit
\r
496 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.
\r
497 Allerdings wird sich der experimentelle
\r
498 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit
\r
499 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen
\r
500 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir
\r
501 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze
\r
502 ist, z.~B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung
\r
503 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische
\r
504 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit
\r
505 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;
\r
506 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch
\r
507 der \name{Michelson}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn
\r
508 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des
\r
509 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.
\r
510 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine
\r
511 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den
\r
512 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste
\r
513 Extrapolation verwendet, das \emph{Prinzip der
\r
514 normalen Induktion} nennen. Allerdings verbirgt sich
\r
515 hinter dem Begriff \glqq{}\emph{wahrscheinlichste Extrapolation}\grqq{}
\r
516 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf
\r
517 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die
\r
518 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen
\r
519 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl
\r
520 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden
\r
521 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches
\r
522 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.
\r
523 Denken wir uns z.~B. die Werte der kinetischen Energie
\r
524 des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0-99~% der
\r
525 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und
\r
527 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die
\r
528 sich bei 100~% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.
\r
529 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve
\r
530 zwischen 99~% und 100~% noch einen Knick macht,
\r
531 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins
\r
532 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der
\r
533 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,
\r
534 den \name{Michelson}schen Versuch eingerechnet, nicht
\r
535 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten
\r
536 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer
\r
537 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,
\r
538 um seinen aprioren Charakter im Sinne des
\r
539 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im
\r
540 Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung
\r
541 dieses Prinzips näher eingehen.
\r
543 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,
\r
544 daß die Prinzipien:
\r
546 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
\r
547 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität
\r
548 \item Prinzip der Nahewirkung
\r
549 \item Prinzip des approximierbaren Ideals
\r
550 \item Prinzip der normalen Induktion
\r
551 \item Prinzip der absoluten Zeit
\r
553 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar
\r
554 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit
\r
555 gleichem Recht \emph{apriore} Prinzipien nennen. Zwar sind
\r
556 sie nicht alle von \name{Kant} selbst als apriori genannt. Aber
\r
557 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem
\r
558 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,
\r
559 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir
\r
560 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit
\r
561 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen
\r
563 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere
\r
564 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige
\r
565 dieser Prinzipien, z.~B. das der Nahewirkung, bestritten
\r
566 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen
\r
567 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien
\r
568 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das
\r
569 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung
\r
570 besonders aufführten, in ihnen nochmals
\r
571 implizit enthalten.
\r
573 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen
\r
574 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum \emph{Kausalprinzip}
\r
575 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität
\r
576 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale
\r
577 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann
\r
578 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema
\r
579 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten
\r
582 \name{Minkowski} hat den \name{Einstein}schen Gedanken eine
\r
583 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer
\r
584 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_{4}$-Koordinate
\r
585 durch $x_{4} = \i c t$ und leitet die Lorentztransformation
\r
586 aus der Forderung ab, daß das Linienelement
\r
587 der 4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
\r
589 ds^{2} = \sum_{1}^{4} dx_\nu^{2}
\r
591 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen
\r
592 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören
\r
593 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip
\r
594 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als
\r
595 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
596 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen
\r
599 \emph{Relativität aller orthogonalen
\r
600 Transformationen in der Minkowski-Welt}. Die
\r
601 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam
\r
602 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der
\r
603 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene
\r
604 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern
\r
605 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird
\r
606 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem
\r
607 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen
\r
608 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für
\r
609 die einzelnen Systeme verschieden wäre.
\r
611 Man muß jedoch beachten, daß das \name{Minkowski}sche
\r
612 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare
\r
613 Formulierung der \name{Einstein}schen Gedanken. An deren
\r
614 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie
\r
615 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,
\r
616 denn die Einführung der vierten Koordinate
\r
617 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet
\r
618 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit
\r
619 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind
\r
620 raumartige und zeitartige Vektoren in der \name{Minkowski}-Welt
\r
621 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch
\r
622 mögliche Transformation ineinander überführen.
\r
624 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine
\r
625 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen
\r
626 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen
\r
627 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen
\r
628 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.
\r
629 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
\r
630 das in unseren Überlegungen eine so
\r
631 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben
\r
634 Nach \name{Einsteins} zweiter Theorie gilt die spezielle
\r
635 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen
\r
637 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.~B. die
\r
638 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so
\r
639 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
640 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle
\r
641 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt
\r
642 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall
\r
643 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung
\r
644 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die
\r
645 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.
\r
646 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,
\r
647 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,
\r
648 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß
\r
649 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere
\r
650 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn
\r
651 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener
\r
652 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier
\r
653 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen
\r
654 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch
\r
655 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber
\r
656 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten
\r
657 als $c = 3 \cdot 10^{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die
\r
658 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit
\r
659 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
\r
661 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld
\r
662 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,
\r
663 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge
\r
664 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.
\r
665 Für jedes Volumelement des Raumes hat c einen bestimmten
\r
666 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang
\r
667 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat
\r
668 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten
\r
669 $c = 3 \cdot 10^{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem
\r
670 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller
\r
672 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,
\r
673 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer \emph{oberen
\r
674 Grenze}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein
\r
675 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach
\r
676 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt
\r
677 also unsere vorher angewandte Betrachtung
\r
678 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
\r
680 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich
\r
681 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht
\r
682 von einer \emph{allmählichen Annäherung} an eine absolute
\r
683 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht
\r
684 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren
\r
685 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom
\r
686 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens
\r
687 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl
\r
688 $c > 3 \cdot 10^{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die
\r
689 absolute Zeit beliebig genau wird?
\r
691 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl c für das gewählte
\r
692 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung
\r
693 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,
\r
694 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos
\r
695 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,
\r
696 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen
\r
697 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß
\r
698 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements
\r
699 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und
\r
700 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren
\r
701 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht
\r
702 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen
\r
703 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung
\r
704 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der
\r
705 größeren Konstanten c als eine Genauigkeitssteigerung
\r
706 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die
\r
708 Konstante c einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur
\r
709 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst
\r
710 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit
\r
711 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig
\r
712 erschiene es allein, den Wert von c festzuhalten, etwa (wie es
\r
713 vielfach geschieht) $c = 1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,
\r
714 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
\r
716 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge
\r
717 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn
\r
718 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit
\r
719 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung
\r
720 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne
\r
721 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine
\r
722 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich
\r
723 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit
\r
724 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;
\r
725 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des
\r
726 Raumes. Die Größe c ist aber nicht eine Funktion bestimmter
\r
727 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines
\r
728 \emph{universalen Zustands}, und alle Meßmethoden sind
\r
729 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,
\r
730 daß innerhalb jedes Universalzustands eine
\r
731 obere Grenze c für jedes Volumelement existiert, bleibt
\r
732 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch
\r
733 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man
\r
734 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die
\r
735 allgemeine einordnet.
\r
737 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um
\r
738 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen
\r
739 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die
\r
740 \emph{Geltung} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes
\r
741 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.
\r
746 \chapter*{III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie
\r
747 behaupteten Widersprüche.}
\r
750 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie
\r
751 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die
\r
752 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.
\r
753 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,
\r
754 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum
\r
755 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?
\r
757 \name{Einstein} sagt in seiner grundlegenden Schrift: \glqq{}Es
\r
758 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die
\r
759 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches
\r
760 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.
\r
761 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie
\r
762 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit
\r
763 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß
\r
764 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung
\r
765 möglichst gesichert erscheinen\footnotemark[7].\grqq{}
\r
767 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,
\r
768 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung
\r
769 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine
\r
770 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an
\r
771 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft
\r
772 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,
\r
773 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem
\r
774 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden
\r
775 wir finden, daß \name{Einsteins} Darstellung in Wahrheit eine
\r
776 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden
\r
777 Worten beansprucht.
\r
780 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen
\r
781 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität
\r
782 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen
\r
783 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher
\r
784 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen
\r
785 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen
\r
788 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von
\r
789 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.
\r
790 In diesem Koordinatensystem ist dann das
\r
791 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß
\r
792 dann das vierdimensionale Linienelement
\r
794 d s^2 = \sum_1^4 d x_\nu^2
\r
796 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale
\r
797 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch
\r
798 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich
\r
799 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird
\r
800 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,
\r
801 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:
\r
803 d s^2 = \sum_1^4 g_{\mu\nu} d x_\mui d x_\nu.
\r
806 Dieser Ausdruck ist nach \name{Gauß} und \name{Riemann}
\r
807 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie\footnotemark[b].
\r
809 \footnotetext[b]{Wir gebrauchen hier das Wort \glqq{}euklidisch\grqq{} für die vierdimensionale
\r
810 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen
\r
811 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen
\r
812 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen
\r
813 Raum, denn wenn die erstere eine \name{Riemann}sche Krümmung aufweist,
\r
814 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch
\r
815 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die
\r
816 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten \name{Erwin Freundlich}, Anmerkung
\r
819 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_{\mu\nu}$ drücken sich
\r
820 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems
\r
821 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung
\r
822 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld
\r
823 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für
\r
824 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang
\r
825 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld
\r
826 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten
\r
827 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß
\r
828 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat \name{Einstein} den
\r
829 Schluß gezogen, daß \emph{jedes} Gravitationsfeld, nicht bloß
\r
830 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung
\r
831 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.
\r
833 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine
\r
834 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;
\r
835 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der
\r
836 \name{Einstein}schen Extrapolation geführt haben.
\r
838 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch
\r
839 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen
\r
840 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,
\r
841 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen
\r
842 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.
\r
843 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit
\r
844 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:
\r
845 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß
\r
846 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit
\r
847 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine
\r
848 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.~B. daß
\r
849 das \name{Riemann}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall
\r
850 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar
\r
851 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur
\r
852 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale
\r
853 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische
\r
855 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche
\r
856 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann
\r
857 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen
\r
858 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten
\r
859 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme
\r
860 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen
\r
861 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige
\r
862 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des
\r
863 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum
\r
864 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes
\r
865 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen
\r
866 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber
\r
867 bleibt dabei gleich Null.
\r
869 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung
\r
870 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.
\r
871 Wenn also die \name{Einstein}sche Theorie, indem sie von
\r
872 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen
\r
873 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer
\r
874 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich
\r
875 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet
\r
876 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,
\r
877 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir
\r
878 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.
\r
879 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch
\r
880 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische
\r
881 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte
\r
882 Raum das Krümmungsmaß Null behält.
\r
884 Auch das von \name{Einstein} angeführte Beispiel der rotierenden
\r
885 Kreisscheibe\footnotemark[8] kann eine so weitgehende Verallgemeinerung
\r
886 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings
\r
887 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender
\r
888 Beobachter für den Quotienten aus Umfang
\r
889 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als \pi
\r
891 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem
\r
892 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber
\r
893 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate
\r
894 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von
\r
895 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das
\r
896 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit
\r
897 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --
\r
898 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge
\r
899 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine
\r
900 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was
\r
901 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).
\r
902 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,
\r
903 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des
\r
904 Sonnensystems, das für die \name{Newton}schen Gleichungen
\r
905 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe
\r
906 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß
\r
909 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie
\r
910 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als
\r
911 die \name{Einstein}sche. Wir wollen folgende Forderungen an
\r
914 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in
\r
915 die spezielle Relativitätstheorie;
\r
917 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer
\r
918 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.
\r
920 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden
\r
921 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.~B.
\r
922 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem
\r
923 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des
\r
924 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken
\r
925 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem
\r
926 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante
\r
928 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich
\r
929 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen
\r
930 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;
\r
931 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß
\r
932 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen
\r
933 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.
\r
934 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das
\r
935 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen
\r
936 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung
\r
937 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten
\r
938 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen
\r
939 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und
\r
940 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene
\r
941 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische
\r
944 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von \name{Einstein}
\r
945 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang
\r
946 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a
\r
947 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei \emph{festgehaltenem
\r
948 Raumgebiet} die Feldstärken in den verschiedenen
\r
949 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch
\r
950 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß
\r
951 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;
\r
952 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir
\r
953 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in
\r
954 der Weise vollziehen, daß wir \emph{bei festgehaltener Feldstärke}
\r
955 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.
\r
956 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes
\r
957 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende \name{Einstein}sche
\r
958 Voraussetzung für die Extrapolation machen:
\r
960 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich
\r
961 kleine Gebiete übergehen in die spezielle
\r
962 Relativitätstheorie.
\r
965 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b
\r
968 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld
\r
969 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend
\r
970 homogen betrachten dürfen. Dort können wir
\r
971 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die
\r
972 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem
\r
973 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar
\r
974 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme
\r
975 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.
\r
976 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes
\r
977 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen
\r
978 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen
\r
979 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören
\r
980 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit
\r
981 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch
\r
982 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$
\r
983 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c
\r
984 mit Forderung b nicht vereinbar.
\r
986 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen
\r
987 Relativitätstheorie nach der \name{Einstein}schen Forderung c
\r
988 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie
\r
989 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes
\r
990 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen
\r
991 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl
\r
992 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die
\r
993 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des
\r
994 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.
\r
996 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits
\r
997 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die
\r
998 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation
\r
999 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt
\r
1000 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit
\r
1002 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die
\r
1003 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine
\r
1004 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,
\r
1005 daß also der \emph{Raum homogen} ist; denn nur unter dieser
\r
1006 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine
\r
1007 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn
\r
1008 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.
\r
1009 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,
\r
1010 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung
\r
1011 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten
\r
1012 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,
\r
1013 so daß doch keine Annäherung an die spezielle
\r
1014 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den
\r
1015 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens
\r
1016 beruht die Forderung c auf dem \name{Einstein}schen Äquivalenzprinzip,
\r
1017 denn sie besagt, daß \emph{jedes} homogene Gravitationsfeld,
\r
1018 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,
\r
1019 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier
\r
1020 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.
\r
1021 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die
\r
1022 Gleichheit von schwerer und träger Masse für \emph{jedes}
\r
1023 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch
\r
1024 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment
\r
1025 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.
\r
1026 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche
\r
1027 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.
\r
1029 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und
\r
1030 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien
\r
1031 im \name{Kant}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,
\r
1032 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden
\r
1033 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c
\r
1034 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse
\r
1035 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß
\r
1037 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf
\r
1038 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da
\r
1039 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität
\r
1040 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,
\r
1041 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die
\r
1042 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch
\r
1043 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen
\r
1044 Fall in die spezielle übergeht, die \emph{Stetigkeit der Gesetze},
\r
1045 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen
\r
1046 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie
\r
1047 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen
\r
1048 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie
\r
1049 folgende Prinzipien als \emph{gemeinsam unvereinbar mit
\r
1050 der Erfahrung} nachgewiesen hat.
\r
1053 \item Prinzip der speziellen Relativität
\r
1054 \item Prinzip der normalen Induktion
\r
1055 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz
\r
1056 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze
\r
1057 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen
\r
1058 \item Prinzip der Homogenität des Raumes
\r
1059 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.
\r
1062 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar
\r
1063 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und
\r
1064 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,
\r
1065 mit Ausnahme des ersten, apriori im \name{Kant}ischen
\r
1066 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches
\r
1067 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden
\r
1068 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.
\r
1070 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das
\r
1071 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.
\r
1072 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir
\r
1073 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch
\r
1074 der \name{Einstein}sche Raum noch besitzt.
\r
1077 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der \name{Einstein}schen
\r
1078 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr
\r
1079 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,
\r
1080 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen
\r
1081 wird. \name{Riemann} nennt diese Eigenschaft:
\r
1082 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen\grqq{}. Sie drückt sich analytisch
\r
1083 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements
\r
1084 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl
\r
1085 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das
\r
1086 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.
\r
1087 Man kann also ein Koordinatensystem immer so
\r
1088 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet
\r
1089 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß
\r
1090 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld
\r
1091 immer \glqq{}wegtransformieren\grqq{} kann, wie auch das Feld
\r
1092 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied
\r
1093 zwischen den durch Transformation erzeugten und
\r
1094 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der
\r
1095 Inhalt der \name{Einstein}schen Äquivalenzhypothese für die
\r
1096 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese
\r
1097 Hypothese der Grund für die quadratische Form des
\r
1098 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen
\r
1099 hat danach ihren \emph{physikalischen} Grund. Würden die
\r
1100 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für
\r
1101 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa
\r
1102 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde
\r
1103 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes
\r
1106 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen
\r
1107 Form für das Linienelement auch folgendermaßen
\r
1108 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen
\r
1109 $g_\mu\nu$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der
\r
1110 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig
\r
1112 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,
\r
1113 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen
\r
1114 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der
\r
1115 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die
\r
1116 metrischen Funktionen $g_\mu\nu$ gilt also \emph{keine} Relativität,
\r
1117 d.~h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man
\r
1118 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn
\r
1119 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem
\r
1120 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in
\r
1121 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen
\r
1122 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie
\r
1123 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese
\r
1124 Eigenschaft \glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten\grqq{}
\r
1125 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die
\r
1126 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.
\r
1127 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für
\r
1128 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere
\r
1129 Formen, z.~B. den Differentialausdruck vierten Grades,
\r
1130 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der
\r
1131 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die
\r
1132 \name{Einstein}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in
\r
1133 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb
\r
1134 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische
\r
1135 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer
\r
1136 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.
\r
1141 \chapter*{IV. Erkenntnis als Zuordnung.}
\r
1144 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie
\r
1145 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie
\r
1146 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,
\r
1147 den Sinn des Apriori zu formulieren.
\r
1149 Es ist das Kennzeichen der modernen \emph{Physik,} daß
\r
1150 sie alle Vorgänge durch \emph{mathematische} Gleichungen
\r
1151 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf
\r
1152 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.
\r
1153 Für den mathematischen Satz bedeutet \emph{Wahrheit}
\r
1154 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen
\r
1155 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas
\r
1156 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.
\r
1157 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der
\r
1158 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute
\r
1159 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur
\r
1160 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese
\r
1161 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der
\r
1162 beiden Wissenschaften.
\r
1164 Der \emph{mathematische Gegenstand} ist durch die
\r
1165 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig
\r
1166 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie
\r
1167 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten
\r
1168 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede
\r
1169 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er
\r
1170 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.
\r
1171 Und durch die Axiome: denn sie geben die
\r
1173 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen
\r
1174 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe
\r
1175 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen
\r
1176 definiert. Wenn \name{Hilbert}\footnotemark[9] unter seine Axiome der
\r
1177 Geometrie den Satz aufnimmt: \glqq{}unter irgend drei
\r
1178 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,
\r
1179 der zwischen den beiden andern liegt\grqq{}, so ist dies ebensowohl
\r
1180 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte
\r
1181 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation
\r
1182 \glqq{}zwischen\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine \emph{erschöpfende}
\r
1183 Definition. Aber die Definition wird vollständig
\r
1184 durch die Gesamtheit der Axiome. Der \name{Hilbert}sche
\r
1185 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was
\r
1186 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.
\r
1187 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c \ldots{} an Stelle
\r
1188 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,
\r
1189 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten
\r
1190 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,
\r
1191 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die
\r
1192 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch
\r
1193 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,
\r
1194 und obgleich unsere Anschauung mit beiden
\r
1195 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und
\r
1196 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,
\r
1197 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache
\r
1198 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz
\r
1199 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich
\r
1200 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche
\r
1201 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,
\r
1202 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß
\r
1203 eine Beziehung auf \glqq{}absolute Definitionen\grqq{} nötig wäre,
\r
1204 ist von \name{Schlick}\footnotemark[10] in der Lehre von den impliziten Definitionen
\r
1205 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese
\r
1207 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit
\r
1208 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.
\r
1210 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,
\r
1211 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.
\r
1212 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung
\r
1213 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich
\r
1214 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,
\r
1215 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten
\r
1216 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.
\r
1217 \name{Schlick} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine
\r
1218 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht
\r
1219 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen
\r
1220 empirischen Ungenauigkeiten ist.
\r
1222 Für den \emph{physikalischen Gegenstand} aber ist eine
\r
1223 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der
\r
1224 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.
\r
1225 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des
\r
1226 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen
\r
1227 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,
\r
1228 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie
\r
1229 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung
\r
1230 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen
\r
1231 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was
\r
1232 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System
\r
1233 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt
\r
1234 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,
\r
1235 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß
\r
1236 dies System von Gleichungen \emph{Geltung für die Wirklichkeit}
\r
1237 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als
\r
1238 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir
\r
1239 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen
\r
1240 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die
\r
1241 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des
\r
1243 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die \emph{einzelnen}
\r
1244 Dinge den \emph{einzelnen} Gleichungen. Dabei ist das
\r
1245 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als
\r
1246 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,
\r
1247 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur
\r
1248 \glqq{}Kugel\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und
\r
1249 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe
\r
1250 der Zuordnung vollziehend, als \glqq{}Wahrnehmungsbilder der
\r
1251 Erde\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem \name{Boile}schen
\r
1252 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p \cdot V = R \cdot T$
\r
1253 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte
\r
1254 (z.~B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte
\r
1255 (z.~B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen
\r
1256 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung
\r
1257 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist
\r
1258 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine
\r
1259 Metaphysik hinweg zu interpretieren.
\r
1261 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen
\r
1262 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet
\r
1263 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.
\r
1264 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie
\r
1265 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen
\r
1266 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.
\r
1267 Dazu müssen aber die Elemente jeder der
\r
1268 Mengen \emph{definiert} sein; d.~h. es muß für jedes Element
\r
1269 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die
\r
1270 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese
\r
1271 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen
\r
1272 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,
\r
1273 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber
\r
1274 für das \glqq{}Wirkliche\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.
\r
1275 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst
\r
1276 durch die Zuordnung zu Gleichungen.
\r
1279 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen
\r
1280 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge
\r
1281 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa
\r
1282 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu
\r
1283 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst
\r
1284 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl
\r
1285 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt
\r
1286 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder
\r
1287 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem
\r
1288 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,
\r
1289 welcher von ihnen \glqq{}rechts\grqq{}, welcher \glqq{}links\grqq{} liegt. Aber
\r
1290 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden
\r
1291 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen
\r
1292 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der
\r
1293 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst
\r
1294 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem
\r
1295 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er
\r
1296 zu der zugeordneten Untermenge gehört; um das festzustellen,
\r
1297 müssen wir erst nach einer Methode, die durch
\r
1298 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine
\r
1299 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung
\r
1300 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge
\r
1301 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das
\r
1302 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn
\r
1303 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene
\r
1304 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die
\r
1305 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung
\r
1306 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen
\r
1307 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.
\r
1308 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer
\r
1309 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem
\r
1310 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte
\r
1311 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen
\r
1313 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben
\r
1314 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die
\r
1315 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb
\r
1316 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man
\r
1317 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der
\r
1318 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt
\r
1319 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende
\r
1320 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen
\r
1321 angegeben sind. So kann man fordern, daß
\r
1322 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter
\r
1323 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt
\r
1324 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen
\r
1325 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die
\r
1326 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung
\r
1327 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden
\r
1328 worden sind, ist durch die diskrete Menge und
\r
1329 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den
\r
1330 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung
\r
1331 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber
\r
1332 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen
\r
1333 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen
\r
1334 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben
\r
1337 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer
\r
1338 noch von der Zuordnung, die im \emph{Erkenntnisprozeß}
\r
1339 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die \emph{Obermenge}
\r
1340 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.
\r
1341 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft
\r
1342 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,
\r
1343 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;
\r
1344 von letzterer z.~B. in der Forderung, daß dem
\r
1345 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden
\r
1346 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für
\r
1348 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben
\r
1349 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber
\r
1350 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist
\r
1351 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,
\r
1352 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal
\r
1353 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was
\r
1354 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst
\r
1355 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,
\r
1356 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten
\r
1357 eine Größe \glqq{}Länge\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht
\r
1358 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.
\r
1359 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir
\r
1360 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,
\r
1361 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre
\r
1362 Ordnung erhält, sondern \emph{in ihren Elementen erst
\r
1363 durch die Zuordnung definiert wird}.
\r
1365 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung
\r
1366 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,
\r
1367 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung
\r
1368 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element
\r
1369 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben
\r
1370 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers
\r
1371 als solches Element auf, so geraten wir deshalb
\r
1372 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr
\r
1373 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.~B. auf dem Manometer
\r
1374 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies
\r
1375 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,
\r
1376 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,
\r
1377 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem
\r
1378 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,
\r
1379 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen, \glqq{}das Wesentliche
\r
1380 vom Unwesentlichen scheiden\grqq{}; aber das ist bereits
\r
1381 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen
\r
1383 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn
\r
1384 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.
\r
1385 Man könnte vermuten, daß etwa die \emph{zeitliche Aufeinanderfolge}
\r
1386 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite
\r
1387 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.
\r
1388 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil
\r
1389 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung
\r
1390 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen
\r
1391 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge
\r
1392 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über
\r
1393 den \glqq{}wirklichen\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert
\r
1394 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,
\r
1395 z.~B. muß die physikalische Natur der Uhren,
\r
1396 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der
\r
1397 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete
\r
1398 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung
\r
1399 brauchbaren Ordnungssinn.
\r
1401 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes
\r
1402 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge
\r
1403 der wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen
\r
1404 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein
\r
1405 Erkenntnisurteil, d.~i. aber ein Zuordnungsprozeß, kann
\r
1406 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines
\r
1407 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem
\r
1408 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.
\r
1409 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der
\r
1410 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die
\r
1411 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen
\r
1412 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was
\r
1413 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine \emph{Definition}
\r
1414 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.
\r
1416 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten
\r
1417 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die
\r
1419 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge
\r
1420 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte
\r
1421 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß
\r
1422 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre
\r
1423 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst
\r
1424 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.
\r
1426 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem
\r
1427 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man
\r
1428 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen \glqq{}wirklich\grqq{}
\r
1429 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein
\r
1430 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so
\r
1431 die Auffassung des \name{Berkeley}schen Solipsismus und in
\r
1432 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.
\r
1433 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.
\r
1434 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre
\r
1435 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur
\r
1436 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich
\r
1437 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,
\r
1438 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise
\r
1439 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung
\r
1440 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren
\r
1441 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge
\r
1442 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt
\r
1443 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten
\r
1444 Seite vorschreibt. \emph{In dieser Wechselseitigkeit der
\r
1445 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen
\r
1446 aus}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von
\r
1447 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.
\r
1448 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene
\r
1449 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns
\r
1450 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu
\r
1453 Hier erhebt sich die Frage: Worin besteht denn die
\r
1455 Auszeichnung der \glqq{}richtigen\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet
\r
1456 sie sich von der \glqq{}unrichtigen\grqq{}? Nun, dadurch,
\r
1457 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden
\r
1458 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.
\r
1459 Berechnet man etwa aus der \name{Einstein}schen Theorie
\r
1460 eine Lichtablenkung von 1,7" an der Sonne, und würde
\r
1461 man an Stelle dessen 10" finden, so ist das ein Widerspruch,
\r
1462 und solche Widersprüche sind es allemal, die über
\r
1463 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun
\r
1464 ist die Zahl 1,7" auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen
\r
1465 an anderem Material gewonnen; die Zahl 10"
\r
1466 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs
\r
1467 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe
\r
1468 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente
\r
1469 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und
\r
1470 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis
\r
1471 die Zahl 1,7 zuordnet, die andere die Zahl 10, und dies
\r
1472 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend
\r
1473 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen
\r
1474 wir \emph{wahr}. \name{Schlick} hat deshalb ganz recht, wenn er
\r
1475 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert}\footnotemark[11].
\r
1476 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe
\r
1477 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine
\r
1478 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;
\r
1479 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten
\r
1480 Erfahrungswissenschaft durch \name{Galilei} und \name{Newton} und
\r
1481 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch \name{Kant} als unbedingter
\r
1482 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß
\r
1483 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im
\r
1484 Erkenntnisprozeß zukommt. \emph{Die Wahrnehmung liefert
\r
1485 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung}.
\r
1486 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande
\r
1487 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber
\r
1489 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer
\r
1490 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen
\r
1491 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind
\r
1492 nämlich gar keine Täuschung der \emph{Sinne}, sondern der
\r
1493 \emph{Interpretation}; daß auch in der Halluzination die
\r
1494 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,
\r
1495 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die
\r
1496 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen
\r
1497 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist
\r
1498 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb
\r
1499 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde
\r
1500 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,
\r
1501 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer
\r
1502 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein
\r
1503 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang
\r
1504 zurückführen will, denn ich beobachte auf der
\r
1505 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung
\r
1506 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den
\r
1507 einer physiologischen Theorie, so entsteht \emph{kein} Widerspruch,
\r
1508 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr
\r
1509 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage
\r
1510 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung
\r
1511 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung
\r
1512 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also
\r
1513 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft
\r
1514 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist
\r
1515 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.
\r
1517 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte
\r
1518 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von
\r
1519 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen
\r
1520 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort
\r
1521 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der
\r
1522 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte
\r
1524 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe
\r
1525 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu
\r
1526 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls
\r
1527 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene
\r
1528 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für
\r
1529 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,
\r
1530 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen
\r
1531 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,
\r
1532 die dies leistet, immer dieselben Elemente der
\r
1533 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.
\r
1534 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit
\r
1535 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt
\r
1536 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit
\r
1537 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren
\r
1538 deshalb: \emph{Eindeutigkeit} heißt für die Erkenntniszuordnung,
\r
1539 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung
\r
1540 aus \emph{verschiedenen Erfahrungsdaten} durch
\r
1541 \emph{dieselbe Messungszahl} wiedergegeben wird.
\r
1543 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße
\r
1544 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an
\r
1545 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die
\r
1546 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen
\r
1547 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine
\r
1548 Behauptung der Kausalität\footnotemark[c]. Auch wenn sie nicht
\r
1550 \footnotetext[c]{Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft
\r
1551 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein
\r
1552 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,
\r
1553 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint
\r
1554 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht
\r
1555 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt
\r
1556 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte
\r
1557 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.
\r
1558 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation
\r
1559 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität
\r
1560 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.}
\r
1562 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;
\r
1563 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung
\r
1564 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen
\r
1565 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,
\r
1566 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,
\r
1567 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings
\r
1568 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert
\r
1569 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und
\r
1570 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet
\r
1571 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier
\r
1572 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,
\r
1573 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener
\r
1574 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.
\r
1576 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig
\r
1577 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man
\r
1578 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie
\r
1579 bedeutet nichts anderes als die \name{Kant}ische Frage: Wie ist
\r
1580 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe
\r
1581 sein, die Antwort, die \name{Kant} auf diese Frage gab, mit den
\r
1582 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu
\r
1583 untersuchen, ob die \name{Kant}ische Antwort sich heute noch
\r
1584 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,
\r
1585 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort
\r
1586 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie
\r
1587 geben kann, die an ihr vorbeigeht.
\r
1589 Was bedeutet das Wort \glqq{}möglich\grqq{} in dieser Frage?
\r
1590 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch
\r
1591 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er
\r
1592 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht
\r
1593 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen
\r
1594 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier
\r
1595 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet
\r
1596 die Frage nach den logischen Bedingungen der
\r
1598 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß
\r
1599 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst
\r
1600 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über
\r
1601 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge
\r
1602 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung
\r
1603 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,
\r
1604 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne
\r
1605 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen
\r
1606 Frage diese Form geben: \emph{Mit welchen Prinzipien wird
\r
1607 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
\r
1610 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,
\r
1611 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien
\r
1612 charakterisieren. Denn sie bedeuten
\r
1613 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori \name{Kants}.
\r
1618 \chapter*{V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite
\r
1619 Voraussetzung Kants.}
\r
1622 Der Begriff des Apriori hat bei \name{Kant} zwei verschiedene
\r
1623 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie \glqq{}apodiktisch
\r
1624 gültig\grqq{}, \glqq{}für alle Zeiten gültig\grqq{}, und zweitens bedeutet
\r
1625 er \glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend\grqq{}.
\r
1627 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.
\r
1628 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,
\r
1629 ist nach \name{Kant} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung
\r
1630 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den
\r
1631 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch
\r
1632 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,
\r
1633 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt
\r
1634 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in
\r
1635 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der
\r
1636 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter
\r
1637 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in
\r
1638 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls
\r
1639 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche
\r
1640 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand
\r
1641 der Wissenschaft ist also nicht ein \glqq{}Ding an sich\grqq{},
\r
1642 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung
\r
1643 basiertes Bezugsgebilde.
\r
1645 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den
\r
1646 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,
\r
1647 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß
\r
1648 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element
\r
1649 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,
\r
1651 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der
\r
1652 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht
\r
1653 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart
\r
1654 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe
\r
1655 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren
\r
1656 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.
\r
1657 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der
\r
1658 Erfahrung bezeichnen. \name{Kant} nennt als solche Schemata
\r
1659 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen
\r
1660 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen
\r
1661 für die eindeutige Zuordnung sind.
\r
1663 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls
\r
1664 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die
\r
1665 zentrale Stellung, die er seit \name{Kant} in der Erkenntnistheorie
\r
1666 inne hat. Es war die große Entdeckung \name{Kants},
\r
1667 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin
\r
1668 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente
\r
1669 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten
\r
1670 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt
\r
1671 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur
\r
1672 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte
\r
1673 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht
\r
1674 \name{Kant} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar
\r
1675 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der
\r
1676 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.
\r
1678 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und
\r
1679 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu
\r
1680 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht
\r
1681 unzweckmäßig, sich die \name{Kant}ische Lehre in mehr anschaulicher
\r
1682 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit
\r
1683 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken
\r
1684 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß
\r
1685 die \name{Kant}ischen Begriffsbildungen einer mehr von
\r
1687 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten
\r
1688 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser
\r
1689 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.
\r
1690 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe
\r
1693 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in
\r
1694 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen
\r
1695 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie
\r
1696 es vor uns steht; es hat keinen Sinn, dieses Sein noch
\r
1697 näher definieren zu wollen, denn was \glqq{}wirklich\grqq{} bedeutet,
\r
1698 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung
\r
1699 bleiben Analogien oder sind Darstellungen für den \emph{begrifflichen
\r
1700 Ausdruck} dieses Erlebnisses. Die Wirklichkeit
\r
1701 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit
\r
1702 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur
\r
1703 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche
\r
1704 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem
\r
1705 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert
\r
1706 wird, was in dem \glqq{}Kontinuum\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding
\r
1707 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang
\r
1708 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes
\r
1709 Einzelding \glqq{}in Wirklichkeit da ist\grqq{}.
\r
1711 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei
\r
1712 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,
\r
1713 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem
\r
1714 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst
\r
1715 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch
\r
1716 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich
\r
1717 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene
\r
1718 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion
\r
1719 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man
\r
1720 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man
\r
1721 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei
\r
1723 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,
\r
1724 die von der Definiertheit der Elemente auf \emph{beiden} Seiten
\r
1725 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer
\r
1726 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes
\r
1727 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,
\r
1728 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den
\r
1729 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder
\r
1730 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre
\r
1731 z.~B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) = 0$
\r
1732 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies
\r
1733 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen
\r
1734 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung
\r
1735 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,
\r
1736 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und
\r
1737 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.
\r
1738 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter
\r
1739 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.
\r
1740 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,
\r
1741 daß man für jeden Wert $z = p = \mathrm{konst.}$ eine Kurve
\r
1742 $f(x, y, p) = 0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige
\r
1743 Funktion $\varphi (x, z) = p^\prime = \mathrm{konst.}$ annehmen und $p^\prime$ als Parameter
\r
1744 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von
\r
1745 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut
\r
1746 ein Bild der Funktion f (x, y, z) wie die erste. Man
\r
1747 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser
\r
1748 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser
\r
1749 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen
\r
1750 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also
\r
1751 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der
\r
1752 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu f (x, y, z)
\r
1753 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters
\r
1754 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine
\r
1755 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei
\r
1757 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,
\r
1758 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur
\r
1759 auf die \emph{eine} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem
\r
1760 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem
\r
1763 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente
\r
1764 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und
\r
1765 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien
\r
1766 der ersten Art geben, sondern nur solche, die
\r
1767 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen
\r
1768 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen
\r
1769 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art
\r
1770 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große
\r
1771 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen
\r
1772 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber
\r
1773 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses
\r
1774 überhaupt, und hängt damit zusammen,
\r
1775 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes
\r
1776 bedeutet als eine Beziehung auf \glqq{}dasselbe\grqq{} Element der
\r
1777 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung
\r
1778 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert
\r
1779 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für
\r
1780 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für
\r
1781 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung
\r
1782 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der
\r
1783 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie
\r
1784 \emph{konstitutiv} für den wirklichen Gegenstand; in \name{Kants}
\r
1785 Worten: \glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein
\r
1786 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann\grqq{}\footnotemark[12].
\r
1788 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip
\r
1789 genannt, welches definiert, wann
\r
1790 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten
\r
1791 anzusehen sind\footnotemark[13]. (Man denke etwa an eine
\r
1793 Verteilung nach dem \name{Gauß}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip
\r
1794 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,
\r
1795 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch
\r
1796 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen
\r
1797 dient; es definiert die physikalische Konstante.
\r
1798 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip\footnotemark[14],
\r
1799 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen
\r
1800 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in
\r
1801 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch
\r
1802 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn
\r
1803 sie besagen z.~B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt
\r
1804 definieren. Für die alte Physik war auch
\r
1805 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn
\r
1806 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne
\r
1807 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten
\r
1808 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie
\r
1809 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,
\r
1810 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen
\r
1811 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese
\r
1812 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung
\r
1813 sind und ihr als \emph{Zuordnungsaxiome} vorangestellt
\r
1814 werden können, unterscheiden sie sich von den
\r
1815 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man
\r
1816 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives
\r
1817 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen
\r
1818 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen
\r
1819 enthalten aber immer noch spezielle mathematische
\r
1820 Operationen; so geben die \name{Einstein}schen Gravitationsgleichungen
\r
1821 an, in welcher speziellen mathematischen
\r
1822 Beziehung die physikalische Größe $R_{ik}$ zu den
\r
1823 physikalischen Größen $T_{ik}$ und $g_{ik}$ steht. Wir wollen sie
\r
1824 deshalb \emph{Verknüpfungsaxiome} nennen\footnotemark[15]. Die Zuordnungsaxiome
\r
1825 unterscheiden sich von ihnen dadurch,
\r
1827 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,
\r
1828 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen
\r
1829 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen
\r
1830 die Axiome der Arithmetik als Regeln der
\r
1831 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien
\r
1834 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig
\r
1835 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen
\r
1836 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an
\r
1837 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher
\r
1838 Weise gebunden. Wenn wir z.~B. ein bestimmtes
\r
1839 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,
\r
1840 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand
\r
1841 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen
\r
1842 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen
\r
1843 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive
\r
1844 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs\footnotemark[d].
\r
1845 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,
\r
1846 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch
\r
1847 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als
\r
1848 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang
\r
1849 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis
\r
1850 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber
\r
1851 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,
\r
1852 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche
\r
1853 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der
\r
1854 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch
\r
1855 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so
\r
1856 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte
\r
1858 \footnotetext[d]{Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der
\r
1859 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen
\r
1860 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die
\r
1861 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.}
\r
1863 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten
\r
1866 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,
\r
1867 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.
\r
1868 Definieren wir einmal \glqq{}apriori\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung
\r
1869 als \glqq{}Gegenstand konstituierend\grqq{}. Wie folgt
\r
1870 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,
\r
1871 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?
\r
1873 \name{Kant} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die
\r
1874 menschliche Vernunft, d.~i. der Inbegriff von Verstand
\r
1875 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.
\r
1876 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach
\r
1877 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit
\r
1878 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist
\r
1879 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande
\r
1880 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis
\r
1881 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese
\r
1882 apodiktische Gültigkeit.
\r
1884 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht
\r
1885 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch
\r
1886 \emph{Erfahrungen} eine Änderung der menschlichen Vernunft
\r
1887 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft
\r
1888 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren
\r
1889 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und
\r
1890 für \name{Kant} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,
\r
1891 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive
\r
1892 Prinzipien benutzen als wir\footnotemark[16]; damit ist natürlich
\r
1893 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische
\r
1894 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,
\r
1895 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft
\r
1896 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet. \name{Kant}
\r
1897 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie
\r
1898 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine
\r
1900 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft
\r
1901 und ihrer Ordnungsprinzipien durch \emph{Erfahrungen}; in
\r
1902 diesem Sinne ist das \glqq{}apodiktisch gültig\grqq{} zu verstehen.
\r
1904 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen
\r
1905 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:
\r
1906 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,
\r
1907 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung
\r
1908 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien
\r
1909 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den
\r
1910 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,
\r
1911 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die
\r
1912 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die
\r
1913 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert. \name{Kants}
\r
1914 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht
\r
1915 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den
\r
1916 Abschnitten II und III eine Reihe von Prinzipien apriori
\r
1917 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach
\r
1918 dem \name{Kant}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben
\r
1919 würden. Wir durften dafür das Kriterium der
\r
1920 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von \name{Kant} als
\r
1921 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch
\r
1922 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die
\r
1923 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen
\r
1924 müssen\footnotemark[17].
\r
1926 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien
\r
1927 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige
\r
1928 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns
\r
1929 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht
\r
1930 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft
\r
1931 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das
\r
1932 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von
\r
1933 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein
\r
1934 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen
\r
1936 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur
\r
1937 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich
\r
1938 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit
\r
1939 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,
\r
1940 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien
\r
1941 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.
\r
1943 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer
\r
1944 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es
\r
1945 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die
\r
1946 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,
\r
1947 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise
\r
1948 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der
\r
1949 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht
\r
1950 alle verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf
\r
1951 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,
\r
1952 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie
\r
1953 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme
\r
1954 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur
\r
1955 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen
\r
1956 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich
\r
1957 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht
\r
1958 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System
\r
1959 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme
\r
1960 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel
\r
1961 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung
\r
1962 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene
\r
1963 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.
\r
1964 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die
\r
1965 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System
\r
1966 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,
\r
1967 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich
\r
1968 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.
\r
1970 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht
\r
1972 so einfach schließen. Wäre z.~B. das Prinzipiensystem
\r
1973 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze
\r
1974 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System
\r
1975 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen
\r
1976 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung
\r
1977 \name{Kants}) deuten, daß es sich in dem evidenten
\r
1978 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.
\r
1979 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,
\r
1980 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System
\r
1981 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann
\r
1982 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen
\r
1983 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch
\r
1984 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,
\r
1985 die Wahrnehmung, von dem System ganz
\r
1986 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl
\r
1987 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn
\r
1988 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir
\r
1989 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,
\r
1990 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst
\r
1991 das euklidische System übernommen wird; daß durch das
\r
1992 so gewonnene System kein Widerspruch entsteht, läßt
\r
1993 sich erst durch den \emph{konsequenten Ausbau dieser
\r
1994 Geometrie} feststellen. Freilich ist gerade das System
\r
1995 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann
\r
1996 hier nur der \emph{Ausbau einer experimentellen Physik}
\r
1997 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,
\r
1998 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,
\r
1999 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.
\r
2001 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich
\r
2002 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte
\r
2003 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen
\r
2004 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer
\r
2005 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip
\r
2007 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt
\r
2008 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten
\r
2009 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien
\r
2010 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert
\r
2011 ein \emph{System}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht
\r
2012 auskommen; und auch die \name{Kant}ische Philosophie hat
\r
2013 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen
\r
2014 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,
\r
2015 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip
\r
2016 enthält unter Umständen einen \emph{Komplex} von Gedanken,
\r
2017 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe
\r
2018 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem \emph{unvollständigen}
\r
2019 System äquivalent ist.
\r
2021 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;
\r
2022 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine
\r
2023 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung
\r
2024 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn
\r
2025 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der
\r
2026 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen
\r
2027 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit
\r
2028 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die
\r
2031 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir
\r
2032 die Geltung der \name{Kant}ischen Erkenntnislehre von der
\r
2033 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig
\r
2034 machen können. Kants Theorie enthält die Hypothese,
\r
2035 daß es \emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme
\r
2036 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der
\r
2037 Wirklichkeit gibt}. Da diese Hypothese gleichbedeutend
\r
2038 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit
\r
2039 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu
\r
2040 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
\r
2041 kommen kann, wollen wir sie als \emph{Hypothese}
\r
2043 \emph{der Zuordnungswillkür} bezeichnen. Nur wenn sie
\r
2044 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes
\r
2045 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die
\r
2046 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung
\r
2047 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt
\r
2048 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die
\r
2049 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.
\r
2054 \chapter*{VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung
\r
2055 durch die Relativitätstheorie.}
\r
2058 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte II und III
\r
2059 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie
\r
2060 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung
\r
2061 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?
\r
2062 Schließt nicht der \name{Kant}ische Beweis für die unbeschränkte
\r
2063 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch
\r
2066 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit
\r
2067 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet
\r
2068 wird, auf S.~15 zusammengestellt. Wir haben
\r
2069 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit
\r
2070 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten
\r
2071 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials
\r
2072 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen
\r
2073 der Dehnbarkeit des Begriffs \glqq{}normal\grqq{} ist das in gewissen
\r
2074 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch
\r
2075 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch
\r
2076 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält
\r
2077 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale
\r
2078 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne
\r
2079 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet
\r
2080 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im
\r
2081 Sinne \name{Kants}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die
\r
2082 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines
\r
2083 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven
\r
2084 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.
\r
2087 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse
\r
2088 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach
\r
2089 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf S.~29
\r
2090 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet
\r
2091 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr
\r
2092 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip
\r
2093 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses
\r
2094 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten
\r
2095 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,
\r
2096 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt
\r
2097 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung
\r
2098 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt
\r
2099 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente
\r
2100 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den
\r
2101 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu
\r
2102 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,
\r
2103 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.
\r
2105 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf
\r
2106 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die
\r
2107 Geltung der \name{Kant}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,
\r
2108 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.
\r
2109 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips
\r
2110 für die Erkenntnis untersucht werden.
\r
2112 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem
\r
2113 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß
\r
2114 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit
\r
2115 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der
\r
2116 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;
\r
2117 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß
\r
2118 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der
\r
2119 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist
\r
2120 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im
\r
2121 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über
\r
2123 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie
\r
2124 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur
\r
2125 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium
\r
2126 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die
\r
2127 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.
\r
2128 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,
\r
2129 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,
\r
2130 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem
\r
2131 Gedanken beruht der \name{Kant}ische Beweis für die Unabhängigkeit
\r
2132 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.
\r
2133 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage
\r
2134 unmittelbar an diesen Beweis.
\r
2136 \name{Kants} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung
\r
2137 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien
\r
2138 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze
\r
2139 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der
\r
2140 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,
\r
2141 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine
\r
2142 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr
\r
2143 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein
\r
2144 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.
\r
2146 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung
\r
2147 zweier Fragen zurückführen.
\r
2149 Ist es logisch \emph{widersinnig}, solche induktiven Deutungen
\r
2150 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen
\r
2151 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?
\r
2153 Ist es logisch \emph{zulässig}, vor der induktiven Deutung
\r
2154 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,
\r
2155 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?
\r
2157 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,
\r
2158 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen
\r
2159 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang
\r
2161 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren
\r
2162 der Physik, wie wir es im Abschnitt II geschildert
\r
2163 haben, verstehen werden.
\r
2165 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn
\r
2166 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man
\r
2167 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines
\r
2168 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen
\r
2169 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das
\r
2170 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren
\r
2171 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr
\r
2172 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit
\r
2173 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man
\r
2174 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien
\r
2175 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,
\r
2176 daß das zu prüfende Prinzip bereits in \emph{sämtlichen} zur
\r
2177 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.
\r
2178 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des
\r
2179 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.
\r
2181 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir
\r
2182 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht
\r
2183 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.
\r
2185 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage
\r
2186 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein
\r
2187 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es
\r
2188 seien etwa Messungen zum \name{Boile}schen Gesetz ausgeführt,
\r
2189 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe
\r
2190 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte
\r
2191 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen
\r
2192 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen
\r
2193 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^2 = \mathrm{konst.}$
\r
2194 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch
\r
2195 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen
\r
2196 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.~B. die
\r
2198 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört\footnotemark[e].
\r
2199 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb
\r
2200 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler
\r
2201 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich
\r
2202 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen
\r
2203 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren
\r
2204 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre
\r
2205 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler
\r
2206 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß
\r
2207 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch
\r
2208 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe
\r
2209 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist
\r
2210 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel
\r
2211 $p V^2 = \mathrm{konst.}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende
\r
2212 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen
\r
2213 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die
\r
2214 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur
\r
2215 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende
\r
2216 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man
\r
2217 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen
\r
2218 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings
\r
2219 \emph{möglich}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen
\r
2220 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer
\r
2221 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig
\r
2222 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden
\r
2223 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte
\r
2224 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß
\r
2225 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen
\r
2227 \footnotetext[e]{Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente
\r
2228 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen
\r
2229 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten
\r
2230 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der
\r
2231 Bezeichnungsweise.}
\r
2233 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der
\r
2234 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede
\r
2235 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion
\r
2236 festgehalten werden\footnotemark[18].
\r
2238 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn
\r
2239 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.
\r
2240 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,
\r
2241 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip
\r
2242 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der
\r
2243 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle
\r
2244 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,
\r
2245 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar
\r
2246 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische
\r
2247 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.
\r
2248 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen
\r
2249 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst
\r
2250 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn
\r
2251 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so
\r
2252 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als
\r
2253 das Induktionsprinzip.
\r
2255 Der \name{Kant}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus
\r
2256 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien
\r
2257 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie
\r
2258 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen
\r
2259 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort
\r
2260 auf die \name{Kant}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in
\r
2261 folgenden Satz zusammenfassen: \emph{Es gibt Systeme von
\r
2262 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der
\r
2263 Zuordnung unmöglich machen, also implizit
\r
2264 widerspruchsvolle Systeme.} Wir bemerken nochmals,
\r
2265 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,
\r
2266 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen
\r
2267 Physik möglich wurde. Hat man kein solches
\r
2269 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung
\r
2270 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu
\r
2271 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip
\r
2272 gesprochen werden könnte.
\r
2274 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine
\r
2275 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich
\r
2276 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches
\r
2277 durch \emph{Evidenz} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;
\r
2278 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht
\r
2279 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch
\r
2280 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch
\r
2281 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr
\r
2282 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der
\r
2283 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir
\r
2284 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß
\r
2285 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie
\r
2286 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen
\r
2287 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur
\r
2288 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses
\r
2289 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß
\r
2290 Zuordnungsprinzipien in \emph{jedem} Gesetz enthalten sind,
\r
2291 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen
\r
2292 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische
\r
2293 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,
\r
2294 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,
\r
2295 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.
\r
2296 Wollte man z.~B. versuchsweise den Raum als vierdimensional
\r
2297 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser
\r
2298 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung
\r
2299 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität
\r
2300 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle
\r
2301 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in
\r
2302 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts
\r
2304 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren
\r
2305 wäre aber \emph{technisch unmöglich}. Denn wir können
\r
2306 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.
\r
2308 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß
\r
2309 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt
\r
2310 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch
\r
2313 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie
\r
2314 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem
\r
2315 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;
\r
2316 und das Verfahren, welches \name{Einstein} dabei benutzt hat,
\r
2317 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.
\r
2319 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem
\r
2320 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit
\r
2321 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter
\r
2322 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine
\r
2323 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden
\r
2324 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze
\r
2325 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt
\r
2326 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit
\r
2327 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.
\r
2328 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,
\r
2329 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem
\r
2330 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung
\r
2331 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.}
\r
2332 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil
\r
2333 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte
\r
2334 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit
\r
2335 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses
\r
2336 induktive Verfahren als \emph{Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2339 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie
\r
2340 ging. Als \name{Eötvös} die Gleichheit von
\r
2342 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte
\r
2343 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung
\r
2344 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner
\r
2345 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat
\r
2346 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der
\r
2347 \name{Riemann}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper
\r
2348 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie
\r
2349 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,
\r
2350 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen
\r
2351 vernachlässigt werden können. Wenn z.~B.
\r
2352 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen
\r
2353 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so
\r
2354 braucht er deswegen noch nicht die \name{Einstein}sche Zeitkorrektion
\r
2355 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem
\r
2356 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,
\r
2357 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis
\r
2358 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie
\r
2359 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld
\r
2360 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung
\r
2361 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb
\r
2362 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion
\r
2363 nach der üblichen Methode berechnen.
\r
2364 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf
\r
2365 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie
\r
2366 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung
\r
2367 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich
\r
2368 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,
\r
2369 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen
\r
2370 liegen und darum als euklidisch angenommen
\r
2373 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2374 den Kernpunkt für die Widerlegung der \name{Kant}ischen
\r
2375 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur
\r
2377 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern
\r
2378 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und
\r
2379 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,
\r
2380 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.
\r
2382 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,
\r
2383 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür
\r
2384 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung \name{Kants}
\r
2385 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen
\r
2386 mag. \name{Kant} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit
\r
2387 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl
\r
2388 bewußt, daß er einen \emph{Beweis für diese Möglichkeit}
\r
2389 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,
\r
2390 daß \emph{Erkenntnis unmöglich} wäre, und sah es für einen
\r
2391 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit
\r
2392 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den
\r
2393 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden
\r
2394 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier
\r
2395 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum
\r
2396 Gegenstand der Untersuchung gemacht. \glqq{}Der Verstand
\r
2397 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,
\r
2398 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein
\r
2399 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer
\r
2400 gewissen Ordnung der Natur \ldots{} Diese Zusammenstimmung
\r
2401 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird
\r
2402 von der Urteilskraft \ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie
\r
2403 der \emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt}.
\r
2404 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für
\r
2405 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche
\r
2406 Ordnung zu entdecken\footnotemark[19].\grqq{} Es erscheint befremdend,
\r
2407 daß \name{Kant}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit
\r
2408 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an
\r
2409 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der
\r
2411 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem
\r
2412 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten
\r
2413 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,
\r
2414 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den
\r
2415 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der
\r
2416 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht
\r
2417 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie
\r
2418 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven
\r
2419 Prinzipien ändern muß, glaubte \name{Kant}, daß damit jede
\r
2420 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche
\r
2421 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene
\r
2422 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,
\r
2423 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung
\r
2424 fortkommen und Erkenntnis erwerben können\grqq{}. Erst das
\r
2425 \name{Kant} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2426 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein
\r
2427 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens
\r
2428 durch die Physik widerlegt werden.
\r
2430 Wir müssen dieser Auflösung der \name{Kant}ischen Aprioritätslehre
\r
2431 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.
\r
2432 Es scheint uns der Fehler \name{Kants} zu sein, daß er, der mit
\r
2433 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie
\r
2434 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten
\r
2435 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen
\r
2436 der Erkenntnis suchte, so mußte er die \emph{Erkenntnis}
\r
2437 analysieren; aber was er analysierte, war die \emph{Vernunft}.
\r
2438 Er mußte \emph{Axiome} suchen, anstatt \emph{Kategorien}. Es ist
\r
2439 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft
\r
2440 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,
\r
2441 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,
\r
2442 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine
\r
2443 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft
\r
2444 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das
\r
2446 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar
\r
2447 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf
\r
2448 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner
\r
2449 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft
\r
2450 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch
\r
2451 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen
\r
2452 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig
\r
2453 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade
\r
2454 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann
\r
2455 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem
\r
2456 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch
\r
2457 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die
\r
2458 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel
\r
2459 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem
\r
2460 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein
\r
2461 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft
\r
2462 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen
\r
2463 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren
\r
2464 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung
\r
2465 des \glqq{}gesunden Menschenverstandes\grqq{}, jener
\r
2466 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich
\r
2467 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.
\r
2469 In diesem Verfahren \name{Kants} scheint uns sein methodischer
\r
2470 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig
\r
2471 angelegte System der kritischen Philosophie nicht
\r
2472 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden
\r
2473 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die
\r
2474 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller
\r
2475 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen
\r
2476 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung
\r
2477 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht
\r
2483 \chapter*{VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die
\r
2484 wissenschaftsanalytische Methode.}
\r
2487 Die Widerlegung des positiven Teils der \name{Kant}ischen
\r
2488 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,
\r
2489 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen
\r
2490 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,
\r
2491 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig
\r
2492 von der \name{Kant}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und
\r
2493 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine
\r
2494 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der
\r
2495 \name{Kant}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur
\r
2496 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit
\r
2497 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung
\r
2498 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?
\r
2500 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der \emph{wissenschaftsanalytischen
\r
2501 Methode} in die Erkenntnistheorie.
\r
2502 Die von den positiven Wissenschaften in stetem
\r
2503 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate
\r
2504 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische
\r
2505 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau
\r
2506 der Axiomatik, die seit \name{Hilberts} Axiomen der Geometrie
\r
2507 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen
\r
2508 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche
\r
2509 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar
\r
2510 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes
\r
2511 Verfahren gibt, \emph{als festzustellen, welches die in der
\r
2512 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien
\r
2514 sind}. Der Versuch \name{Kants}, diese Prinzipien aus der Vernunft
\r
2515 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet
\r
2516 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine
\r
2517 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als
\r
2518 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial
\r
2519 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich
\r
2520 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um
\r
2521 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den
\r
2522 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.
\r
2524 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,
\r
2525 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser
\r
2526 bereits durchgeführt werden\footnotemark[20]. Sie führte zur Aufdeckung
\r
2527 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für
\r
2528 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der
\r
2529 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der
\r
2530 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie
\r
2531 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer
\r
2532 geleistet worden. Denn \name{Einstein} hat bei allen seinen
\r
2533 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen
\r
2534 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,
\r
2535 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,
\r
2536 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.
\r
2537 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen
\r
2538 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will
\r
2539 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und
\r
2540 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.
\r
2541 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine
\r
2542 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte
\r
2543 II und III dieser Untersuchung aufgefaßt werden.
\r
2545 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied
\r
2546 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist
\r
2547 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit
\r
2548 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein
\r
2550 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich
\r
2551 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik
\r
2552 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der
\r
2553 \emph{Naturerkenntnis}. Darum konnte auch die Axiomatik
\r
2554 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische
\r
2555 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie
\r
2556 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,
\r
2557 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge
\r
2558 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.
\r
2559 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie
\r
2560 z.~B. \name{Weyl} und auch \name{Haas}\footnotemark[21], wieder den Schluß ziehen
\r
2561 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin
\r
2562 zusammenwachsen. Die Frage der \emph{Geltung} von Axiomen
\r
2563 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen
\r
2564 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das
\r
2565 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der
\r
2566 \emph{Geltung} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen
\r
2567 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt
\r
2568 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt
\r
2569 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,
\r
2570 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser
\r
2571 Einwand muß der \name{Weyl}schen Verallgemeinerung der
\r
2572 Relativitätstheorie\footnotemark[22] entgegengehalten werden, bei der
\r
2573 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich
\r
2574 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings
\r
2575 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit
\r
2576 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer
\r
2577 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum
\r
2578 muß die \name{Weyl}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt
\r
2579 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre
\r
2580 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik
\r
2581 ist eben keine \glqq{}geometrische Notwendigkeit\grqq{}; wer das
\r
2582 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt
\r
2584 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.
\r
2585 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine
\r
2586 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die
\r
2587 \name{Kant}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern
\r
2588 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.
\r
2590 Der \emph{Begriff des Apriori} erfährt durch unsere
\r
2591 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,
\r
2592 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder
\r
2593 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung
\r
2594 der \name{Kant}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.
\r
2595 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:
\r
2596 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst
\r
2597 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches
\r
2598 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung
\r
2599 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen
\r
2600 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine
\r
2601 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang
\r
2602 mit anderen Gegenständen gemacht werden.
\r
2603 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form
\r
2604 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der
\r
2605 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische
\r
2606 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,
\r
2607 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst
\r
2608 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien
\r
2609 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt
\r
2610 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer
\r
2611 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange
\r
2612 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.
\r
2614 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,
\r
2615 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,
\r
2616 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip
\r
2617 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es
\r
2618 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den
\r
2620 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten
\r
2621 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung
\r
2622 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das
\r
2623 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben
\r
2624 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze
\r
2625 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie
\r
2626 leicht verfällt. Als man die dem \name{Kant}ischen
\r
2627 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung
\r
2628 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war
\r
2629 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die
\r
2630 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten
\r
2631 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,
\r
2632 denn \name{Kant} hatte gewiß mit der Substanz
\r
2633 die Masse gemeint\footnotemark[23]. Aber man ist damit keineswegs
\r
2634 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip
\r
2635 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es
\r
2636 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding
\r
2637 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man
\r
2638 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens
\r
2639 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung
\r
2640 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt
\r
2641 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen
\r
2642 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere
\r
2643 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,
\r
2644 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung
\r
2645 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen
\r
2646 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten
\r
2647 \name{Kant}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.
\r
2648 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor
\r
2649 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn
\r
2650 wenn z.~B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen
\r
2651 der Koordinaten nicht invariant sind, muß
\r
2652 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man
\r
2654 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten
\r
2655 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip
\r
2656 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich \emph{mit der
\r
2657 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung
\r
2658 begnügen}. So wollen wir, nach der Niederlage der \name{Kant}ischen
\r
2659 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht
\r
2660 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und
\r
2661 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung
\r
2662 unter allen Umständen wenigstens die \name{Riemann}sche
\r
2663 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß
\r
2664 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts
\r
2665 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags
\r
2666 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom
\r
2667 vierten Grade übergegangen ist. Die \name{Weyl}sche Theorie
\r
2668 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der \name{Einstein}schen
\r
2669 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch
\r
2670 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.
\r
2671 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar
\r
2672 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge
\r
2673 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der
\r
2674 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer
\r
2675 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß
\r
2676 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung
\r
2677 und gleiche Länge hat. In der \name{Einstein-Riemann}schen
\r
2678 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche
\r
2679 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der \name{Weyl}schen
\r
2680 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.
\r
2681 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert
\r
2682 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich
\r
2683 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die
\r
2684 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch
\r
2685 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge
\r
2686 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.
\r
2689 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige
\r
2690 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen
\r
2691 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten
\r
2692 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,
\r
2693 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt
\r
2694 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese
\r
2695 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter
\r
2696 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten
\r
2697 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen
\r
2698 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie
\r
2699 sie wieder aufgibt. Z.~B. ist in der \name{Weyl}schen
\r
2700 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche
\r
2701 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem
\r
2702 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit
\r
2703 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.
\r
2704 Nach der \name{Weyl}schen Theorie ist die Frequenz
\r
2705 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man
\r
2706 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß
\r
2707 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen
\r
2708 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.~B. die
\r
2709 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen
\r
2710 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen
\r
2711 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes
\r
2712 solche Fälle nachweisen, wo die \name{Weyl}sche
\r
2713 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.
\r
2715 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der
\r
2716 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung
\r
2717 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.
\r
2718 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen
\r
2719 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen
\r
2720 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,
\r
2721 daß die Größenwerte sich einer \emph{stetigen} Häufigkeitsfunktion
\r
2722 einfügen. Würde man aber z.~B. die
\r
2724 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische
\r
2725 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches
\r
2726 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese
\r
2727 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte
\r
2728 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer
\r
2729 noch mit großer Näherung gelten\footnotemark[24]. Wir wollen uns aber
\r
2730 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend
\r
2731 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft
\r
2732 wird allein zeigen können, in welcher \emph{Richtung} sich die
\r
2733 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das
\r
2734 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle
\r
2735 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem
\r
2736 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein
\r
2737 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall
\r
2738 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten
\r
2739 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere
\r
2740 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine
\r
2741 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall
\r
2742 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.
\r
2744 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer
\r
2745 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede
\r
2746 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die
\r
2747 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten
\r
2748 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.
\r
2749 Aber \emph{daß} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige
\r
2750 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und
\r
2751 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im
\r
2752 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der
\r
2753 \name{Kant}ischen Philosophie?
\r
2755 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder
\r
2756 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen
\r
2757 können: nämlich daß die \emph{eindeutige} Zuordnung immer
\r
2758 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition
\r
2760 der Erkenntnis als \emph{eindeutiger} Zuordnung? Aus einer
\r
2761 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann
\r
2762 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen
\r
2763 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;
\r
2764 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit
\r
2765 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die
\r
2766 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen
\r
2767 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten
\r
2768 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen
\r
2769 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische
\r
2770 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine
\r
2771 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine
\r
2772 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse\footnotemark[25]. Aber
\r
2773 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es
\r
2774 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse
\r
2775 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und
\r
2776 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der
\r
2777 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem
\r
2778 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,
\r
2779 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede
\r
2780 physikalische Konstante die Form hat: C + k\alpha, wo \alpha
\r
2781 sehr klein und k eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch
\r
2782 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß k meistens
\r
2783 klein ist, vielleicht zwischen 1 und 10 liegt. Für Konstanten
\r
2784 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied
\r
2785 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine
\r
2786 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.~B.
\r
2787 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die
\r
2788 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe
\r
2789 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem
\r
2790 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte
\r
2791 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der
\r
2792 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen
\r
2794 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen
\r
2795 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit
\r
2796 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer
\r
2797 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch
\r
2798 dadurch, daß man den neuen Ausdruck C + k\alpha einführt,
\r
2799 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir
\r
2800 hatten oben (Abschnitt IV) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung
\r
2801 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen
\r
2802 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben
\r
2803 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit
\r
2804 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der
\r
2805 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck C + k\alpha
\r
2806 ist aber die Größe k ganz unabhängig von physikalischen
\r
2807 Faktoren. Darum können wir die Größe C + k\alpha niemals
\r
2808 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten
\r
2809 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden
\r
2810 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.
\r
2811 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten
\r
2812 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.
\r
2813 Wir hätten, da k auch von den Koordinaten unabhängig
\r
2814 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen
\r
2815 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu
\r
2816 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände
\r
2817 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe
\r
2818 C + k\alpha ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme
\r
2819 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer
\r
2820 \glqq{}individuellen Kausalität\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben
\r
2821 haben und wie sie z.~B. \name{Schlick}\footnotemark[26] als möglich annimmt,
\r
2822 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt
\r
2823 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen
\r
2824 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem
\r
2825 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt
\r
2826 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des
\r
2828 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu
\r
2829 dieser etwa wie der \name{Riemann}sche Raum zum euklidischen;
\r
2830 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff
\r
2831 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2832 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr
\r
2833 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie
\r
2834 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn
\r
2835 z.~B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen
\r
2836 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit
\r
2837 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.
\r
2838 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten
\r
2839 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu
\r
2840 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch
\r
2841 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer
\r
2842 praktischen Verwertung finden lassen.
\r
2846 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar
\r
2847 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon
\r
2848 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar
\r
2849 nicht \emph{konstatiert} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche
\r
2850 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.
\r
2851 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip
\r
2852 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen
\r
2853 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt
\r
2854 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt
\r
2855 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese
\r
2856 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch
\r
2857 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu
\r
2858 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung
\r
2859 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme
\r
2860 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs
\r
2861 die Bestimmtheit in die Definition
\r
2862 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der
\r
2864 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung
\r
2865 des Zuordnungsbegriffs\footnotemark[27].
\r
2867 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der
\r
2868 \name{Kant}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,
\r
2869 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.
\r
2870 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren
\r
2871 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.
\r
2872 Denn vorläufig \emph{gilt} dieser Begriff, und wir können
\r
2873 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis
\r
2874 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der
\r
2875 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,
\r
2876 daß diese \emph{stetig} erfolgen muß, und darum wird der alte
\r
2877 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden
\r
2878 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem
\r
2879 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den
\r
2880 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit
\r
2881 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist
\r
2882 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell
\r
2883 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.
\r
2884 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich
\r
2885 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise
\r
2886 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --
\r
2887 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,
\r
2888 daß \emph{unsere} Resultate \emph{nun ewig} gelten sollen, nachdem
\r
2889 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv
\r
2890 nachgewiesen haben.
\r
2892 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung
\r
2893 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie
\r
2894 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs
\r
2895 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis
\r
2896 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist
\r
2897 nicht der Begriff der \emph{Zuordnung} überhaupt jenes allgemeinste
\r
2898 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor
\r
2899 aller Erkenntnis steht?
\r
2902 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den
\r
2903 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.
\r
2904 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,
\r
2905 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs
\r
2906 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit
\r
2907 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns
\r
2908 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis
\r
2909 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.
\r
2910 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies
\r
2911 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den
\r
2912 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.
\r
2913 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe}.
\r
2915 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische
\r
2916 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn
\r
2917 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle
\r
2918 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.
\r
2919 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung
\r
2920 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die
\r
2921 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist
\r
2922 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das
\r
2923 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.
\r
2924 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.
\r
2926 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu
\r
2927 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,
\r
2928 wenn wir die \name{Kant}ische Analyse der Vernunft ablehnen,
\r
2929 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige
\r
2930 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien
\r
2931 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die
\r
2932 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren
\r
2933 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich
\r
2934 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von
\r
2935 der Erfahrung \emph{erhält}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten
\r
2936 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft
\r
2938 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche
\r
2939 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von
\r
2940 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das
\r
2941 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen
\r
2942 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt
\r
2943 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,
\r
2944 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.
\r
2945 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt
\r
2946 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,
\r
2947 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während
\r
2948 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung
\r
2949 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet
\r
2950 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien
\r
2951 eine Entwicklung des \emph{Gegenstandsbegriffs}
\r
2952 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung
\r
2953 von der \name{Kant}ischen: während bei \name{Kant} nur die
\r
2954 Bestimmung des \emph{Einzelbegriffs} eine unendliche Aufgabe
\r
2955 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden, \emph{daß auch
\r
2956 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft
\r
2957 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,
\r
2958 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung
\r
2959 entgegengehen können}.
\r
2961 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht
\r
2962 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe
\r
2963 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten
\r
2964 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat
\r
2965 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir
\r
2966 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere
\r
2967 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem
\r
2968 in seinen begrifflichen Relationen durch
\r
2969 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung
\r
2970 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in
\r
2971 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie
\r
2973 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff
\r
2974 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft
\r
2975 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich
\r
2976 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie \name{Kant}
\r
2977 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,
\r
2978 die von der Vernunft als notwendig hingestellt
\r
2979 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet
\r
2980 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen
\r
2981 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur
\r
2982 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten
\r
2983 sind, für die \emph{keine} Auswahl vorgeschrieben ist,
\r
2984 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in
\r
2985 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich
\r
2986 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff
\r
2987 verdanken. \emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der
\r
2988 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des
\r
2989 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche
\r
2990 Elemente im System auftreten.} Damit
\r
2991 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils
\r
2992 wesentlich gegenüber der \name{Kant}ischen; aber gerade
\r
2993 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise
\r
2996 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür
\r
2997 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit
\r
2998 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,
\r
2999 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da
\r
3000 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt
\r
3001 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung
\r
3002 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln
\r
3003 aus, die den Übergang von einem System aufs
\r
3004 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein
\r
3005 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit
\r
3006 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige
\r
3008 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,
\r
3009 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß
\r
3010 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,
\r
3011 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche
\r
3012 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach
\r
3013 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,
\r
3014 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig
\r
3015 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen
\r
3016 $g_\mu\nu$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,
\r
3017 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte
\r
3018 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven
\r
3019 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver
\r
3020 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien
\r
3021 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den
\r
3022 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit
\r
3023 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen
\r
3024 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist
\r
3025 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,
\r
3026 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,
\r
3027 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft
\r
3028 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.
\r
3029 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der
\r
3030 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen
\r
3031 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was \name{Kant} in
\r
3032 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch
\r
3033 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert
\r
3034 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel
\r
3035 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung
\r
3036 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu
\r
3037 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive
\r
3038 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische
\r
3039 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn
\r
3040 Funktionen $g_\mu\nu$ beliebig wählbar sein. Aber die
\r
3042 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie
\r
3043 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und
\r
3044 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft
\r
3045 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv
\r
3046 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten
\r
3047 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die
\r
3048 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger
\r
3049 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der \name{Kant}ischen
\r
3050 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik
\r
3051 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft
\r
3052 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die
\r
3053 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die
\r
3054 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als
\r
3055 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen
\r
3056 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.
\r
3057 Wenn sich z.~B. die \name{Weyl}sche Verallgemeinerung
\r
3058 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder
\r
3059 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.
\r
3060 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe
\r
3061 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive
\r
3062 Relation mehr, die er bei \name{Einstein} trotz der Abhängigkeit
\r
3063 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl
\r
3064 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive
\r
3065 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten
\r
3066 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend
\r
3067 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs
\r
3068 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft
\r
3069 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise
\r
3070 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung
\r
3071 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen
\r
3072 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,
\r
3073 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.
\r
3075 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den
\r
3077 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven
\r
3078 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem
\r
3079 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle
\r
3080 der \name{Kant}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist
\r
3081 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als \name{Kants}
\r
3082 Versuch einer direkten Formulierung, und die \name{Kant}ische
\r
3083 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen
\r
3084 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem
\r
3085 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,
\r
3086 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der
\r
3087 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen
\r
3088 Vernunft gestattet.
\r
3093 \chapter*{VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie
\r
3094 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.}
\r
3097 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren
\r
3098 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege
\r
3099 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt
\r
3100 oder widerlegt werden können, so bedeutet das
\r
3101 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.
\r
3102 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung
\r
3103 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,
\r
3104 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei
\r
3105 Weise mit der Bemerkung \glqq{}alles ist Erfahrung\grqq{} abtun
\r
3106 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied
\r
3107 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen
\r
3108 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,
\r
3109 daß die letzteren für den \emph{logischen Aufbau} der Erkenntnis
\r
3110 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.
\r
3111 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:
\r
3112 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch
\r
3113 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und
\r
3114 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung
\r
3115 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung
\r
3116 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.
\r
3118 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung
\r
3119 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des
\r
3120 \emph{Gegenstandsbegriffs} beschreiben, die mit der Änderung
\r
3121 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie
\r
3125 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem
\r
3126 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und
\r
3127 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen
\r
3128 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.
\r
3129 So konstatiert sie das Auftreten von
\r
3130 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender
\r
3131 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,
\r
3132 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte
\r
3133 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert
\r
3134 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die
\r
3135 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die
\r
3136 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten
\r
3137 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte
\r
3138 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß
\r
3139 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die
\r
3140 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß
\r
3141 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den
\r
3142 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu
\r
3143 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die
\r
3144 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in
\r
3145 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.
\r
3146 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt
\r
3147 nach der \name{Newton}schen Theorie eine Abplattung. Der
\r
3148 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,
\r
3149 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen
\r
3150 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln
\r
3151 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch
\r
3152 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis
\r
3153 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.~B. eines
\r
3154 Breitenkreises) gleich $\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender
\r
3155 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen
\r
3156 in der pythagoräischen Beziehung steht (und
\r
3157 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten
\r
3159 für \emph{alle} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen
\r
3160 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen
\r
3161 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige
\r
3162 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er
\r
3163 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser
\r
3164 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding
\r
3165 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,
\r
3166 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die
\r
3167 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen
\r
3168 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum \emph{Gegenstandsbegriff
\r
3171 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,
\r
3172 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese
\r
3173 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten
\r
3174 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles
\r
3175 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und
\r
3176 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine
\r
3177 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch
\r
3178 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache
\r
3179 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor
\r
3180 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung
\r
3181 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten
\r
3182 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat \name{Helge
\r
3183 Holst}\footnotemark[28] den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch
\r
3184 zu retten, daß er entgegen der \name{Einstein}schen Relativität
\r
3185 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die
\r
3186 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben
\r
3187 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch
\r
3188 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die
\r
3189 \name{Einstein}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante
\r
3190 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall
\r
3193 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare
\r
3195 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung
\r
3196 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines
\r
3197 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits
\r
3198 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine
\r
3199 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung
\r
3200 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem
\r
3201 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen
\r
3202 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als
\r
3203 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch
\r
3204 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,
\r
3205 welcher der Körper die Verkürzung \glqq{}wirklich\grqq{} erfährt,
\r
3206 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute
\r
3207 Eigenschaft des Körpers ist; aber \name{Einstein} hatte gerade
\r
3208 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes
\r
3209 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.
\r
3210 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab
\r
3211 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)
\r
3212 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem
\r
3213 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als
\r
3214 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir
\r
3215 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den
\r
3216 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.
\r
3217 Allerdings können wir sie \emph{formulieren} nur in
\r
3218 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir
\r
3219 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere
\r
3220 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen
\r
3221 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:
\r
3222 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln
\r
3223 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn
\r
3224 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen
\r
3225 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu
\r
3226 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene
\r
3227 Länge. Aber sie ist nur \emph{ein} Ausdruck der realen Relation.
\r
3229 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,
\r
3230 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam
\r
3231 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft
\r
3232 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.
\r
3233 Das soll keine Versetzung des Realen in ein
\r
3234 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale
\r
3235 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in
\r
3236 \emph{einem} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln
\r
3237 angeben; aber wir müssen uns daran
\r
3238 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als
\r
3239 eine Verhältniszahl formulieren kann.
\r
3243 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:
\r
3244 was früher eine Eigenschaft des \emph{Dinges} war,
\r
3245 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;
\r
3246 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,
\r
3247 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,
\r
3248 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung
\r
3253 Bedeutet insofern der \name{Einstein}sche Längenbegriff
\r
3254 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden
\r
3255 realen Relation formuliert, so erhält er doch im
\r
3256 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche
\r
3257 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der
\r
3258 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt
\r
3259 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt
\r
3260 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,
\r
3261 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,
\r
3262 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein
\r
3263 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende
\r
3264 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich
\r
3265 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache
\r
3266 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst
\r
3268 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation
\r
3269 ineinander hinreichend beschrieben wird.
\r
3271 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur
\r
3272 Charakterisierung eines \emph{physikalischen Zustandes}
\r
3273 macht, ist in der \emph{allgemeinen} Relativitätstheorie in noch
\r
3274 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie
\r
3275 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte
\r
3276 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,
\r
3277 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand
\r
3278 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen
\r
3279 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,
\r
3280 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.
\r
3281 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten
\r
3282 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird
\r
3283 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer
\r
3284 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der
\r
3285 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische
\r
3286 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz
\r
3287 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite
\r
3288 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle
\r
3289 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen
\r
3290 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische
\r
3291 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die
\r
3292 \name{Riemann}sche analytische Metrik ist imstande, solchen
\r
3293 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu
\r
3294 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,
\r
3295 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen
\r
3296 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das
\r
3297 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,
\r
3298 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut
\r
3299 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,
\r
3300 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung
\r
3301 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der
\r
3303 \name{Einstein-Riemann}schen Raumkrümmung, daß sie die
\r
3304 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das \glqq{}unmöglich\grqq{}
\r
3305 ist hier nicht \emph{technisch} aufzufassen, etwa so,
\r
3306 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie
\r
3307 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern \emph{begrifflich};
\r
3308 auch die \emph{gedachte} gerade Linie ist im \name{Riemann}schen
\r
3309 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf
\r
3310 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach
\r
3311 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische
\r
3312 Stäbe zu suchen; auch die \emph{Annäherung} ist unmöglich.
\r
3313 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein
\r
3314 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine
\r
3315 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie
\r
3316 behauptet vielmehr: daß es \emph{überhaupt keinen Sinn}
\r
3317 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu
\r
3318 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten
\r
3319 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der \name{Einstein}schen
\r
3320 Theorie verhält sich zur \name{Newton}schen Bahn
\r
3321 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die \name{Einstein}sche
\r
3322 Krümmung ist von höherer Ordnung als die \name{Newton}sche.
\r
3323 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen
\r
3324 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,
\r
3325 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands
\r
3328 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse
\r
3329 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,
\r
3330 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen
\r
3331 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig
\r
3332 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese
\r
3333 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten
\r
3334 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein
\r
3335 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine
\r
3336 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in
\r
3338 die Gesamtheit der Körper. \emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom
\r
3339 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom
\r
3340 geworden.} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung
\r
3341 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle
\r
3342 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die
\r
3343 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit
\r
3344 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff
\r
3345 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen
\r
3346 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer
\r
3347 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß
\r
3348 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.
\r
3349 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,
\r
3350 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.
\r
3351 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,
\r
3352 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.
\r
3353 Darum kann sich auch nur in der Längen- und
\r
3354 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.
\r
3355 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich
\r
3356 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser
\r
3357 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was
\r
3358 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir
\r
3359 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:
\r
3360 das Reale wird nicht mehr durch ein \emph{Ding} beschrieben,
\r
3361 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den
\r
3362 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik
\r
3363 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des
\r
3364 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten
\r
3365 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch
\r
3366 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen
\r
3367 zwischen den metrischen Koeffizienten, und
\r
3368 wenn man 4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig
\r
3369 vorgibt, sind die anderen 6 durch Transformationsformeln
\r
3370 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt
\r
3372 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche
\r
3373 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren
\r
3374 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;
\r
3375 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen
\r
3376 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.
\r
3377 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --
\r
3378 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch
\r
3379 der Zustand der Körper ausdrücken.
\r
3383 Damit ist der alte auch noch von \name{Kant} benutzte
\r
3384 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz
\r
3385 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man
\r
3386 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen
\r
3387 dem Ausspruch des \name{Thales von Milet}, daß das Wasser
\r
3388 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff
\r
3389 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein
\r
3390 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere
\r
3391 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das
\r
3392 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen
\r
3393 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,
\r
3394 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die
\r
3395 \name{Einstein}sche Änderung der \emph{Zuordnungsprinzipien}
\r
3396 ging auf den \emph{Begriff} des Seienden. An diese Theorie
\r
3397 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist
\r
3398 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?
\r
3399 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den
\r
3400 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue
\r
3401 Ausfüllung. Daß etwas \emph{ist}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen
\r
3402 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;
\r
3403 da wir diese durch Messung feststellen können -- und \emph{nur}
\r
3404 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß
\r
3405 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung
\r
3406 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element
\r
3408 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn
\r
3409 der allgemeinen Relativitätstheorie\footnotemark[f].
\r
3411 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn
\r
3412 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung
\r
3413 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von
\r
3414 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen
\r
3415 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
\r
3416 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung
\r
3417 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;
\r
3418 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,
\r
3419 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen
\r
3420 werden muß\footnotemark[g]. Der Begriff des Einzeldings verliert
\r
3421 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete
\r
3422 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht
\r
3423 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte
\r
3425 \footnotetext[f]{Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis
\r
3426 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat
\r
3427 \name{Rutherford} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des
\r
3428 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.
\r
3429 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff
\r
3430 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung
\r
3431 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und \name{Rutherfords} Arbeiten
\r
3432 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen
\r
3433 im \name{Einstein}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die
\r
3434 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie
\r
3435 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im
\r
3436 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes
\r
3437 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen
\r
3440 \footnotetext[g]{Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst
\r
3441 umgekehrt den \glqq{}scheinbaren\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die \glqq{}wirkliche\grqq{}
\r
3442 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne
\r
3443 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese
\r
3444 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr
\r
3445 tiefgehenden Ausführungen bei \name{Weyl}, Anmerkung 21, S.~162.}
\r
3447 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie
\r
3448 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im
\r
3449 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den
\r
3450 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert
\r
3451 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man
\r
3452 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne
\r
3453 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst
\r
3454 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit
\r
3455 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an
\r
3456 Stelle der \emph{Physik der Kräfte und Dinge} tritt die
\r
3457 \emph{Physik der Feldzustände}.
\r
3459 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs
\r
3460 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch
\r
3461 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu
\r
3462 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien
\r
3463 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie
\r
3464 nicht, \emph{was} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern \emph{wie}
\r
3465 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,
\r
3466 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.
\r
3467 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie
\r
3468 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was
\r
3469 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen
\r
3470 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die
\r
3471 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen
\r
3472 führt; in diesem logischen Sinne ist das \glqq{}möglich\grqq{} jener
\r
3473 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen
\r
3474 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein
\r
3475 können wie bei \name{Kant}: \emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis
\r
3476 geändert hat, und der veränderte Gegenstand
\r
3477 der physikalischen Erkenntnis auch andere
\r
3478 logische Bedingungen voraussetzt}. Diese Änderung
\r
3479 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und
\r
3480 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die
\r
3482 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur
\r
3483 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der
\r
3484 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist
\r
3485 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch
\r
3486 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben
\r
3487 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten
\r
3488 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln
\r
3489 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.
\r
3490 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung
\r
3491 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige
\r
3492 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,
\r
3493 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,
\r
3494 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder
\r
3495 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die
\r
3496 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,
\r
3497 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori
\r
3498 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,
\r
3499 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.
\r
3505 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne
\r
3506 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in
\r
3507 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:
\r
3508 die Vorstellbarkeit des \name{Riemann}schen Raums. Wir
\r
3509 müssen allerdings betonen, daß die Frage der \emph{Evidenz}
\r
3510 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist
\r
3511 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische
\r
3512 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu
\r
3513 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
\r
3514 Axiome führt. Mit dem Schlagwort \glqq{}Gewöhnung\grqq{}
\r
3515 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar
\r
3517 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um
\r
3518 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil
\r
3519 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen
\r
3520 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns
\r
3521 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte
\r
3522 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch
\r
3523 vollkommen unerklärt.
\r
3525 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten
\r
3526 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu
\r
3527 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach
\r
3528 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere
\r
3529 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der
\r
3530 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,
\r
3531 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.
\r
3532 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir
\r
3533 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden
\r
3534 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns
\r
3535 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend
\r
3536 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser
\r
3537 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen
\r
3538 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis
\r
3539 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,
\r
3540 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,
\r
3541 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir
\r
3542 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische
\r
3543 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.
\r
3545 Als im 15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,
\r
3546 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen
\r
3547 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht
\r
3548 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte
\r
3549 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,
\r
3550 um festzustellen, daß die Erde \emph{keine} Kugel sei. Später
\r
3552 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es
\r
3553 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine
\r
3554 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen
\r
3555 richtig. Es ist auch gar nicht \emph{vorstellbar}, daß
\r
3556 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,
\r
3557 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich
\r
3558 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,
\r
3559 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber
\r
3560 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung
\r
3561 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel
\r
3562 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene
\r
3563 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten
\r
3564 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht
\r
3565 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der
\r
3566 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.
\r
3567 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr
\r
3568 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.
\r
3569 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel
\r
3570 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran
\r
3571 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,
\r
3572 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.
\r
3574 Genau so, glaube ich, steht es mit dem \name{Riemann}schen
\r
3575 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht
\r
3576 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der
\r
3577 Dinge war, nun plötzlich im \name{Riemann}schen Sinne krumm
\r
3578 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild
\r
3579 \emph{nicht gibt}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas
\r
3580 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des
\r
3581 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen
\r
3582 Zustandes die in uns liegenden geometrischen
\r
3583 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.
\r
3584 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,
\r
3586 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die
\r
3587 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann
\r
3588 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten
\r
3589 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche
\r
3590 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns
\r
3591 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie
\r
3592 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,
\r
3593 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.
\r
3595 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,
\r
3596 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis
\r
3597 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen
\r
3598 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie
\r
3599 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;
\r
3600 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse
\r
3601 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,
\r
3602 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.
\r
3607 \chapter*{Literarische Anmerkungen.}
\r
3610 \footnotetext[1]{S. 3. Poincaré hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und
\r
3611 Hypothese, Teubner 1906, S. 49-52. Es ist bezeichnend, daß er für
\r
3612 seine Äquivalenzbeweise die \name{Riemann}sche Geometrie von vornherein
\r
3613 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung
\r
3614 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der
\r
3615 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der
\r
3616 Geometrie nicht behaupten können.}
\r
3618 \footnotetext[2]{S. 4. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich
\r
3619 auftauchenden Ansichten, daß die \name{Einstein}sche Raumlehre sich mit der
\r
3620 \name{Kant}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,
\r
3621 ob man \name{Kant} oder \name{Einstein} recht gibt, läßt sich der \emph{Widerspruch}
\r
3622 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,
\r
3623 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft
\r
3624 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die
\r
3625 \name{Kant}ische Raumlehre völlig unberührt. E. \name{Sellien} schreibt in \glqq{}Die
\r
3626 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie\grqq{}, Kantstudien,
\r
3627 Ergänzungsheft 48, 1919: \glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf
\r
3628 die \glqq{}reine\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie
\r
3629 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst
\r
3630 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie
\r
3631 die Berechtigung genommen zu behaupten, die \glqq{}wahre\grqq{} Geometrie ist
\r
3632 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können
\r
3633 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische
\r
3634 Maßbestimmungen zugrunde legen.\grqq{} Leider übersieht \name{Sellien}
\r
3635 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im \name{Einstein}schen
\r
3636 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,
\r
3637 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie
\r
3638 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen
\r
3639 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und \emph{eine} Physik kann
\r
3640 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man
\r
3641 versteht nicht, warum \name{Sellien} nicht die Relativitätstheorie als \emph{falsch}
\r
3642 bezeichnet, wenn er doch an \name{Kant} festhält. Befremdend erscheint auch
\r
3643 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen
\r
3644 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte \name{Newton}sche
\r
3645 Theorie viel bequemer war. Wenn \name{Sellien} aber weiterhin
\r
3646 behauptet, der \name{Einstein}sche Raum sei ein anderer als der von \name{Kant}
\r
3647 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu \name{Kant}. Freilich läßt
\r
3648 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als
\r
3649 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber
\r
3650 \name{Kants} Raum ist gerade wie \name{Einsteins} Raum derjenige, in dem die
\r
3651 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der \emph{Physik}, lokalisiert
\r
3652 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der \name{Kant}ischen
\r
3653 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation
\r
3654 über anschauliche Hirngespinste.}
\r
3657 \footnotetext[3]{S. 4. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,
\r
3658 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;
\r
3659 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,
\r
3660 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer
\r
3661 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit
\r
3662 der Prinzipien, die Darstellung von \name{Erwin Freundlich} (Die Grundlagen
\r
3663 der \name{Einstein}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer
\r
3664 1920. 4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung
\r
3665 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen
\r
3666 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der
\r
3667 Abschnitte II und III dieser Untersuchung auf die Schrift \name{Freundlichs},
\r
3668 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.
\r
3670 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der
\r
3671 Theorie sei auch die Schrift von \name{Moritz Schlick}, Raum und Zeit in der
\r
3672 gegenwärtigen Physik, 3.~Aufl., Verlag von Julius Springer 1920, genannt.}
\r
3674 \footnotetext[4]{S. 6. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes Anmerkung
\r
3677 \footnotetext[5]{S. 9. A. \name{Einstein}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,
\r
3678 Ann. d. Phys. 17, 1905, S.~891.}
\r
3680 \footnotetext[6]{S. 13. Wir müssen diesen Einwand auch der \name{Natorp}schen Deutung
\r
3681 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den \glqq{}Logischen Grundlagen
\r
3682 der exakten Wissenschaften\grqq{}, Teubner 1910, S.~402, gibt. Er hat
\r
3683 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als
\r
3684 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit
\r
3685 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch
\r
3686 \name{Natorps} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche
\r
3687 auf die Unmöglichkeit ihrer \glqq{}empirischen Erfüllung\grqq{} zu schieben, nicht
\r
3688 als gelungen betrachtet werden.}
\r
3691 \footnotetext[7]{S. 21. \name{A. Einstein}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.
\r
3692 Ann. d. Phys. 1916, S.~777.}
\r
3694 \footnotetext[8]{S. 24. \name{Einstein}, a.~a.~O. S.~774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung
\r
3695 dieses Beispiels bei \name{Bloch}, Einführung in die Relativitätstheorie,
\r
3696 Teubner 1918, S.~95.}
\r
3698 \footnotetext[9]{S. 33. \name{David Hilbert}, Grundlagen der Geometrie, Teubner 1913, S.~5.}
\r
3700 \footnotetext[10]{S. 33. \name{Moritz Schlick}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer
\r
3703 \footnotetext[11]{S. 41. \name{Schlick}. a.~a.~O. S.~55.}
\r
3705 \footnotetext[12]{S. 50. \name{Kant}, Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. §~14, S.~126
\r
3706 der Originalausgabe.}
\r
3708 \footnotetext[13]{S. 50. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in Anmerkung
\r
3709 20 genannten Arbeiten.}
\r
3711 \footnotetext[14]{S. 51. Dieses Prinzip ist von \name{Kurt Lewin} analysiert worden.
\r
3712 Vgl. seine in Anmerkung 20 genannten Arbeiten.}
\r
3714 \footnotetext[15]{S. 51. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen
\r
3715 Verknüpfungsaxiome gibt \name{Haas}, Naturwissenschaften 7, 1919, S.~744.
\r
3716 Freilich glaubt \name{Haas}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu
\r
3717 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht
\r
3720 \footnotetext[16]{S. 53. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~43. Es ist nicht recht
\r
3721 einzusehen, warum \name{Kant} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der
\r
3722 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.
\r
3723 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.}
\r
3725 \footnotetext[17]{S. 54. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß \name{Kant} niemals
\r
3726 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt
\r
3727 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von \name{Kant} behauptete \emph{Einsicht
\r
3728 in die notwendige Geltung} apriorer Sätze nichts anderes ist,
\r
3729 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,
\r
3730 daß das Verfahren \name{Kants}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze
\r
3731 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff
\r
3732 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden
\r
3733 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der
\r
3735 \name{Kant}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt
\r
3736 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung
\r
3737 mit der Lehre \name{Kants} in ihrer ursprünglichen Form
\r
3738 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter
\r
3739 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem
\r
3740 exakt ausgeführten System der \name{Einstein}schen Lehre äquivalent in dem
\r
3741 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner
\r
3742 Auffassung von \name{Kants} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus
\r
3743 der Kritik der reinen Vernunft (2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):
\r
3744 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis
\r
3745 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß
\r
3746 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein
\r
3747 könne. Findet sich also erstlich ein Satz, \emph{der zugleich mit seiner
\r
3748 Notwendigkeit gedacht wird}, so ist er ein Urteil apriori (S.~3). Wo
\r
3749 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,
\r
3750 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich
\r
3751 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~4). Daß es nun dergleichen
\r
3752 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile
\r
3753 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.
\r
3754 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze
\r
3755 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten
\r
3756 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache
\r
3757 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff
\r
3758 einer Ursache so \emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit} der
\r
3759 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der
\r
3760 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn \ldots{} von
\r
3761 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte\grqq{}
\r
3764 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien
\r
3765 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,
\r
3766 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der
\r
3767 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung
\r
3768 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An
\r
3769 beiden ist nicht allein die \emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung
\r
3770 apriori}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar\grqq{} (S.~17).
\r
3772 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,
\r
3773 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es: \glqq{}Von
\r
3774 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl
\r
3775 geziemend fragen, \emph{wie} sie möglich sind, denn \emph{daß} sie möglich sein
\r
3776 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen\grqq{} (S.~20). Und Prolegomena,
\r
3777 S.~275 und 276 der Akademieausgabe: \glqq{}Es trifft sich aber
\r
3778 glücklicherweise, \ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori
\r
3779 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;
\r
3780 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß
\r
3781 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der
\r
3782 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig
\r
3783 anerkannt werden. \ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher
\r
3784 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.~i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es
\r
3785 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.\grqq{}
\r
3787 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht
\r
3788 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise
\r
3789 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik
\r
3790 der reinen Vernunft.}
\r
3793 \footnotetext[18]{S. 64. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen
\r
3794 Hypothese muß auf die in Anmerkung 20 genannten Arbeiten
\r
3795 des Verfassers hingewiesen werden.}
\r
3797 \footnotetext[19]{S. 68. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~V.}
\r
3799 \footnotetext[20]{S. 72. \name{Reichenbach}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die
\r
3800 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen 1915
\r
3801 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~161,
\r
3802 Barth 1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
\r
3803 Naturwiss. 8, 3, S.~46-55. -- Philosophische Kritik der
\r
3804 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss. 8, 8, S.~146-153, Springer 1920, --
\r
3805 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
\r
3806 Zeitschrift für Physik 1920, Bd.~2. Heft 2, S.~150-171.
\r
3808 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen
\r
3809 Arbeiten von \name{Kurt Lewin}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und
\r
3810 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,
\r
3811 Berlin 1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,
\r
3812 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin
\r
3815 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
\r
3816 liegt neuerdings eine Arbeit von \name{Ernst Cassirer} vor (Zur \name{Einstein}schen
\r
3817 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920,
\r
3818 B. \name{Cassirer}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter
\r
3819 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen
\r
3820 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion
\r
3821 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat
\r
3822 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion
\r
3823 berufener als \name{Cassirer}, dessen kritische Auflösung physikalischer
\r
3824 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie
\r
3825 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E. \name{Cassirer},
\r
3826 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910. B. \name{Cassirer}).
\r
3827 Leider war es mir nicht möglich, auf \name{Cassirers} Arbeit einzugehen, da
\r
3828 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.}
\r
3831 \footnotetext[21]{S. 73. \name{Hermann Weyl}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius
\r
3832 Springer 1918, S.~227. \name{Arthur Haas}, Die Physik als geometrische
\r
3833 Notwendigkeit. Naturwiss. 8, 7, S.~121-140. Springer 1920.}
\r
3835 \footnotetext[22]{S. 73 \name{Hermann Weyl}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.
\r
3836 der Berliner Akademie. 1918, S.~465-480.}
\r
3838 \footnotetext[23]{S. 75. Vgl z.~B. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~228. \glqq{}Ein
\r
3839 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe
\r
3840 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden
\r
3841 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als
\r
3842 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)
\r
3843 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.\grqq{}
\r
3844 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret
\r
3845 sich \name{Kant} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.}
\r
3847 \footnotetext[24]{S. 78. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten
\r
3848 (vgl. Anm. 20) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen
\r
3849 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung
\r
3850 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren
\r
3851 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so
\r
3852 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen
\r
3853 gelegentlich versucht wird.}
\r
3855 \footnotetext[25]{S. 79. Vgl. hierzu meine in Anmerkung 20 genannte erste Arbeit,
\r
3858 \footnotetext[26]{S. 80. Vgl. die in Anmerkung 10 genannte Arbeit, S. 323.}
\r
3860 \footnotetext[27]{S. 82. Es ist auffallend, daß \name{Schlick}, der den Begriff der eindeutigen
\r
3861 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und
\r
3862 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst
\r
3863 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen
\r
3864 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein
\r
3865 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese
\r
3866 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus
\r
3867 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr
\r
3868 weiter käme (Anmerkung 10, S.~344). Aber etwas anderes hatte \name{Kant}
\r
3869 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend
\r
3870 für \name{Schlicks} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der
\r
3871 \name{Kant}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,
\r
3872 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften
\r
3873 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis
\r
3874 als eindeutige Zuordnung ist \name{Schlicks} Analyse der Vernunft,
\r
3875 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.}
\r
3878 \footnotetext[28]{S. 91. \name{Helge Holst}, Die kausale Relativitätsforderung und
\r
3879 \name{Einsteins} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab
\r
3880 Math.-fys. Medd. II, 11, Kopenhagen, 1919.}
\r