2 -----File: 005.png---\nola\ortonmc\alisea\rudi49\uwe-joachim\--------------
\r
4 UND ERKENNTNIS APRIORI
\r
12 VERLAG VON JULIUS SPRINGER
\r
15 -----File: 006.png---\nola\TIMP\alisea\rudi49\uwe-joachim\-----------------
\r
16 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
\r
17 in fremde Sprachen, vorbehalten.
\r
19 Copyright 1920 by Julius Springer in Berlin.
\r
20 -----File: 007.png---\nola\TIMP\alisea\rudi49\uwe-joachim\-----------------
\r
24 -----File: 008.png---\nola\TIMP\alisea\rudi49\uwe-joachim\-----------------
\r
26 -----File: 009.png---\nola\TIMP\alisea\rudi49\uwe-joachim\-----------------
\r
38 II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten
\r
41 III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten
\r
44 IV. Erkenntnis als Zuordnung 32
\r
46 V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung
\r
49 VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die
\r
50 Relativitätstheorie 59
\r
52 VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische
\r
55 VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der
\r
56 Entwicklung des Gegenstandsbegriffes 89
\r
58 Literarische Anmerkungen 104
\r
60 -----File: 010.png---\nola\TIMP\alisea\windsong\uwe-joachim\---------------
\r
62 -----File: 011.png---\nola\alisea\minstrel\windsong\uwe-joachim\-----------
\r
70 Die <g>Einsteinsche</g> Relativitätstheorie hat die philosophischen
\r
71 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung
\r
72 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu
\r
73 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie
\r
74 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als
\r
75 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in
\r
76 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie
\r
77 nur Behauptungen über <g>physikalische</g> Meßbarkeitsverhältnisse
\r
78 und physikalische <g>Größenbeziehungen</g> auf [** missing comma?]
\r
79 [** no new paragraph!] aber es muß durchaus zugegeben werden, daß diese
\r
80 speziellen Behauptungen den allgemeinen <g>philosophischen</g>
\r
81 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen
\r
82 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen
\r
83 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen
\r
84 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte
\r
85 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;
\r
86 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die
\r
87 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer
\r
88 physikalischen Annahmen gemacht.
\r
90 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere
\r
91 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.
\r
92 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht
\r
93 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse
\r
94 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem
\r
95 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist
\r
96 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,
\r
97 auch zu dem Zeitbegriff <g>Kants</g>. Man hat
\r
98 -----File: 012.png---\bock\alisea\minstrel\windsong\uwe-joachim\-----------
\r
99 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem
\r
100 man die »physikalische Zeit« von der »phänomenologischen
\r
101 Zeit« unterschied und sich darauf bezog, daß die
\r
102 <g>Zeit als subjektives Erlebnis</g> immer die irreversible
\r
103 Folge blieb. Aber in <g>Kants</g> Sinne ist diese Trennung
\r
104 sicherlich nicht. Denn für <g>Kant</g> ist es gerade das Wesentliche
\r
105 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine <g>Bedingung
\r
106 der Naturerkenntnis</g> bildet, und nicht bloß
\r
107 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er
\r
108 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung
\r
109 »affizieren«, spricht, so meint er doch immer,
\r
110 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form
\r
111 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente
\r
112 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde
\r
113 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische
\r
114 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,
\r
115 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts
\r
116 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn
\r
117 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände
\r
118 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie
\r
119 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.
\r
121 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese
\r
122 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde
\r
123 nichts Geringeres behauptet, als <g>daß die euklidische
\r
124 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden
\r
125 dürfte</g>. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser
\r
126 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit
\r
127 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung
\r
128 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung
\r
129 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher
\r
130 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich
\r
131 evidenten Axiomen <g>Euklids</g> widersprechen.
\r
132 -----File: 013.png---\linea\alisea\minstrel\windsong\uwe-joachim\----------
\r
133 <g>Riemann</g> hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in
\r
134 analytischer Form begründet, in der der »ebene« Raum
\r
135 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche
\r
136 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen
\r
137 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,
\r
138 daß man sie als <g>anschaulich evident</g> von den anderen
\r
139 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen
\r
140 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne <g>Kants</g> -- die
\r
141 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung
\r
142 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden
\r
143 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie
\r
144 auf einen Einwand gegen ihre rein <g>begriffliche</g>
\r
145 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der
\r
146 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte
\r
147 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die
\r
148 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung
\r
149 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden
\r
150 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von
\r
151 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der
\r
152 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein
\r
153 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über
\r
154 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt
\r
155 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches
\r
156 Schema ersetzt werden könnte[1]. Gegenüber
\r
157 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen
\r
158 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken
\r
159 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie
\r
160 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen
\r
161 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt <g>falsch</g> wären.
\r
162 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten
\r
163 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,
\r
164 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht
\r
165 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung
\r
166 -----File: 014.png---\linea\TIMP\alisea\rudi49\uwe-joachim\----------------
\r
167 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.
\r
168 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie
\r
169 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein
\r
170 Zweifel, daß <g>Kants</g> transzendentale Ästhetik von der
\r
171 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;
\r
172 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer
\r
173 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie
\r
174 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität
\r
175 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so
\r
176 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der <g>Ungultigkeit</g>[**Ungültigkeit?]
\r
177 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.
\r
179 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist
\r
180 die Relativitätstheorie falsch, oder die <g>Kant</g>ische Philosophie
\r
181 bedarf in ihren <g>Einstein</g> widersprechenden Teilen
\r
182 einer Änderung[2]. Der Untersuchung dieser Frage ist die
\r
183 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint
\r
184 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,
\r
185 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung
\r
186 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung
\r
187 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es
\r
188 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos
\r
189 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische
\r
190 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir
\r
191 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunachst[**zunächst]
\r
192 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,
\r
193 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen
\r
194 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen
\r
195 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie
\r
196 für ihre Behauptungen anführt[3]. Danach untersuchen
\r
197 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,
\r
198 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie <g>Kants</g> einschließt,
\r
199 und indem wir diese den Resultaten unserer
\r
200 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden
\r
201 -----File: 015.png---\linea\alisea\minstrel\rudi49\uwe-joachim\------------
\r
202 wir, in welchem Sinne die Theorie <g>Kants</g> durch
\r
203 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann
\r
204 eine solche Änderung des Begriffs »apriori« durchführen,
\r
205 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr
\r
206 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie
\r
207 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine
\r
208 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.
\r
209 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische
\r
211 -----File: 016.png---\freakfish\alisea\minstrel\rudi49\uwe-joachim\--------
\r
216 II. Die von der speziellen Relativitätstheorie
\r
217 behaupteten Widersprüche.
\r
220 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt
\r
221 das Wort apriori im Sinne <g>Kants</g> gebrauchen, also dasjenige
\r
222 apriori nennen, was die Formen der Anschauung
\r
223 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir
\r
224 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche
\r
225 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien
\r
226 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche
\r
227 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der
\r
228 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die <g>Geltung</g>
\r
229 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori
\r
230 nicht vorweggenommen sein[4].
\r
232 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese
\r
233 Theorie auch heute noch als für <g>homogene</g> Gravitationsfelder
\r
234 gültig ansehen -- behauptet <g>Einstein</g>, daß das
\r
235 <g>Newton-Galilei</g>sche Relativitätsprinzip der Mechanik
\r
236 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
237 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der
\r
238 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen
\r
239 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit
\r
240 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.
\r
241 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:
\r
242 Auf welche Voraussetzungen stützen sich <g>Einstein</g>s
\r
245 Das <g>Galilei</g>sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein
\r
246 -----File: 017.png---\freakfish\nola\alisea\rudi49\uwe-joachim\------------
\r
247 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein
\r
248 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen
\r
249 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt
\r
250 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil
\r
251 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand
\r
252 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende
\r
253 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung
\r
254 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische
\r
255 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber
\r
256 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits<g>änderungen</g>
\r
257 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung
\r
258 kennen, an das Auftreten einer <g>Beschleunigung</g> geknüpft
\r
259 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren
\r
260 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das <g>Galilei</g>sche
\r
261 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
\r
263 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form
\r
264 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von
\r
265 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig
\r
266 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen
\r
267 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik
\r
268 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser
\r
269 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form
\r
270 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.
\r
271 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,
\r
272 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die
\r
273 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte
\r
274 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,
\r
275 wie im alten, daß also der <g>Funktionalzusammenhang</g>
\r
276 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller
\r
277 als die <g>Galilei</g>sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung
\r
278 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier
\r
279 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen
\r
280 an, bei welchen die Erhaltung des
\r
281 -----File: 018.png---\freakfish\alisea\VerenaM\alisea\uwe-joachim\---------
\r
282 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung
\r
283 der Kraft<g>größen</g> herbeigeführt wird. Daß es solche
\r
284 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings
\r
285 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische
\r
286 <g>Gesetz</g>, und nicht nur die <g>Kraft</g>, invariant gegen
\r
287 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer
\r
288 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen
\r
289 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen
\r
290 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist
\r
291 durch die Verteilung und die Natur der <g>Dinge</g>, und die
\r
292 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang
\r
293 haben kann. Für den <g>Kant</g>ischen Standpunkt, auf dem
\r
294 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und
\r
295 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die
\r
296 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,
\r
297 daß gegen die <g>Galilei-Newton</g>schen Gesetze
\r
298 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von
\r
299 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben
\r
300 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs
\r
301 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,
\r
302 liegt für den Philosophen kein Grund vor;
\r
303 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts
\r
304 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch
\r
305 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung
\r
306 der Geschehnisse äquivalent sein. <g>Mach</g>
\r
307 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken
\r
308 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn
\r
309 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand
\r
310 hat <g>Einstein</g> bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie
\r
311 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal
\r
312 genug sei. Erst <g>Einstein</g> selbst hat seiner Theorie diesen
\r
313 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine
\r
314 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die <g>Kant</g>ische
\r
315 -----File: 019.png---\freakfish\nola\alisea\rudi49\uwe-joachim\------------
\r
316 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend
\r
317 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;
\r
318 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht
\r
319 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,
\r
320 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik
\r
321 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung
\r
322 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern
\r
323 lag, um von ihr erkannt werden zu können.
\r
325 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische
\r
326 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische
\r
327 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als
\r
328 <g>Einstein</g> sie in seiner berühmten ersten Abhandlung[5] zur
\r
329 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,
\r
330 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange
\r
333 <g>Einstein</g> ging davon aus, daß man, um in einem
\r
334 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die
\r
335 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter
\r
336 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang
\r
337 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu
\r
338 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses
\r
339 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann
\r
340 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die
\r
341 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an
\r
342 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen
\r
343 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung
\r
344 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle
\r
345 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition
\r
346 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen
\r
347 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,
\r
348 also eine negative Auswahl treffen. In jeder »Koordinatenzeit«
\r
349 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert
\r
350 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die
\r
351 -----File: 020.png---\linea\alisea\VerenaM\rudi49\uwe-joachim\-------------
\r
352 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von
\r
353 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme
\r
356 Es ist keineswegs gesagt, daß diese <g>einfachste</g> Annahme
\r
357 auch <g>physikalisch zulässig</g> ist. Sie führt z.~B.,
\r
358 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der
\r
359 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),
\r
360 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere
\r
361 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens
\r
362 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten
\r
363 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition
\r
364 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit
\r
365 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit
\r
366 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt
\r
367 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit
\r
368 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen
\r
369 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.~h. ob nicht
\r
370 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden
\r
371 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch
\r
372 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als
\r
373 Entscheidung darüber konnte der <g>Michelson</g>sche Versuch
\r
374 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
375 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem
\r
376 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen
\r
377 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage
\r
378 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit
\r
379 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat
\r
380 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung
\r
381 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben
\r
382 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete
\r
383 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der
\r
384 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste
\r
385 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die
\r
386 -----File: 021.png---\linea\alisea\VerenaM\rudi49\uwe-joachim\-------------
\r
387 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall
\r
388 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
\r
390 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung
\r
391 der speziellen Relativitätstheorie die empirische
\r
392 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials
\r
393 erhebt sich der tiefe Gedanke <g>Einsteins: daß
\r
394 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese
\r
395 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten
\r
396 unmöglich ist</g>. Auch die alte Definition einer
\r
397 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:
\r
398 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich
\r
399 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung
\r
402 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist
\r
403 <g>Einstein</g> eingewandt worden, daß seine Überlegungen
\r
404 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln
\r
405 niemals zu einer genauen »absoluten« Zeit kommen
\r
406 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend
\r
407 approximativen Messung müßte festgehalten
\r
408 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die »absolute« Zeit
\r
409 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit
\r
410 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren
\r
411 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung
\r
412 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen
\r
413 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht
\r
414 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts
\r
415 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei
\r
416 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung
\r
417 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,
\r
418 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt
\r
419 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei
\r
420 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine
\r
421 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip
\r
422 -----File: 022.png---\linea\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\----------
\r
423 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,
\r
424 wie etwa <g>Kant</g> die Unzerstörbarkeit der Substanz
\r
425 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten
\r
426 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden
\r
427 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige
\r
428 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.
\r
429 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten
\r
430 eine obere Grenze nicht geben. Darüber
\r
431 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist
\r
432 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade
\r
433 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur
\r
434 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung
\r
435 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie
\r
436 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger
\r
437 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar
\r
438 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese
\r
439 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht
\r
440 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,
\r
441 in denen z.~B. die kinetische Energie eines Massenpunktes
\r
442 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich
\r
443 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,
\r
444 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,
\r
445 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere
\r
446 Grenze der Temperatur zu unterschreiten[A], kann auch
\r
447 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch
\r
448 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das
\r
450 [Footnote A: Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur
\r
451 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören
\r
452 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen
\r
453 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,
\r
454 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.
\r
455 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische
\r
456 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.]
\r
457 -----File: 023.png---\trixie\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\---------
\r
458 andere, aber es handelt sich hier gerade um das <g>physikalisch
\r
459 Erreichbare</g>. Wenn ein physikalisches Gesetz
\r
460 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze
\r
461 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die »absolute«
\r
462 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des
\r
463 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von
\r
464 einer »idealen Zeit« auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe
\r
465 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch
\r
466 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch
\r
467 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten[6]).
\r
469 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip
\r
470 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur
\r
471 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten
\r
472 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),
\r
473 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute
\r
474 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch
\r
475 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide
\r
476 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,
\r
477 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der
\r
478 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten
\r
479 ist aber eine empirische Angelegenheit
\r
480 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von
\r
481 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem
\r
482 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare
\r
483 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip
\r
484 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken
\r
485 vollzieht dabei <g>Einsteins</g> Entdeckung, daß die
\r
486 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung
\r
487 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden
\r
490 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls
\r
491 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit
\r
492 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die
\r
493 -----File: 024.png---\annorlunda\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\-----
\r
494 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.
\r
495 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert
\r
496 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit
\r
497 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.
\r
498 Allerdings wird sich der experimentelle
\r
499 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit
\r
500 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen
\r
501 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir
\r
502 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze
\r
503 ist, z.~B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung
\r
504 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische
\r
505 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit
\r
506 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;
\r
507 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch
\r
508 der <g>Michelson</g>sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn
\r
509 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des
\r
510 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.
\r
511 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine
\r
512 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den
\r
513 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste
\r
514 Extrapolation verwendet, das <g>Prinzip der
\r
515 normalen Induktion</g> nennen. Allerdings verbirgt sich
\r
516 hinter dem Begriff »<g>wahrscheinlichste Extrapolation</g>«
\r
517 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf
\r
518 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die
\r
519 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen
\r
520 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl
\r
521 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden
\r
522 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches
\r
523 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.
\r
524 Denken wir uns z.~B. die Werte der kinetischen Energie
\r
525 des Elektrons für Geschwindigkeiten von 0-99~%[**latex] der
\r
526 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und
\r
527 -----File: 025.png---\annorlunda\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\-----
\r
528 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die
\r
529 sich bei 100~% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.
\r
530 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve
\r
531 zwischen 99~% und 100~% noch einen Knick macht,
\r
532 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins
\r
533 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der
\r
534 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,
\r
535 den <g>Michelson</g>schen Versuch eingerechnet, nicht
\r
536 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten
\r
537 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer
\r
538 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,
\r
539 um seinen aprioren Charakter im Sinne des
\r
540 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im
\r
541 Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung
\r
542 dieses Prinzips näher eingehen.
\r
544 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,
\r
545 daß die Prinzipien:
\r
547 Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
\r
549 Prinzip der irreversiblen Kausalität
\r
551 Prinzip der Nahewirkung
\r
553 Prinzip des approximierbaren Ideals
\r
555 Prinzip der normalen Induktion
\r
557 Prinzip der absoluten Zeit
\r
559 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar
\r
560 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit
\r
561 gleichem Recht <g>apriore</g> Prinzipien nennen. Zwar sind
\r
562 sie nicht alle von <g>Kant</g> selbst als apriori genannt. Aber
\r
563 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem
\r
564 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,
\r
565 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir
\r
566 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit
\r
567 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen
\r
568 -----File: 026.png---\annorlunda\alisea\txwikinger\felix47\uwe-joachim\----
\r
569 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere
\r
570 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige
\r
571 dieser Prinzipien, z.~B. das der Nahewirkung, bestritten
\r
572 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen
\r
573 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien
\r
574 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das
\r
575 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung
\r
576 besonders aufführten, in ihnen nochmals
\r
577 implizit enthalten.
\r
579 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen
\r
580 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum <g>Kausalprinzip</g>
\r
581 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität
\r
582 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale
\r
583 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann
\r
584 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema
\r
585 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten
\r
588 <g>Minkowski</g> hat den <g>Einstein</g>schen Gedanken eine
\r
589 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer
\r
590 Form auszudrücken. Er definiert eine x_{4}-Koordinate
\r
591 durch x_{4} = ict und leitet die Lorentztransformation
\r
592 aus der Forderung ab, daß das Linienelement
\r
593 der 4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
\r
595 ds^{2} = [Greek: S]_{1}^{4} dx_[Greek: {n}]^{2}[**F2:PP please check]
\r
597 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen
\r
598 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören
\r
599 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip
\r
600 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als
\r
601 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
602 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen
\r
603 in die eine der <g>Relativität aller orthogonalen</g>
\r
604 -----File: 027.png---\annorlunda\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\-----
\r
605 <g>Transformationen in der Minkowski-Welt</g>. Die
\r
606 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam
\r
607 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der
\r
608 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene
\r
609 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern
\r
610 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird
\r
611 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem
\r
612 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen
\r
613 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für
\r
614 die einzelnen Systeme verschieden wäre.
\r
616 Man muß jedoch beachten, daß das <g>Minkowski</g>sche
\r
617 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare
\r
618 Formulierung der <g>Einstein</g>schen Gedanken. An deren
\r
619 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie
\r
620 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,
\r
621 denn die Einführung der vierten Koordinate
\r
622 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet
\r
623 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit
\r
624 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind
\r
625 raumartige und zeitartige Vektoren in der <g>Minkowski</g>-Welt
\r
626 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch
\r
627 mögliche Transformation ineinander überführen.
\r
629 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine
\r
630 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen
\r
631 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen
\r
632 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen
\r
633 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.
\r
634 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
\r
635 das in unseren Überlegungen eine so
\r
636 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben
\r
639 Nach <g>Einsteins</g> zweiter Theorie gilt die spezielle
\r
640 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen
\r
641 -----File: 028.png---\rudi49\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\---------
\r
642 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.~B. die
\r
643 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so
\r
644 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
\r
645 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle
\r
646 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt
\r
647 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall
\r
648 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung
\r
649 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die
\r
650 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.
\r
651 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,
\r
652 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,
\r
653 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß
\r
654 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere
\r
655 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn
\r
656 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener
\r
657 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier
\r
658 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen
\r
659 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch
\r
660 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber
\r
661 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten
\r
662 als c~=~3~.[**P2: *?]~10^10 cm p.~sec. zuläßt, so entsteht die
\r
663 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit
\r
664 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
\r
666 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld
\r
667 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,
\r
668 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge
\r
669 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.
\r
670 Für jedes Volumelement des Raumes hat c einen bestimmten
\r
671 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang
\r
672 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat
\r
673 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten
\r
674 c~=~3~.[**P2: *?]~10^10, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem
\r
675 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller
\r
676 -----File: 029.png---\rudi49\alisea\txwikinger\rudi49\uwe-joachim\---------
\r
677 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,
\r
678 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer <g>oberen
\r
679 Grenze</g>. Für jedes Volumelement -- und nur für ein
\r
680 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach
\r
681 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt
\r
682 also unsere vorher angewandte Betrachtung
\r
683 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
\r
685 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich
\r
686 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht
\r
687 von einer <g>allmählichen Annäherung</g> an eine absolute
\r
688 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht
\r
689 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren
\r
690 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom
\r
691 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens
\r
692 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl
\r
693 c~>~3~.[**P2: *?]~10^10 zuzuordnen, so daß die Annäherung an die
\r
694 absolute Zeit beliebig genau wird?
\r
696 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl c für das gewählte
\r
697 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung
\r
698 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,
\r
699 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos
\r
700 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,
\r
701 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen
\r
702 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß
\r
703 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements
\r
704 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und
\r
705 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren
\r
706 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht
\r
707 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen
\r
708 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung
\r
709 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der
\r
710 größeren Konstanten c als eine Genauigkeitssteigerung
\r
711 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die
\r
712 -----File: 030.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
713 Konstante c einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur
\r
714 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst
\r
715 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit
\r
716 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig
\r
717 erschiene es allein, den Wert von c festzuhalten, etwa (wie es
\r
718 vielfach geschieht) c 1 zu setzen für alle Inertialsysteme,
\r
719 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
\r
721 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge
\r
722 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn
\r
723 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit
\r
724 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung
\r
725 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne
\r
726 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine
\r
727 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich
\r
728 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit
\r
729 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;
\r
730 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des
\r
731 Raumes. Die Größe c ist aber nicht eine Funktion bestimmter
\r
732 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines
\r
733 <g>universalen Zustands</g>, und alle Meßmethoden sind
\r
734 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,
\r
735 daß innerhalb jedes Universalzustands eine
\r
736 obere Grenze c für jedes Volumelement existiert, bleibt
\r
737 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch
\r
738 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man
\r
739 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die
\r
740 allgemeine einordnet.
\r
742 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um
\r
743 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen
\r
744 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die
\r
745 <g>Geltung</g> der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes
\r
746 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.
\r
747 -----File: 031.png---\rudi49\nola\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
752 III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie
\r
753 behaupteten Widersprüche.
\r
756 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie
\r
757 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die
\r
758 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.
\r
759 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,
\r
760 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum
\r
761 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?
\r
763 <g>Einstein</g> sagt in seiner grundlegenden Schrift: »Es
\r
764 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die
\r
765 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches
\r
766 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.
\r
767 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie
\r
768 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit
\r
769 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß
\r
770 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung
\r
771 möglichst gesichert erscheinen[7].«
\r
773 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,
\r
774 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung
\r
775 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine
\r
776 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an
\r
777 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft
\r
778 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,
\r
779 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem
\r
780 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden
\r
781 wir finden, daß <g>Einsteins</g> Darstellung in Wahrheit eine
\r
782 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden
\r
783 Worten beansprucht.
\r
784 -----File: 032.png---\annorlunda\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------
\r
786 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen
\r
787 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität
\r
788 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen
\r
789 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher
\r
790 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen
\r
791 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen
\r
794 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von
\r
795 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.
\r
796 In diesem Koordinatensystem ist dann das
\r
797 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß
\r
798 dann das vierdimensionale Linienelement
\r
800 ds^2 = [Greek: S]_1^4 dx_[Greek: n]^2
\r
802 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale
\r
803 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch
\r
804 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich
\r
805 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird
\r
806 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,
\r
807 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:
\r
809 ds^2 = [Greek: S]_1^4 g_{[Greek: mn]} dx_[Greek: m]dx_[Greek: n].
\r
811 Dieser Ausdruck ist nach <g>Gauß</g> und <g>Riemann</g>
\r
812 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie[a].
\r
814 [Footnote a: Wir gebrauchen hier das Wort »euklidisch« für die vierdimensionale
\r
815 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen
\r
816 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen
\r
817 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen
\r
818 Raum, denn wenn die erstere eine <g>Riemann</g>sche Krümmung aufweist,
\r
819 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch
\r
820 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die
\r
821 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten <g>Erwin Freundlich</g>, Anmerkung
\r
823 -----File: 033.png---\rudi49\alisea\VerenaM\nola\txwikinger\---------------
\r
824 Die darin auftretenden Koeffizienten g_{[Greek: mn]} drücken sich
\r
825 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems
\r
826 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung
\r
827 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld
\r
828 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für
\r
829 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang
\r
830 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld
\r
831 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten
\r
832 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß
\r
833 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat <g>Einstein</g> den
\r
834 Schluß gezogen, daß <g>jedes</g> Gravitationsfeld, nicht bloß
\r
835 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung
\r
836 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.
\r
838 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine
\r
839 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;
\r
840 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der
\r
841 <g>Einstein</g>schen Extrapolation geführt haben.
\r
843 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch
\r
844 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen
\r
845 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,
\r
846 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen
\r
847 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.
\r
848 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit
\r
849 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:
\r
850 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß
\r
851 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit
\r
852 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine
\r
853 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.~B. daß
\r
854 das <g>Riemann</g>sche Krümmungsmaß dieses Systems überall
\r
855 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar
\r
856 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur
\r
857 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale
\r
858 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische
\r
859 -----File: 034.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
860 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche
\r
861 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann
\r
862 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen
\r
863 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten
\r
864 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme
\r
865 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen
\r
866 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige
\r
867 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des
\r
868 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum
\r
869 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes
\r
870 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen
\r
871 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber
\r
872 bleibt dabei gleich Null.
\r
874 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung
\r
875 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.
\r
876 Wenn also die <g>Einstein</g>sche Theorie, indem sie von
\r
877 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen
\r
878 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer
\r
879 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich
\r
880 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet
\r
881 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,
\r
882 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir
\r
883 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.
\r
884 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch
\r
885 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische
\r
886 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte
\r
887 Raum das Krümmungsmaß Null behält.
\r
889 Auch das von <g>Einstein</g> angeführte Beispiel der rotierenden
\r
890 Kreisscheibe[8] kann eine so weitgehende Verallgemeinerung
\r
891 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings
\r
892 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender
\r
893 Beobachter für den Quotienten aus Umfang
\r
894 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als [Greek: p]
\r
895 -----File: 035.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
896 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem
\r
897 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber
\r
898 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate
\r
899 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von
\r
900 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das
\r
901 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit
\r
902 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --
\r
903 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge
\r
904 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine
\r
905 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was
\r
906 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).
\r
907 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,
\r
908 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des
\r
909 Sonnensystems, das für die <g>Newton</g>schen Gleichungen
\r
910 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe
\r
911 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß
\r
914 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie
\r
915 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als
\r
916 die <g>Einstein</g>sche. Wir wollen folgende Forderungen an
\r
919 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in
\r
920 die spezielle Relativitätstheorie;
\r
922 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer
\r
923 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.
\r
925 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden
\r
926 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.~B.
\r
927 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem
\r
928 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des
\r
929 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken
\r
930 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem
\r
931 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante
\r
932 -----File: 036.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
933 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich
\r
934 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen
\r
935 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;
\r
936 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß
\r
937 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen
\r
938 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.
\r
939 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das
\r
940 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen
\r
941 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung
\r
942 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten
\r
943 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen
\r
944 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und
\r
945 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene
\r
946 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische
\r
949 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von <g>Einstein</g>
\r
950 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang
\r
951 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a
\r
952 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei <g>festgehaltenem
\r
953 Raumgebiet</g> die Feldstärken in den verschiedenen
\r
954 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch
\r
955 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß
\r
956 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;
\r
957 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir
\r
958 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in
\r
959 der Weise vollziehen, daß wir <g>bei festgehaltener Feldstärke</g>
\r
960 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.
\r
961 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes
\r
962 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende <g>Einstein</g>sche
\r
963 Voraussetzung für die Extrapolation machen:
\r
965 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich
\r
966 kleine Gebiete übergehen in die spezielle
\r
967 Relativitätstheorie.
\r
968 -----File: 037.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
970 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b
\r
973 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld
\r
974 ein kleines Gebiet G_1 ausgesucht, das wir als hinreichend
\r
975 homogen betrachten dürfen. Dort können wir
\r
976 ein Inertialsystem K_1 wählen; in ihm verschwindet die
\r
977 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem
\r
978 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar
\r
979 der gegen K_1 gleichförmig translatorisch bewegten Systeme
\r
980 gehören, denn sonst könnte es für G_1 nicht euklidisch sein.
\r
981 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes
\r
982 Gebiet G_2 an, in dem die Feldstärke einen anderen
\r
983 Wert hat als in G_1. Die Inertialsysteme K_2 in G_2 müssen
\r
984 gegen K_1 eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören
\r
985 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in G_1. Damit
\r
986 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch
\r
987 wird, müßte es sowohl zur Schar K_1 wie zur Schar K_2
\r
988 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c
\r
989 mit Forderung b nicht vereinbar.
\r
991 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen
\r
992 Relativitätstheorie nach der <g>Einstein</g>schen Forderung c
\r
993 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie
\r
994 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes
\r
995 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen
\r
996 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl
\r
997 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die
\r
998 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des
\r
999 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.
\r
1001 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits
\r
1002 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die
\r
1003 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation
\r
1004 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt
\r
1005 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit
\r
1006 -----File: 038.png---\bock\rudi49\alisea\windsong\txwikinger\--------------
\r
1007 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die
\r
1008 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine
\r
1009 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,
\r
1010 daß also der <g>Raum homogen</g> ist; denn nur unter dieser
\r
1011 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine
\r
1012 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn
\r
1013 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.
\r
1014 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,
\r
1015 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung
\r
1016 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten
\r
1017 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,
\r
1018 so daß doch keine Annäherung an die spezielle
\r
1019 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den
\r
1020 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens
\r
1021 beruht die Forderung c auf dem <g>Einstein</g>schen Äquivalenzprinzip,
\r
1022 denn sie besagt, daß <g>jedes</g> homogene Gravitationsfeld,
\r
1023 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,
\r
1024 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier
\r
1025 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.
\r
1026 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die
\r
1027 Gleichheit von schwerer und träger Masse für <g>jedes</g>
\r
1028 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch
\r
1029 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment
\r
1030 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.
\r
1031 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche
\r
1032 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.
\r
1034 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und
\r
1035 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien
\r
1036 im <g>Kant</g>ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,
\r
1037 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden
\r
1038 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c
\r
1039 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse
\r
1040 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß
\r
1041 -----File: 039.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
1042 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf
\r
1043 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da
\r
1044 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität
\r
1045 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,
\r
1046 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die
\r
1047 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch
\r
1048 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen
\r
1049 Fall in die spezielle übergeht, die <g>Stetigkeit der Gesetze</g>,
\r
1050 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen
\r
1051 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie
\r
1052 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen
\r
1053 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie
\r
1054 folgende Prinzipien als <g>gemeinsam unvereinbar mit
\r
1055 der Erfahrung</g> nachgewiesen hat.
\r
1058 Prinzip der speziellen Relativität
\r
1059 Prinzip der normalen Induktion
\r
1060 Prinzip der allgemeinen Kovarianz
\r
1061 Prinzip der Stetigkeit der Gesetze
\r
1062 Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen
\r
1063 Prinzip der Homogenität des Raumes
\r
1064 Prinzip der Euklidizität des Raumes.
\r
1067 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar
\r
1068 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und
\r
1069 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,
\r
1070 mit Ausnahme des ersten, apriori im <g>Kant</g>ischen
\r
1071 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches
\r
1072 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden
\r
1073 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.
\r
1075 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das
\r
1076 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.
\r
1077 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir
\r
1078 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch
\r
1079 der <g>Einstein</g>sche Raum noch besitzt.
\r
1080 -----File: 040.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
1082 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der <g>Einstein</g>schen
\r
1083 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr
\r
1084 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,
\r
1085 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen
\r
1086 wird. <g>Riemann</g> nennt diese Eigenschaft:
\r
1087 »Ebenheit in den kleinsten Teilen«. Sie drückt sich analytisch
\r
1088 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements
\r
1089 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl
\r
1090 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das
\r
1091 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.
\r
1092 Man kann also ein Koordinatensystem immer so
\r
1093 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet
\r
1094 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß
\r
1095 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld
\r
1096 immer »wegtransformieren« kann, wie auch das Feld
\r
1097 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied
\r
1098 zwischen den durch Transformation erzeugten und
\r
1099 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der
\r
1100 Inhalt der <g>Einstein</g>schen Äquivalenzhypothese für die
\r
1101 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese
\r
1102 Hypothese der Grund für die quadratische Form des
\r
1103 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen
\r
1104 hat danach ihren <g>physikalischen</g> Grund. Würden die
\r
1105 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für
\r
1106 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa
\r
1107 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde
\r
1108 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes
\r
1111 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen
\r
1112 Form für das Linienelement auch folgendermaßen
\r
1113 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen
\r
1114 g_[Greek: mn] sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der
\r
1115 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig
\r
1116 -----File: 041.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
1117 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,
\r
1118 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen
\r
1119 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der
\r
1120 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die
\r
1121 metrischen Funktionen g_[Greek: mn] gilt also <g>keine</g> Relativität,
\r
1122 d.~h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man
\r
1123 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn
\r
1124 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem
\r
1125 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in
\r
1126 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen
\r
1127 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie
\r
1128 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese
\r
1129 Eigenschaft »Relativität der metrischen Koeffizienten«
\r
1130 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die
\r
1131 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.
\r
1132 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für
\r
1133 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere
\r
1134 Formen, z.~B. den Differentialausdruck vierten Grades,
\r
1135 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der
\r
1136 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die
\r
1137 <g>Einstein</g>sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in
\r
1138 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb
\r
1139 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische
\r
1140 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer
\r
1141 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.
\r
1142 -----File: 042.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
1147 IV. Erkenntnis als Zuordnung.
\r
1150 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie
\r
1151 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie
\r
1152 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,
\r
1153 den Sinn des Apriori zu formulieren.
\r
1155 Es ist das Kennzeichen der modernen <g>Physik,</g> daß
\r
1156 sie alle Vorgänge durch <g>mathematische</g> Gleichungen
\r
1157 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf
\r
1158 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.
\r
1159 Für den mathematischen Satz bedeutet <g>Wahrheit</g>
\r
1160 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen
\r
1161 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas
\r
1162 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.
\r
1163 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der
\r
1164 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute
\r
1165 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur
\r
1166 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese
\r
1167 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der
\r
1168 beiden Wissenschaften.
\r
1170 Der <g>mathematische Gegenstand</g> ist durch die
\r
1171 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig
\r
1172 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie
\r
1173 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten
\r
1174 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede
\r
1175 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er
\r
1176 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.
\r
1177 Und durch die Axiome: denn sie geben die
\r
1178 -----File: 043.png---\bock\rudi49\alisea\felix47\txwikinger\---------------
\r
1179 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen
\r
1180 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe
\r
1181 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen
\r
1182 definiert. Wenn <g>Hilbert</g>[9] unter seine Axiome der
\r
1183 Geometrie den Satz aufnimmt: »unter irgend drei
\r
1184 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,
\r
1185 der zwischen den beiden andern liegt«, so ist dies ebensowohl
\r
1186 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte
\r
1187 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation
\r
1188 »zwischen«. Zwar ist dieser Satz noch keine <g>erschöpfende</g>
\r
1189 Definition. Aber die Definition wird vollständig
\r
1190 durch die Gesamtheit der Axiome. Der <g>Hilbert</g>sche
\r
1191 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was
\r
1192 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt[**.]
\r
1193 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c ... an Stelle
\r
1194 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,
\r
1195 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten
\r
1196 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,
\r
1197 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die
\r
1198 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch
\r
1199 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,
\r
1200 und obgleich unsere Anschauung mit beiden
\r
1201 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und
\r
1202 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,
\r
1203 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache
\r
1204 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz
\r
1205 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich
\r
1206 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche
\r
1207 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,
\r
1208 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß
\r
1209 eine Beziehung auf »absolute Definitionen« nötig wäre,
\r
1210 ist von <g>Schlick</g>[10] in der Lehre von den impliziten Definitionen
\r
1211 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese
\r
1212 -----File: 044.png---\annorlunda\rudi49\alisea\felix47\uwe-joachim\--------
\r
1213 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit
\r
1214 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.
\r
1216 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,
\r
1217 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.
\r
1218 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung
\r
1219 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich
\r
1220 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,
\r
1221 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten
\r
1222 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.
\r
1223 <g>Schlick</g> hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine
\r
1224 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht
\r
1225 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen
\r
1226 empirischen Ungenauigkeiten ist.
\r
1228 Für den <g>physikalischen Gegenstand</g> aber ist eine
\r
1229 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der
\r
1230 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.
\r
1231 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des
\r
1232 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen
\r
1233 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,
\r
1234 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie
\r
1235 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung
\r
1236 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen
\r
1237 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was
\r
1238 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System
\r
1239 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt
\r
1240 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,
\r
1241 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß
\r
1242 dies System von Gleichungen <g>Geltung für die Wirklichkeit</g>
\r
1243 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als
\r
1244 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir
\r
1245 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen
\r
1246 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die
\r
1247 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des
\r
1248 -----File: 045.png---\rudi49\alisea\VerenaM\felix47\uwe-joachim\-----------
\r
1249 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die <g>einzelnen</g>
\r
1250 Dinge den <g>einzelnen</g> Gleichungen. Dabei ist das
\r
1251 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als
\r
1252 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,
\r
1253 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur
\r
1254 »Kugel« zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und
\r
1255 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe
\r
1256 der Zuordnung vollziehend, als »Wahrnehmungsbilder der
\r
1257 Erde« bezeichnen. Sprechen wir von dem <g>Boile</g>schen
\r
1258 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel p~.~V~=~R~.~T[** formel]
\r
1259 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte
\r
1260 (z.~B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte
\r
1261 (z.~B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen
\r
1262 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung
\r
1263 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist
\r
1264 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine
\r
1265 Metaphysik hinweg zu interpretieren.
\r
1267 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen
\r
1268 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet
\r
1269 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.
\r
1270 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie
\r
1271 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen
\r
1272 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.
\r
1273 Dazu müssen aber die Elemente jeder der
\r
1274 Mengen <g>definiert</g> sein; d.~h. es muß für jedes Element
\r
1275 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die
\r
1276 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese
\r
1277 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen
\r
1278 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,
\r
1279 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber
\r
1280 für das »Wirkliche« kann man das keineswegs behaupten.
\r
1281 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst
\r
1282 durch die Zuordnung zu Gleichungen.
\r
1283 -----File: 046.png---\rudi49\alisea\VerenaM\nola\txwikinger\---------------
\r
1285 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen
\r
1286 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge
\r
1287 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa
\r
1288 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu
\r
1289 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst
\r
1290 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl
\r
1291 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt
\r
1292 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder
\r
1293 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem
\r
1294 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,
\r
1295 welcher von ihnen »rechts«, welcher »links« liegt. Aber
\r
1296 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden
\r
1297 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen
\r
1298 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der
\r
1299 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst
\r
1300 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem
\r
1301 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er
\r
1302 zu der zugeordneten Untermenge gehört; um das festzustellen,
\r
1303 müssen wir erst nach einer Methode, die durch
\r
1304 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine
\r
1305 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung
\r
1306 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge
\r
1307 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das
\r
1308 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn
\r
1309 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene
\r
1310 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die
\r
1311 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung
\r
1312 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen
\r
1313 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.
\r
1314 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer
\r
1315 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem
\r
1316 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte
\r
1317 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen
\r
1318 -----File: 047.png---\rudi49\alisea\VerenaM\nola\txwikinger\---------------
\r
1319 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben
\r
1320 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die
\r
1321 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb
\r
1322 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man
\r
1323 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der
\r
1324 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt
\r
1325 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende
\r
1326 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen
\r
1327 angegeben sind. So kann man fordern, daß
\r
1328 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter
\r
1329 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt
\r
1330 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen
\r
1331 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die
\r
1332 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung
\r
1333 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden
\r
1334 worden sind, ist durch die diskrete Menge und
\r
1335 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den
\r
1336 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung
\r
1337 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber
\r
1338 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen
\r
1339 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen
\r
1340 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben
\r
1343 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer
\r
1344 noch von der Zuordnung, die im <g>Erkenntnisprozeß</g>
\r
1345 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die <g>Obermenge</g>
\r
1346 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.
\r
1347 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft
\r
1348 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,
\r
1349 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;
\r
1350 von letzterer z.~B. in der Forderung, daß dem
\r
1351 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden
\r
1352 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für
\r
1353 -----File: 048.png---\annorlunda\rudi49\alisea\nola\txwikinger\------------
\r
1354 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben
\r
1355 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber
\r
1356 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist
\r
1357 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,
\r
1358 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal
\r
1359 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was
\r
1360 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst
\r
1361 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,
\r
1362 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten
\r
1363 eine Größe »Länge« herausinterpretieren. Wieder vollzieht
\r
1364 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.
\r
1365 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir
\r
1366 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,
\r
1367 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre
\r
1368 Ordnung erhält, sondern <g>in ihren Elementen erst
\r
1369 durch die Zuordnung definiert wird</g>.
\r
1371 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung
\r
1372 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,
\r
1373 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung
\r
1374 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element
\r
1375 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben
\r
1376 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers
\r
1377 als solches Element auf, so geraten wir deshalb
\r
1378 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr
\r
1379 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.~B. auf dem Manometer
\r
1380 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies
\r
1381 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,
\r
1382 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,
\r
1383 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem
\r
1384 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,
\r
1385 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen, »das Wesentliche
\r
1386 vom Unwesentlichen scheiden«; aber das ist bereits
\r
1387 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen
\r
1388 -----File: 049.png---\cedra\rudi49\alisea\nola\txwikinger\-----------------
\r
1389 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn
\r
1390 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.
\r
1391 Man könnte vermuten, daß etwa die <g>zeitliche Aufeinanderfolge</g>
\r
1392 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite
\r
1393 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.
\r
1394 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil
\r
1395 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung
\r
1396 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen
\r
1397 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge
\r
1398 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über
\r
1399 den »wirklichen« Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert
\r
1400 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,
\r
1401 z.~B. muß die physikalische Natur der Uhren,
\r
1402 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der
\r
1403 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete
\r
1404 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung
\r
1405 brauchbaren Ordnungssinn.
\r
1407 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes
\r
1408 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge
\r
1409 der wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen
\r
1410 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein
\r
1411 Erkenntnisurteil, d.~i. aber ein Zuordnungsprozeß, kann
\r
1412 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines
\r
1413 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem
\r
1414 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.
\r
1415 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der
\r
1416 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die
\r
1417 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen
\r
1418 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was
\r
1419 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine <g>Definition</g>
\r
1420 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.
\r
1422 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten
\r
1423 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die
\r
1424 -----File: 050.png---\rudi49\alisea\VerenaM\nola\txwikinger\---------------
\r
1425 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge
\r
1426 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte
\r
1427 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß
\r
1428 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre
\r
1429 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst
\r
1430 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.
\r
1432 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem
\r
1433 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man
\r
1434 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen »wirklich«
\r
1435 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein
\r
1436 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so
\r
1437 die Auffassung des <g>Berkeley</g>schen Solipsismus und in
\r
1438 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.
\r
1439 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.
\r
1440 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre
\r
1441 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur
\r
1442 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich
\r
1443 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,
\r
1444 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise
\r
1445 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung
\r
1446 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren
\r
1447 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge
\r
1448 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt
\r
1449 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten
\r
1450 Seite vorschreibt. <g>In dieser Wechselseitigkeit der
\r
1451 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen
\r
1452 aus</g>. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von
\r
1453 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.
\r
1454 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene
\r
1455 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns
\r
1456 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu
\r
1459 Hier erhebt sich die Frage: Worin besteht denn die
\r
1460 -----File: 051.png---\rudi49\alisea\VerenaM\nola\txwikinger\---------------
\r
1461 Auszeichnung der »richtigen« Zuordnung? Wodurch unterscheidet
\r
1462 sie sich von der »unrichtigen«? Nun, dadurch,
\r
1463 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden
\r
1464 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.
\r
1465 Berechnet man etwa aus der <g>Einstein</g>schen Theorie
\r
1466 eine Lichtablenkung von 1,7" an der Sonne, und würde
\r
1467 man an Stelle dessen 10" finden, so ist das ein Widerspruch,
\r
1468 und solche Widersprüche sind es allemal, die über
\r
1469 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun
\r
1470 ist die Zahl 1,7" auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen
\r
1471 an anderem Material gewonnen; die Zahl 10"
\r
1472 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs
\r
1473 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe
\r
1474 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente
\r
1475 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und
\r
1476 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis
\r
1477 die Zahl 1,7 zuordnet, die andere die Zahl 10, und dies
\r
1478 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend
\r
1479 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen
\r
1480 wir <g>wahr</g>. <g>Schlick</g> hat deshalb ganz recht, wenn er
\r
1481 <g>Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert</g>[11].
\r
1482 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe
\r
1483 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine
\r
1484 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;
\r
1485 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten
\r
1486 Erfahrungswissenschaft durch <g>Galilei</g> und <g>Newton</g> und
\r
1487 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch <g>Kant</g> als unbedingter
\r
1488 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß
\r
1489 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im
\r
1490 Erkenntnisprozeß zukommt. <g>Die Wahrnehmung liefert
\r
1491 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung</g>.
\r
1492 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande
\r
1493 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber
\r
1494 -----File: 052.png---\rudi49\alisea\VerenaM\Burkhart\txwikinger\-----------
\r
1495 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer
\r
1496 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen
\r
1497 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind
\r
1498 nämlich gar keine Täuschung der <g>Sinne</g>, sondern der
\r
1499 <g>Interpretation</g>; daß auch in der Halluzination die
\r
1500 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,
\r
1501 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die
\r
1502 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen
\r
1503 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist
\r
1504 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb
\r
1505 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde
\r
1506 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,
\r
1507 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer
\r
1508 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein
\r
1509 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang
\r
1510 zurückführen will, denn ich beobachte auf der
\r
1511 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung
\r
1512 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den
\r
1513 einer physiologischen Theorie, so entsteht <g>kein</g> Widerspruch,
\r
1514 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr
\r
1515 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage
\r
1516 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung
\r
1517 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung
\r
1518 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also
\r
1519 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft
\r
1520 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist
\r
1521 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.
\r
1523 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte
\r
1524 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von
\r
1525 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen
\r
1526 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort
\r
1527 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der
\r
1528 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte
\r
1529 -----File: 053.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
1530 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe
\r
1531 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu
\r
1532 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls
\r
1533 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene
\r
1534 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für
\r
1535 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,
\r
1536 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen
\r
1537 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,
\r
1538 die dies leistet, immer dieselben Elemente der
\r
1539 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.
\r
1540 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit
\r
1541 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt
\r
1542 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit
\r
1543 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren
\r
1544 deshalb: <g>Eindeutigkeit</g> heißt für die Erkenntniszuordnung,
\r
1545 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung
\r
1546 aus <g>verschiedenen Erfahrungsdaten</g> durch
\r
1547 <g>dieselbe Messungszahl<g> wiedergegeben wird.
\r
1549 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße
\r
1550 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an
\r
1551 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben mußte[**müßte?]. Die
\r
1552 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen
\r
1553 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine
\r
1554 Behauptung der Kausalität[*]. Auch wenn sie nicht
\r
1556 [Footnote *: Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft
\r
1557 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein
\r
1558 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,
\r
1559 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint
\r
1560 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht
\r
1561 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt
\r
1562 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte
\r
1563 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe[**F2: missing .]
\r
1564 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation
\r
1565 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität
\r
1566 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.]
\r
1567 -----File: 054.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
1568 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;
\r
1569 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung
\r
1570 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen
\r
1571 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,
\r
1572 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,
\r
1573 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings
\r
1574 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert
\r
1575 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und
\r
1576 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet
\r
1577 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier
\r
1578 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,
\r
1579 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener
\r
1580 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.
\r
1582 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig
\r
1583 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man
\r
1584 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie
\r
1585 bedeutet nichts anderes als die <g>Kant</g>ische Frage: Wie ist
\r
1586 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe
\r
1587 sein, die Antwort, die <g>Kant</g> auf diese Frage gab, mit den
\r
1588 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu
\r
1589 untersuchen, ob die <g>Kant</g>ische Antwort sich heute noch
\r
1590 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,
\r
1591 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort
\r
1592 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie
\r
1593 geben kann, die an ihr vorbeigeht.
\r
1595 Was bedeutet das Wort »möglich« in dieser Frage?
\r
1596 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch
\r
1597 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er
\r
1598 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht
\r
1599 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen
\r
1600 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier
\r
1601 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet
\r
1602 die Frage nach den logischen Bedingungen der
\r
1603 -----File: 055.png---\rudi49\alisea\Mib\rudi49\txwikinger\-----------------
\r
1604 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß
\r
1605 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst
\r
1606 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über
\r
1607 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge
\r
1608 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung
\r
1609 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,
\r
1610 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne
\r
1611 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen
\r
1612 Frage diese Form geben: <g>Mit welchen Prinzipien wird
\r
1613 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
\r
1616 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,
\r
1617 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien
\r
1618 charakterisieren. Denn sie bedeuten
\r
1619 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori <g>Kants</g>.
\r
1620 -----File: 056.png---\annorlunda\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------
\r
1625 V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite
\r
1626 Voraussetzung Kants.
\r
1629 Der Begriff des Apriori hat bei <g>Kant</g> zwei verschiedene
\r
1630 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie »apodiktisch
\r
1631 gültig«, »für alle Zeiten gültig«, und zweitens bedeutet
\r
1632 er »den Gegenstandsbegriff konstituierend«.
\r
1634 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.
\r
1635 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,
\r
1636 ist nach <g>Kant</g> nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung
\r
1637 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den
\r
1638 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch
\r
1639 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,
\r
1640 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt
\r
1641 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in
\r
1642 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der
\r
1643 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter
\r
1644 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in
\r
1645 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls
\r
1646 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche
\r
1647 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand
\r
1648 der Wissenschaft ist also nicht ein »Ding an sich«,
\r
1649 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung
\r
1650 basiertes Bezugsgebilde.
\r
1652 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den
\r
1653 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,
\r
1654 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß
\r
1655 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element
\r
1656 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,
\r
1657 -----File: 057.png---\Chb\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\-----------------
\r
1658 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der
\r
1659 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht
\r
1660 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart
\r
1661 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe
\r
1662 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren
\r
1663 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.
\r
1664 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der
\r
1665 Erfahrung bezeichnen. <g>Kant</g> nennt als solche Schemata
\r
1666 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen
\r
1667 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen
\r
1668 für die eindeutige Zuordnung sind.
\r
1670 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls
\r
1671 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die
\r
1672 zentrale Stellung, die er seit <g>Kant</g> in der Erkenntnistheorie
\r
1673 inne hat. Es war die große Entdeckung <g>Kants</g>,
\r
1674 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin
\r
1675 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente
\r
1676 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten
\r
1677 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt
\r
1678 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur
\r
1679 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte
\r
1680 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht
\r
1681 <g>Kant</g> ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar
\r
1682 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der
\r
1683 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.
\r
1685 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und
\r
1686 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu
\r
1687 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht
\r
1688 unzweckmäßig, sich die <g>Kant</g>ische Lehre in mehr anschaulicher
\r
1689 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit
\r
1690 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken
\r
1691 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß
\r
1692 die <g>Kant</g>ischen Begriffsbildungen einer mehr von
\r
1693 -----File: 058.png---\Chb\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\-----------------
\r
1694 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten
\r
1695 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser
\r
1696 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.
\r
1697 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe
\r
1700 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in
\r
1701 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen
\r
1702 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie
\r
1703 es vor uns steht; es hat keinen Sinn, dieses Sein noch
\r
1704 näher definieren zu wollen, denn was »wirklich« bedeutet,
\r
1705 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung
\r
1706 bleiben Analogien oder sind Darstellungen für den <g>begrifflichen
\r
1707 Ausdruck</g> dieses Erlebnisses. Die Wirklichkeit
\r
1708 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit
\r
1709 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur
\r
1710 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche
\r
1711 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem
\r
1712 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert
\r
1713 wird, was in dem »Kontinuum« der Wirklichkeit ein Einzelding
\r
1714 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang
\r
1715 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes
\r
1716 Einzelding »in Wirklichkeit da ist«.
\r
1718 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei
\r
1719 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,
\r
1720 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem
\r
1721 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst
\r
1722 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch
\r
1723 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich
\r
1724 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene
\r
1725 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion
\r
1726 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man
\r
1727 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man
\r
1728 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei
\r
1729 -----File: 059.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
1730 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,
\r
1731 die von der Definiertheit der Elemente auf <g>beiden</g> Seiten
\r
1732 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer
\r
1733 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes
\r
1734 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,
\r
1735 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den
\r
1736 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder
\r
1737 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre
\r
1738 z.~B. die folgende. Wollen wir eine Funktion f (x, y, z) = 0
\r
1739 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies
\r
1740 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen
\r
1741 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung
\r
1742 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,
\r
1743 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und
\r
1744 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.
\r
1745 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter
\r
1746 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.
\r
1747 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,
\r
1748 daß man für jeden Wert z = p = konst. eine Kurve
\r
1749 f (x, y, p) = 0 konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige
\r
1750 Funktion [Greek: ph] (x, z) p' = konst. annehmen und p' als Parameter
\r
1751 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von
\r
1752 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut
\r
1753 ein Bild der Funktion f (x, y, z) wie die erste. Man
\r
1754 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser
\r
1755 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser
\r
1756 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen
\r
1757 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also
\r
1758 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der
\r
1759 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu f (x, y, z)
\r
1760 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters
\r
1761 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine
\r
1762 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei
\r
1763 -----File: 060.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
1764 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,
\r
1765 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur
\r
1766 auf die <g>eine</g> Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem
\r
1767 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem
\r
1770 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente
\r
1771 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und
\r
1772 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien
\r
1773 der ersten Art geben, sondern nur solche, die
\r
1774 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen
\r
1775 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen
\r
1776 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art
\r
1777 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große
\r
1778 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen
\r
1779 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber
\r
1780 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses
\r
1781 überhaupt, und hängt damit zusammen,
\r
1782 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes
\r
1783 bedeutet als eine Beziehung auf »dasselbe« Element der
\r
1784 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung
\r
1785 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert
\r
1786 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für
\r
1787 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für
\r
1788 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung
\r
1789 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der
\r
1790 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie
\r
1791 <g>konstitutiv</g> für den wirklichen Gegenstand; in <g>Kants</g>
\r
1792 Worten: »weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein
\r
1793 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann«[12].
\r
1795 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip
\r
1796 genannt, welches definiert, wann
\r
1797 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten
\r
1798 anzusehen sind[13]. (Man denke etwa an eine
\r
1799 -----File: 061.png---\rudi49\alisea\uwe-joachim\rudi49\txwikinger\---------
\r
1800 Verteilung nach dem <g>Gauß</g>schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip
\r
1801 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,
\r
1802 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch
\r
1803 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen
\r
1804 dient; es definiert die physikalische Konstante.
\r
1805 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip[14],
\r
1806 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen
\r
1807 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in
\r
1808 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch
\r
1809 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn
\r
1810 sie besagen z.~B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt
\r
1811 definieren. Für die alte Physik war auch
\r
1812 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn
\r
1813 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne
\r
1814 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten
\r
1815 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie
\r
1816 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,
\r
1817 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen
\r
1818 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese
\r
1819 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung
\r
1820 sind und ihr als <g>Zuordnungsaxiome</g> vorangestellt
\r
1821 werden können, unterscheiden sie sich von den
\r
1822 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man
\r
1823 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives
\r
1824 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen
\r
1825 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen
\r
1826 enthalten aber immer noch spezielle mathematische
\r
1827 Operationen; so geben die <g>Einstein</g>schen Gravitationsgleichungen
\r
1828 an, in welcher speziellen mathematischen
\r
1829 Beziehung die physikalische Größe R_{ik} zu den
\r
1830 physikalischen Größen T_{ik} und g_{ik} steht. Wir wollen sie
\r
1831 deshalb <g>Verknüpfungsaxiome</g> nennen[15]. Die Zuordnungsaxiome
\r
1832 unterscheiden sich von ihnen dadurch,
\r
1833 -----File: 062.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
1834 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,
\r
1835 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen
\r
1836 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen
\r
1837 die Axiome der Arithmetik als Regeln der
\r
1838 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien
\r
1841 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig
\r
1842 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen
\r
1843 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an
\r
1844 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher
\r
1845 Weise gebunden. Wenn wir z.~B. ein bestimmtes
\r
1846 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,
\r
1847 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand
\r
1848 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen
\r
1849 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen
\r
1850 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive
\r
1851 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs[A].
\r
1852 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,
\r
1853 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch
\r
1854 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als
\r
1855 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang
\r
1856 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis
\r
1857 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber
\r
1858 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,
\r
1859 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche
\r
1860 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der
\r
1861 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch
\r
1862 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so
\r
1863 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte
\r
1865 [Footnote A: Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der
\r
1866 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen
\r
1867 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die
\r
1868 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.]
\r
1869 -----File: 063.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
1870 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten
\r
1873 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,
\r
1874 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.
\r
1875 Definieren wir einmal »apriori« im Sinne der zweiten Bedeutung
\r
1876 als »Gegenstand konstituierend«. Wie folgt
\r
1877 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,
\r
1878 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?
\r
1880 <g>Kant</g> begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die
\r
1881 menschliche Vernunft, d.~i. der Inbegriff von Verstand
\r
1882 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.
\r
1883 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach
\r
1884 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit
\r
1885 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist
\r
1886 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande
\r
1887 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis
\r
1888 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese
\r
1889 apodiktische Gültigkeit.
\r
1891 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht
\r
1892 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch
\r
1893 <g>Erfahrungen</g> eine Änderung der menschlichen Vernunft
\r
1894 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft
\r
1895 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren
\r
1896 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und
\r
1897 für <g>Kant</g> irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,
\r
1898 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive
\r
1899 Prinzipien benutzen als wir [16]; damit ist natürlich
\r
1900 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische
\r
1901 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,
\r
1902 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft
\r
1903 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet. <g>Kant</g>
\r
1904 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie
\r
1905 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine
\r
1906 -----File: 064.png---\bock\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\---------------
\r
1907 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft
\r
1908 und ihrer Ordnungsprinzipien durch <g>Erfahrungen</g>; in
\r
1909 diesem Sinne ist das »apodiktisch gültig« zu verstehen.
\r
1911 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen
\r
1912 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:
\r
1913 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,
\r
1914 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung
\r
1915 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien
\r
1916 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den
\r
1917 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,
\r
1918 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die
\r
1919 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die
\r
1920 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert. <g>Kants</g>
\r
1921 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht
\r
1922 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den
\r
1923 Abschnitten II und III eine Reihe von Prinzipien apriori
\r
1924 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach
\r
1925 dem <g>Kant</g>ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben
\r
1926 würden. Wir durften dafür das Kriterium der
\r
1927 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von <g>Kant</g> als
\r
1928 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch
\r
1929 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die
\r
1930 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen
\r
1933 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien
\r
1934 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige
\r
1935 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns
\r
1936 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht
\r
1937 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft
\r
1938 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das
\r
1939 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von
\r
1940 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein
\r
1941 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen
\r
1942 -----File: 065.png---\Edbrandon\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\----------
\r
1943 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur
\r
1944 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich
\r
1945 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit
\r
1946 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,
\r
1947 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien
\r
1948 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.
\r
1950 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer
\r
1951 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es
\r
1952 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die
\r
1953 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,
\r
1954 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise
\r
1955 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der
\r
1956 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht
\r
1957 alle verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf
\r
1958 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,
\r
1959 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie
\r
1960 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme
\r
1961 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur
\r
1962 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen
\r
1963 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich
\r
1964 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht
\r
1965 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System
\r
1966 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme
\r
1967 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel
\r
1968 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung
\r
1969 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene
\r
1970 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.
\r
1971 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die
\r
1972 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System
\r
1973 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,
\r
1974 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich
\r
1975 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.
\r
1977 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht
\r
1978 -----File: 066.png---\Edbrandon\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\-----------
\r
1979 so einfach schließen. Wäre z.~B. das Prinzipiensystem
\r
1980 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze
\r
1981 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System
\r
1982 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen
\r
1983 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung
\r
1984 <g>Kants</g>) deuten, daß es sich in dem evidenten
\r
1985 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.
\r
1986 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,
\r
1987 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System
\r
1988 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann
\r
1989 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen
\r
1990 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch
\r
1991 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,
\r
1992 die Wahrnehmung, von dem System ganz
\r
1993 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl
\r
1994 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn
\r
1995 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir
\r
1996 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,
\r
1997 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst
\r
1998 das euklidische System übernommen wird; daß durch das
\r
1999 so gewonnene System kein Widerspruch entsteht, läßt
\r
2000 sich erst durch den <g>konsequenten Ausbau dieser
\r
2001 Geometrie</g> feststellen. Freilich ist gerade das System
\r
2002 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann
\r
2003 hier nur der <g>Ausbau einer experimentellen Physik</g>
\r
2004 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,
\r
2005 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,
\r
2006 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.
\r
2008 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich
\r
2009 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte
\r
2010 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen
\r
2011 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer
\r
2012 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip
\r
2013 -----File: 067.png---\bock\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\---------------
\r
2014 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt
\r
2015 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten
\r
2016 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien
\r
2017 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert
\r
2018 ein <g>System</g>, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht
\r
2019 auskommen; und auch die <g>Kant</g>ische Philosophie hat
\r
2020 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen
\r
2021 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,
\r
2022 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip
\r
2023 enthält unter Umständen einen <g>Komplex</g> von Gedanken,
\r
2024 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe
\r
2025 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem <g>unvollständigen</g>
\r
2026 System äquivalent ist.
\r
2028 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;
\r
2029 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine
\r
2030 **tabilierte[**P2: can't read first letters **F2: prestabilierte?] Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung
\r
2031 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn
\r
2032 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der
\r
2033 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen
\r
2034 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit
\r
2035 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die
\r
2038 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir
\r
2039 die Geltung der <g>Kant</g>ischen Erkenntnislehre von der
\r
2040 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig
\r
2041 machen können. Kants Theorie enthält die Hypothese,
\r
2042 daß es <g>keine implizit widerspruchsvollen Systeme
\r
2043 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der
\r
2044 Wirklichkeit gibt</g>. Da diese Hypothese gleichbedeutend
\r
2045 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit
\r
2046 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu
\r
2047 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
\r
2048 kommen kann, wollen wir sie als <g>Hypothese</g>
\r
2049 -----File: 068.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
2050 <g>der Zuordnungswillkür</g> bezeichnen. Nur wenn sie
\r
2051 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes
\r
2052 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die
\r
2053 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung
\r
2054 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt
\r
2055 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die
\r
2056 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.
\r
2057 -----File: 069.png---\bock\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
2062 VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung
\r
2063 durch die Relativitätstheorie.
\r
2066 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte II und III
\r
2067 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie
\r
2068 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung
\r
2069 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?
\r
2070 Schließt nicht der <g>Kant</g>ische Beweis für die unbeschränkte
\r
2071 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch
\r
2074 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit
\r
2075 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet
\r
2076 wird, auf S.~15 zusammengestellt. Wir haben
\r
2077 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit
\r
2078 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten
\r
2079 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials
\r
2080 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen
\r
2081 der Dehnbarkeit des Begriffs »normal« ist das in gewissen
\r
2082 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch
\r
2083 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch
\r
2084 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält
\r
2085 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale
\r
2086 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne
\r
2087 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet
\r
2088 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im
\r
2089 Sinne <g>Kants</g>. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die
\r
2090 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines
\r
2091 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven
\r
2092 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.
\r
2093 -----File: 070.png---\annorlunda\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------
\r
2095 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse
\r
2096 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach
\r
2097 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf S.~29
\r
2098 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet
\r
2099 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr
\r
2100 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip
\r
2101 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses
\r
2102 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten
\r
2103 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,
\r
2104 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt
\r
2105 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung
\r
2106 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt
\r
2107 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente
\r
2108 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den
\r
2109 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu
\r
2110 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,
\r
2111 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.
\r
2113 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf
\r
2114 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die
\r
2115 Geltung der <g>Kant</g>ischen Erkenntnislehre abhängig machten,
\r
2116 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.
\r
2117 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips
\r
2118 für die Erkenntnis untersucht werden.
\r
2120 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem
\r
2121 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß
\r
2122 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit
\r
2123 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der
\r
2124 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;
\r
2125 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß
\r
2126 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der
\r
2127 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist
\r
2128 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im
\r
2129 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über
\r
2130 -----File: 071.png---\annorlunda\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-------
\r
2131 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie
\r
2132 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur
\r
2133 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium
\r
2134 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die
\r
2135 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.
\r
2136 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,
\r
2137 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,
\r
2138 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem
\r
2139 Gedanken beruht der <g>Kant</g>ische Beweis für die Unabhängigkeit
\r
2140 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.
\r
2141 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage
\r
2142 unmittelbar an diesen Beweis.
\r
2144 <g>Kants</g> Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung
\r
2145 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien
\r
2146 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze
\r
2147 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der
\r
2148 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,
\r
2149 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine
\r
2150 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr
\r
2151 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein
\r
2152 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.
\r
2154 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung
\r
2155 zweier Fragen zurückführen.
\r
2157 Ist es logisch <g>widersinnig</g>, solche induktiven Deutungen
\r
2158 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen
\r
2159 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?
\r
2161 Ist es logisch <g>zulässig</g>, vor der induktiven Deutung
\r
2162 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,
\r
2163 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?
\r
2165 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,
\r
2166 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen
\r
2167 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang
\r
2168 -----File: 072.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
2169 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren
\r
2170 der Physik, wie wir es im Abschnitt II geschildert
\r
2171 haben, verstehen werden.
\r
2173 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn
\r
2174 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man
\r
2175 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines
\r
2176 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen
\r
2177 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das
\r
2178 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren
\r
2179 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr
\r
2180 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit
\r
2181 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man
\r
2182 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien
\r
2183 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,
\r
2184 daß das zu prüfende Prinzip bereits in <g>sämtlichen</g> zur
\r
2185 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.
\r
2186 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des
\r
2187 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.
\r
2189 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir
\r
2190 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht
\r
2191 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.
\r
2193 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage
\r
2194 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein
\r
2195 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es
\r
2196 seien etwa Messungen zum <g>Boile</g>schen Gesetz ausgeführt,
\r
2197 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe
\r
2198 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte
\r
2199 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen
\r
2200 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen
\r
2201 stattfindet, die mit einer fingierten Formel pV^2~=~konst.
\r
2202 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch
\r
2203 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen
\r
2204 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.~B. die
\r
2205 -----File: 073.png---\rudi49\nola\alisea\windsong\txwikinger\--------------
\r
2206 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört[A].
\r
2207 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb
\r
2208 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler
\r
2209 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich
\r
2210 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen
\r
2211 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren
\r
2212 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre
\r
2213 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler
\r
2214 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß
\r
2215 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch
\r
2216 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe
\r
2217 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist
\r
2218 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel
\r
2219 pV^2~=~konst. dogmatisch fest und schließt jede widersprechende
\r
2220 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen
\r
2221 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die
\r
2222 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur
\r
2223 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende
\r
2224 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man
\r
2225 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen
\r
2226 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings
\r
2227 <g>möglich</g>, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen
\r
2228 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer
\r
2229 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig
\r
2230 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden
\r
2231 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte
\r
2232 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß
\r
2233 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen
\r
2235 [Footnote A: Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente
\r
2236 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen
\r
2237 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten
\r
2238 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der
\r
2239 Bezeichnungsweise.]
\r
2240 -----File: 074.png---\rudi49\alisea\VerenaM\windsong\txwikinger\-----------
\r
2241 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der
\r
2242 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede
\r
2243 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion
\r
2244 festgehalten werden[18].
\r
2246 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn
\r
2247 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.
\r
2248 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,
\r
2249 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip
\r
2250 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der
\r
2251 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle
\r
2252 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,
\r
2253 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar
\r
2254 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische
\r
2255 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.
\r
2256 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen
\r
2257 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst
\r
2258 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn
\r
2259 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so
\r
2260 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als
\r
2261 das Induktionsprinzip.
\r
2263 Der <g>Kant</g>ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus
\r
2264 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien
\r
2265 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie
\r
2266 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen
\r
2267 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort
\r
2268 auf die <g>Kant</g>ische Hypothese der Zuordnungswillkür in
\r
2269 folgenden Satz zusammenfassen: <g>Es gibt Systeme von
\r
2270 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der
\r
2271 Zuordnung unmöglich machen, also implizit
\r
2272 widerspruchsvolle Systeme.</g> Wir bemerken nochmals,
\r
2273 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,
\r
2274 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen
\r
2275 Physik möglich wurde. Hat man kein solches
\r
2276 -----File: 075.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2277 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung
\r
2278 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu
\r
2279 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip
\r
2280 gesprochen werden könnte.
\r
2282 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine
\r
2283 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich
\r
2284 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches
\r
2285 durch <g>Evidenz</g> ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;
\r
2286 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht
\r
2287 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch
\r
2288 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch
\r
2289 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr
\r
2290 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der
\r
2291 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir
\r
2292 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß
\r
2293 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie
\r
2294 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen
\r
2295 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur
\r
2296 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses
\r
2297 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß
\r
2298 Zuordnungsprinzipien in <g>jedem</g> Gesetz enthalten sind,
\r
2299 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen
\r
2300 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische
\r
2301 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,
\r
2302 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,
\r
2303 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.
\r
2304 Wollte man z.~B. versuchsweise den Raum als vierdimensional
\r
2305 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser
\r
2306 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung
\r
2307 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität
\r
2308 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle
\r
2309 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in
\r
2310 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts
\r
2311 -----File: 076.png---\rudi49\nola\alisea\rudi49\txwikinger\----------------
\r
2312 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren
\r
2313 wäre aber <g>technisch unmöglich</g>. Denn wir können
\r
2314 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.
\r
2316 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß
\r
2317 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt
\r
2318 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch
\r
2321 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie
\r
2322 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem
\r
2323 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;
\r
2324 und das Verfahren, welches <g>Einstein</g> dabei benutzt hat,
\r
2325 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.
\r
2327 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem
\r
2328 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit
\r
2329 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter
\r
2330 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine
\r
2331 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden
\r
2332 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze
\r
2333 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt
\r
2334 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit
\r
2335 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.
\r
2336 <g>Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,
\r
2337 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem
\r
2338 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung
\r
2339 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.</g>
\r
2340 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil
\r
2341 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte
\r
2342 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit
\r
2343 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses
\r
2344 induktive Verfahren als <g>Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2347 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie
\r
2348 ging. Als <g>Eötvös</g> die Gleichheit von
\r
2349 -----File: 077.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2350 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte
\r
2351 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung
\r
2352 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner
\r
2353 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat
\r
2354 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der
\r
2355 <g>Riemann</g>schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper
\r
2356 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie
\r
2357 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,
\r
2358 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen
\r
2359 vernachlässigt werden können. Wenn z.~B.
\r
2360 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen
\r
2361 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so
\r
2362 braucht er deswegen noch nicht die <g>Einstein</g>sche Zeitkorrektion
\r
2363 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem
\r
2364 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,
\r
2365 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis
\r
2366 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie
\r
2367 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld
\r
2368 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung
\r
2369 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb
\r
2370 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion
\r
2371 nach der üblichen Methode berechnen.
\r
2372 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf
\r
2373 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie
\r
2374 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung
\r
2375 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich
\r
2376 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,
\r
2377 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen
\r
2378 liegen und darum als euklidisch angenommen
\r
2381 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2382 den Kernpunkt für die Widerlegung der <g>Kant</g>ischen
\r
2383 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur
\r
2384 -----File: 078.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\VerenaM\txwikinger\------
\r
2385 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern
\r
2386 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und
\r
2387 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,
\r
2388 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.
\r
2390 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,
\r
2391 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür
\r
2392 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung <g>Kants</g>
\r
2393 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen
\r
2394 mag. <g>Kant</g> hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit
\r
2395 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl
\r
2396 bewußt, daß er einen <g>Beweis für diese Möglichkeit</g>
\r
2397 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,
\r
2398 daß <g>Erkenntnis unmöglich</g> wäre, und sah es für einen
\r
2399 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit
\r
2400 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den
\r
2401 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden
\r
2402 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier
\r
2403 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum
\r
2404 Gegenstand der Untersuchung gemacht. »Der Verstand
\r
2405 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,
\r
2406 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein
\r
2407 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer
\r
2408 gewissen Ordnung der Natur ... Diese Zusammenstimmung
\r
2409 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird
\r
2410 von der Urteilskraft ... apriori vorausgesetzt, indem sie
\r
2411 der <g>Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt</g>.
\r
2412 ... Denn es läßt sich wohl denken, daß es für
\r
2413 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche
\r
2414 Ordnung zu entdecken[19].« Es erscheint befremdend,
\r
2415 daß <g>Kant</g>, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit
\r
2416 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an
\r
2417 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der
\r
2418 -----File: 079.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2419 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem
\r
2420 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten
\r
2421 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,
\r
2422 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den
\r
2423 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der
\r
2424 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht
\r
2425 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie
\r
2426 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven
\r
2427 Prinzipien ändern muß, glaubte <g>Kant</g>, daß damit jede
\r
2428 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche
\r
2429 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene
\r
2430 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,
\r
2431 »mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung
\r
2432 fortkommen und Erkenntnis erwerben können«. Erst das
\r
2433 <g>Kant</g> noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2434 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein
\r
2435 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens
\r
2436 durch die Physik widerlegt werden.
\r
2438 Wir müssen dieser Auflösung der <g>Kant</g>ischen Aprioritätslehre
\r
2439 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.
\r
2440 Es scheint uns der Fehler <g>Kants</g> zu sein, daß er, der mit
\r
2441 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie
\r
2442 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten
\r
2443 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen
\r
2444 der Erkenntnis suchte, so mußte er die <g>Erkenntnis</g>
\r
2445 analysieren; aber was er analysierte, war die <g>Vernunft</g>.
\r
2446 Er mußte <g>Axiome</g> suchen, anstatt <g>Kategorien</g>. Es ist
\r
2447 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft
\r
2448 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,
\r
2449 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,
\r
2450 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine
\r
2451 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft
\r
2452 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das
\r
2453 -----File: 080.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\VerenaM\txwikinger\------
\r
2454 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar
\r
2455 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf
\r
2456 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner
\r
2457 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft
\r
2458 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch
\r
2459 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen
\r
2460 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig
\r
2461 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade
\r
2462 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann
\r
2463 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem
\r
2464 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch
\r
2465 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die
\r
2466 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel
\r
2467 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem
\r
2468 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein
\r
2469 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft
\r
2470 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen
\r
2471 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren
\r
2472 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung
\r
2473 des »gesunden Menschenverstandes«, jener
\r
2474 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich
\r
2475 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.
\r
2477 In diesem Verfahren <g>Kants</g> scheint uns sein methodischer
\r
2478 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig
\r
2479 angelegte System der kritischen Philosophie nicht
\r
2480 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden
\r
2481 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die
\r
2482 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller
\r
2483 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen
\r
2484 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung
\r
2485 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht
\r
2487 -----File: 081.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2492 VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die
\r
2493 wissenschaftsanalytische Methode.
\r
2496 Die Widerlegung des positiven Teils der <g>Kant</g>ischen
\r
2497 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,
\r
2498 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen
\r
2499 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,
\r
2500 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig
\r
2501 von der <g>Kant</g>ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und
\r
2502 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine
\r
2503 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der
\r
2504 <g>Kant</g>ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur
\r
2505 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit
\r
2506 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung
\r
2507 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?
\r
2509 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der <g>wissenschaftsanalytischen
\r
2510 Methode</g> in die Erkenntnistheorie.
\r
2511 Die von den positiven Wissenschaften in stetem
\r
2512 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate
\r
2513 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische
\r
2514 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau
\r
2515 der Axiomatik, die seit <g>Hilberts</g> Axiomen der Geometrie
\r
2516 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen
\r
2517 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche
\r
2518 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar
\r
2519 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes
\r
2520 Verfahren gibt, <g>als festzustellen, welches die in der
\r
2521 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien</g>
\r
2522 -----File: 082.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\VerenaM\txwikinger\------
\r
2523 <g>sind</g>. Der Versuch <g>Kants</g>, diese Prinzipien aus der Vernunft
\r
2524 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet
\r
2525 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine
\r
2526 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als
\r
2527 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial
\r
2528 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich
\r
2529 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um
\r
2530 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den
\r
2531 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.
\r
2533 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,
\r
2534 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser
\r
2535 bereits durchgeführt werden[20]. Sie führte zur Aufdeckung
\r
2536 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für
\r
2537 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der
\r
2538 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der
\r
2539 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie
\r
2540 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer
\r
2541 geleistet worden. Denn <g>Einstein</g> hat bei allen seinen
\r
2542 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen
\r
2543 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,
\r
2544 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,
\r
2545 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.
\r
2546 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen
\r
2547 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will
\r
2548 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und
\r
2549 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.
\r
2550 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine
\r
2551 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte
\r
2552 II und III dieser Untersuchung aufgefaßt werden.
\r
2554 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied
\r
2555 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist
\r
2556 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit
\r
2557 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein
\r
2558 -----File: 083.png---\annorlunda\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------
\r
2559 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich
\r
2560 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik
\r
2561 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der
\r
2562 <g>Naturerkenntnis</g>. Darum konnte auch die Axiomatik
\r
2563 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische
\r
2564 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie
\r
2565 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,
\r
2566 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge
\r
2567 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.
\r
2568 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie
\r
2569 z.~B. <g>Weyl</g> und auch <g>Haas</g>[21], wieder den Schluß ziehen
\r
2570 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin
\r
2571 zusammenwachsen. Die Frage der <g>Geltung</g> von Axiomen
\r
2572 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen
\r
2573 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das
\r
2574 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der
\r
2575 <g>Geltung</g> der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen
\r
2576 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt
\r
2577 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt
\r
2578 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,
\r
2579 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser
\r
2580 Einwand muß der <g>Weyl</g>schen Verallgemeinerung der
\r
2581 Relativitätstheorie[22] entgegengehalten werden, bei der
\r
2582 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich
\r
2583 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings
\r
2584 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit
\r
2585 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer
\r
2586 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum
\r
2587 muß die <g>Weyl</g>sche Verallgemeinerung vom Standpunkt
\r
2588 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre
\r
2589 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik
\r
2590 ist eben keine »geometrische Notwendigkeit«; wer das
\r
2591 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt
\r
2592 -----File: 084.png---\annorlunda\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------
\r
2593 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.
\r
2594 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine
\r
2595 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die
\r
2596 <g>Kant</g>ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern
\r
2597 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.
\r
2599 Der <g>Begriff des Apriori</g> erfährt durch unsere
\r
2600 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,
\r
2601 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder
\r
2602 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung
\r
2603 der <g>Kant</g>ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.
\r
2604 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:
\r
2605 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst
\r
2606 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches
\r
2607 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung
\r
2608 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen
\r
2609 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine
\r
2610 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang
\r
2611 mit anderen Gegenständen gemacht werden.
\r
2612 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form
\r
2613 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der
\r
2614 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische
\r
2615 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,
\r
2616 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst
\r
2617 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien
\r
2618 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt
\r
2619 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer
\r
2620 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange
\r
2621 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.
\r
2623 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,
\r
2624 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,
\r
2625 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip
\r
2626 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es
\r
2627 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den
\r
2628 -----File: 085.png---\nola\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------------
\r
2629 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten
\r
2630 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung
\r
2631 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das
\r
2632 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben
\r
2633 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze
\r
2634 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie
\r
2635 leicht verfällt. Als man die dem <g>Kant</g>ischen
\r
2636 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung
\r
2637 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war
\r
2638 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die
\r
2639 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten
\r
2640 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,
\r
2641 denn <g>Kant</g> hatte gewiß mit der Substanz
\r
2642 die Masse gemeint[23]. Aber man ist damit keineswegs
\r
2643 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip
\r
2644 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es
\r
2645 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding
\r
2646 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man
\r
2647 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens
\r
2648 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung
\r
2649 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt
\r
2650 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen
\r
2651 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere
\r
2652 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,
\r
2653 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung
\r
2654 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen
\r
2655 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten
\r
2656 <g>Kant</g>ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.
\r
2657 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor
\r
2658 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn
\r
2659 wenn z.~B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen
\r
2660 der Koordinaten nicht invariant sind, muß
\r
2661 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man
\r
2662 -----File: 086.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2663 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten
\r
2664 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip
\r
2665 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich <g>mit der
\r
2666 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung
\r
2667 begnügen</g>. So wollen wir, nach der Niederlage der <g>Kant</g>ischen
\r
2668 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht
\r
2669 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und
\r
2670 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung
\r
2671 unter allen Umständen wenigstens die <g>Riemann</g>sche
\r
2672 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß
\r
2673 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts
\r
2674 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags
\r
2675 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom
\r
2676 vierten Grade übergegangen ist. Die <g>Weyl</g>sche Theorie
\r
2677 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der <g>Einstein</g>schen
\r
2678 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch
\r
2679 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.
\r
2680 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar
\r
2681 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge
\r
2682 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der
\r
2683 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer
\r
2684 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß
\r
2685 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung
\r
2686 und gleiche Länge hat. In der <g>Einstein-Riemann</g>schen
\r
2687 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche
\r
2688 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der g>Weyl</g>schen
\r
2689 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.
\r
2690 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert
\r
2691 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich
\r
2692 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die
\r
2693 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch
\r
2694 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge
\r
2695 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.
\r
2696 -----File: 087.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2698 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige
\r
2699 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen
\r
2700 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten
\r
2701 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,
\r
2702 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt
\r
2703 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese
\r
2704 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter
\r
2705 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten
\r
2706 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen
\r
2707 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie
\r
2708 sie wieder aufgibt. Z.~B. ist in der <g>Weyl</g>schen
\r
2709 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche
\r
2710 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem
\r
2711 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit
\r
2712 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.
\r
2713 Nach der <g>Weyl</g>schen Theorie ist die Frequenz
\r
2714 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man
\r
2715 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß
\r
2716 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen
\r
2717 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.~B. die
\r
2718 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen
\r
2719 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen
\r
2720 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes
\r
2721 solche Fälle nachweisen, wo die <g>Weyl</g>sche
\r
2722 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.
\r
2724 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der
\r
2725 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung
\r
2726 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.
\r
2727 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen
\r
2728 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen
\r
2729 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,
\r
2730 daß die Größenwerte sich einer <g>stetigen</g> Häufigkeitsfunktion
\r
2731 einfügen. Würde man aber z.~B. die
\r
2732 -----File: 088.png---\annorlunda\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------
\r
2733 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische
\r
2734 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches
\r
2735 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese
\r
2736 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte
\r
2737 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer
\r
2738 noch mit großer Näherung gelten[24]. Wir wollen uns aber
\r
2739 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend
\r
2740 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft
\r
2741 wird allein zeigen können, in welcher <g>Richtung</g> sich die
\r
2742 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das
\r
2743 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle
\r
2744 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem
\r
2745 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein
\r
2746 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall
\r
2747 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten
\r
2748 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere
\r
2749 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine
\r
2750 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall
\r
2751 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.
\r
2753 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer
\r
2754 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede
\r
2755 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die
\r
2756 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten
\r
2757 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.
\r
2758 Aber <g>daß</g> es Prinzipien geben muß, die die eindeutige
\r
2759 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und
\r
2760 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im
\r
2761 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der
\r
2762 <g>Kant</g>ischen Philosophie?
\r
2764 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder
\r
2765 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen
\r
2766 können: nämlich daß die <g>eindeutige</g> Zuordnung immer
\r
2767 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition
\r
2768 -----File: 089.png---\annorlunda\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------
\r
2769 der Erkenntnis als <g>eindeutiger</g> Zuordnung? Aus einer
\r
2770 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann
\r
2771 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen
\r
2772 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;
\r
2773 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit
\r
2774 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die
\r
2775 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen
\r
2776 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten
\r
2777 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen
\r
2778 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische
\r
2779 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine
\r
2780 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine
\r
2781 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse[25]. Aber
\r
2782 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es
\r
2783 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse
\r
2784 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und
\r
2785 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der
\r
2786 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem
\r
2787 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,
\r
2788 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede
\r
2789 physikalische Konstante die Form hat: C + k[Greek: a], wo [Greek: a]
\r
2790 sehr klein und k eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch
\r
2791 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß k meistens
\r
2792 klein ist, vielleicht zwischen 1 und 10 liegt. Für Konstanten
\r
2793 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied
\r
2794 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine
\r
2795 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.~B.
\r
2796 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die
\r
2797 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe
\r
2798 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem
\r
2799 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte
\r
2800 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der
\r
2801 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen
\r
2802 -----File: 090.png---\bock\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------------
\r
2803 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen
\r
2804 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit
\r
2805 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer
\r
2806 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch
\r
2807 dadurch, daß man den neuen Ausdruck C + k[Greek: a] einführt,
\r
2808 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir
\r
2809 hatten oben (Abschnitt IV) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung
\r
2810 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen
\r
2811 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben
\r
2812 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit
\r
2813 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der
\r
2814 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck C + k[Greek: a]
\r
2815 ist aber die Größe k ganz unabhängig von physikalischen
\r
2816 Faktoren. Darum können wir die Größe C + k[Greek: a] niemals
\r
2817 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten
\r
2818 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden
\r
2819 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.
\r
2820 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten
\r
2821 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.
\r
2822 Wir hätten, da k auch von den Koordinaten unabhängig
\r
2823 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen
\r
2824 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu
\r
2825 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände
\r
2826 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe
\r
2827 C + k[Greek: a] ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme
\r
2828 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer
\r
2829 »individuellen Kausalität«, wie wir sie oben beschrieben
\r
2830 haben und wie sie z.~B. <g>Schlick</g>[26] als möglich annimmt,
\r
2831 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt
\r
2832 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen
\r
2833 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem
\r
2834 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt
\r
2835 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des
\r
2836 -----File: 091.png---\afookes@msn.com\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\----
\r
2837 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu
\r
2838 dieser etwa wie der <g>Riemann</g>sche Raum zum euklidischen;
\r
2839 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff
\r
2840 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung
\r
2841 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr
\r
2842 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie
\r
2843 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn
\r
2844 z.~B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen
\r
2845 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit
\r
2846 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.
\r
2847 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten
\r
2848 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu
\r
2849 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch
\r
2850 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer
\r
2851 praktischen Verwertung finden lassen.
\r
2855 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar
\r
2856 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon
\r
2857 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar
\r
2858 nicht <g>konstatiert</g> werden kann; sie ist selbst eine begriffliche
\r
2859 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.
\r
2860 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip
\r
2861 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen
\r
2862 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt
\r
2863 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt
\r
2864 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese
\r
2865 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch
\r
2866 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu
\r
2867 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung
\r
2868 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme
\r
2869 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs
\r
2870 die Bestimmtheit in die Definition
\r
2871 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der
\r
2872 -----File: 092.png---\windsong\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\-----------
\r
2873 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung
\r
2874 des Zuordnungsbegriffs[27].
\r
2876 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der
\r
2877 <g>Kant</g>ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,
\r
2878 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.
\r
2879 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren
\r
2880 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.
\r
2881 Denn vorläufig <g>gilt</g> dieser Begriff, und wir können
\r
2882 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis
\r
2883 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der
\r
2884 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,
\r
2885 daß diese <g>stetig</g> erfolgen muß, und darum wird der alte
\r
2886 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden
\r
2887 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem
\r
2888 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den
\r
2889 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit
\r
2890 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist
\r
2891 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell
\r
2892 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.
\r
2893 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich
\r
2894 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise
\r
2895 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --
\r
2896 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,
\r
2897 daß <g>unsere</g> Resultate <g>nun ewig</g> gelten sollen, nachdem
\r
2898 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv
\r
2899 nachgewiesen haben.
\r
2901 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung
\r
2902 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie
\r
2903 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs
\r
2904 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis
\r
2905 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist
\r
2906 nicht der Begriff der <g>Zuordnung</g> überhaupt jenes allgemeinste
\r
2907 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor
\r
2908 aller Erkenntnis steht?
\r
2909 -----File: 093.png---\cedra\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\--------------
\r
2911 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den
\r
2912 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.
\r
2913 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,
\r
2914 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs
\r
2915 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit
\r
2916 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns
\r
2917 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis
\r
2918 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.
\r
2919 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies
\r
2920 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den
\r
2921 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.
\r
2922 <g>Es gibt keine allgemeinsten Begriffe</g>.
\r
2924 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische
\r
2925 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn
\r
2926 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle
\r
2927 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.
\r
2928 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung
\r
2929 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die
\r
2930 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist
\r
2931 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das
\r
2932 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.
\r
2933 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.
\r
2935 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu
\r
2936 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,
\r
2937 wenn wir die <g>Kant</g>ische Analyse der Vernunft ablehnen,
\r
2938 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige
\r
2939 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien
\r
2940 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die
\r
2941 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren
\r
2942 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich
\r
2943 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von
\r
2944 der Erfahrung <g>erhält</g>. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten
\r
2945 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft
\r
2946 -----File: 094.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2947 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche
\r
2948 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von
\r
2949 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das
\r
2950 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen
\r
2951 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt
\r
2952 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,
\r
2953 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.
\r
2954 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt
\r
2955 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,
\r
2956 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während
\r
2957 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung
\r
2958 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet
\r
2959 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien
\r
2960 eine Entwicklung des <g>Gegenstandsbegriffs</g>
\r
2961 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung
\r
2962 von der <g>Kant</g>ischen: während bei <g>Kant</g> nur die
\r
2963 Bestimmung des <g>Einzelbegriffs</g> eine unendliche Aufgabe
\r
2964 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden, <g>daß auch
\r
2965 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft
\r
2966 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,
\r
2967 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung
\r
2968 entgegengehen können</g>.
\r
2970 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht
\r
2971 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe
\r
2972 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten
\r
2973 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat
\r
2974 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir
\r
2975 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere
\r
2976 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem
\r
2977 in seinen begrifflichen Relationen durch
\r
2978 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung
\r
2979 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in
\r
2980 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie
\r
2981 -----File: 095.png---\rudi49\alisea\VerenaM\rudi49\txwikinger\-------------
\r
2982 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff
\r
2983 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft
\r
2984 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich
\r
2985 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie <g>Kant</g>
\r
2986 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,
\r
2987 die von der Vernunft als notwendig hingestellt
\r
2988 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet
\r
2989 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen
\r
2990 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur
\r
2991 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten
\r
2992 sind, für die <g>keine</g> Auswahl vorgeschrieben ist,
\r
2993 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in
\r
2994 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich
\r
2995 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff
\r
2996 verdanken. <g>Nicht darin drückt sich der Anteil der
\r
2997 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des
\r
2998 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche
\r
2999 Elemente im System auftreten.</g> Damit
\r
3000 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils
\r
3001 wesentlich gegenüber der <g>Kant</g>ischen; aber gerade
\r
3002 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise
\r
3005 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür
\r
3006 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit
\r
3007 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,
\r
3008 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da
\r
3009 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt
\r
3010 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung
\r
3011 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln
\r
3012 aus, die den Übergang von einem System aufs
\r
3013 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein
\r
3014 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit
\r
3015 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige
\r
3016 -----File: 096.png---\annorlunda\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------
\r
3017 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,
\r
3018 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß
\r
3019 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,
\r
3020 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche
\r
3021 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach
\r
3022 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,
\r
3023 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig
\r
3024 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen
\r
3025 g_[Greek: mn] nicht beliebig angenommen werden dürfen,
\r
3026 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte
\r
3027 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven
\r
3028 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver
\r
3029 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien
\r
3030 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den
\r
3031 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit
\r
3032 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen
\r
3033 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist
\r
3034 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,
\r
3035 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,
\r
3036 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft
\r
3037 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.
\r
3038 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der
\r
3039 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen
\r
3040 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was <g>Kant</g> in
\r
3041 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch
\r
3042 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert
\r
3043 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel
\r
3044 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung
\r
3045 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu
\r
3046 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive
\r
3047 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische
\r
3048 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn
\r
3049 Funktionen g_[Greek: mn] beliebig wählbar sein. Aber die
\r
3050 -----File: 097.png---\annorlunda\rudi49\alisea\VerenaM\txwikinger\---------
\r
3051 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie
\r
3052 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und
\r
3053 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft
\r
3054 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv
\r
3055 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten
\r
3056 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die
\r
3057 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger
\r
3058 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der <g>Kant</g>ischen
\r
3059 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik
\r
3060 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft
\r
3061 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die
\r
3062 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die
\r
3063 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als
\r
3064 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen
\r
3065 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.
\r
3066 Wenn sich z.~B. die <g>Weyl</g>sche Verallgemeinerung
\r
3067 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder
\r
3068 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.
\r
3069 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe
\r
3070 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive
\r
3071 Relation mehr, die er bei <g>Einstein</g> trotz der Abhängigkeit
\r
3072 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl
\r
3073 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive
\r
3074 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten
\r
3075 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend
\r
3076 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs
\r
3077 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft
\r
3078 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise
\r
3079 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung
\r
3080 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen
\r
3081 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,
\r
3082 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.
\r
3084 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den
\r
3085 -----File: 098.png---\annorlunda\rudi49\alisea\rudi49\txwikinger\----------
\r
3086 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven
\r
3087 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem
\r
3088 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle
\r
3089 der <g>Kant</g>ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist
\r
3090 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als <g>Kants</g>
\r
3091 Versuch einer direkten Formulierung, und die <g>Kant</g>ische
\r
3092 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen
\r
3093 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem
\r
3094 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,
\r
3095 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der
\r
3096 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen
\r
3097 Vernunft gestattet.
\r
3098 -----File: 099.png---\annorlunda\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------
\r
3103 VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie
\r
3104 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.
\r
3107 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren
\r
3108 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege
\r
3109 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt
\r
3110 oder widerlegt werden können, so bedeutet das
\r
3111 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.
\r
3112 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung
\r
3113 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,
\r
3114 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei
\r
3115 Weise mit der Bemerkung »alles ist Erfahrung« abtun
\r
3116 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied
\r
3117 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen
\r
3118 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,
\r
3119 daß die letzteren für den <g>logischen Aufbau</g> der Erkenntnis
\r
3120 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.
\r
3121 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:
\r
3122 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch
\r
3123 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und
\r
3124 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung
\r
3125 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung
\r
3126 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.
\r
3128 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung
\r
3129 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des
\r
3130 <g>Gegenstandsbegriffs</g> beschreiben, die mit der Änderung
\r
3131 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie
\r
3133 -----File: 100.png---\bock\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------------
\r
3135 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem
\r
3136 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und
\r
3137 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen
\r
3138 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.
\r
3139 So konstatiert sie das Auftreten von
\r
3140 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender
\r
3141 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,
\r
3142 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte
\r
3143 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert
\r
3144 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die
\r
3145 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die
\r
3146 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten
\r
3147 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte
\r
3148 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß
\r
3149 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die
\r
3150 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß
\r
3151 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den
\r
3152 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu
\r
3153 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die
\r
3154 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in
\r
3155 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.
\r
3156 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt
\r
3157 nach der <g>Newton</g>schen Theorie eine Abplattung. Der
\r
3158 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,
\r
3159 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen
\r
3160 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln
\r
3161 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch
\r
3162 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis
\r
3163 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.~B. eines
\r
3164 Breitenkreises) gleich [Greek: p] ist, oder der Satz, daß bei genügender
\r
3165 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen
\r
3166 in der pythagoräischen Beziehung steht (und
\r
3167 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten
\r
3168 -----File: 101.png---\rudi49\alisea\VerenaM\raz\txwikinger\----------------
\r
3169 für <g>alle</g> kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen
\r
3170 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen
\r
3171 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige
\r
3172 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er
\r
3173 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser
\r
3174 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding
\r
3175 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,
\r
3176 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die
\r
3177 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen
\r
3178 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum <g>Gegenstandsbegriff
\r
3181 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,
\r
3182 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese
\r
3183 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten
\r
3184 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles
\r
3185 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und
\r
3186 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine
\r
3187 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch
\r
3188 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache
\r
3189 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor
\r
3190 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung
\r
3191 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten
\r
3192 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat <g>Helge
\r
3193 Holst</g>[28] den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch
\r
3194 zu retten, daß er entgegen der <g>Einstein</g>schen Relativität
\r
3195 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die
\r
3196 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben
\r
3197 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch
\r
3198 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die
\r
3199 <g>Einstein</g>sche Relativität erscheint dabei als eine elegante
\r
3200 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall
\r
3203 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare
\r
3204 -----File: 102.png---\rudi49\alisea\VerenaM\raz\txwikinger\----------------
\r
3205 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung
\r
3206 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines
\r
3207 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits
\r
3208 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine
\r
3209 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung
\r
3210 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem
\r
3211 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen
\r
3212 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als
\r
3213 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch
\r
3214 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern mußte[** müßte?],
\r
3215 welcher der Körper die Verkürzung »wirklich« erfährt,
\r
3216 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute
\r
3217 Eigenschaft des Körpers ist; aber <g>Einstein</g> hatte gerade
\r
3218 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes
\r
3219 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.
\r
3220 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab
\r
3221 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)
\r
3222 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem
\r
3223 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als
\r
3224 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir
\r
3225 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den
\r
3226 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.
\r
3227 Allerdings können wir sie <g>formulieren</g> nur in
\r
3228 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir
\r
3229 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere
\r
3230 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen
\r
3231 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:
\r
3232 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln
\r
3233 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn
\r
3234 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen
\r
3235 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu
\r
3236 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene
\r
3237 Länge. Aber sie ist nur <g>ein</g> Ausdruck der realen Relation.
\r
3238 -----File: 103.png---\afookes@msn.com\rudi49\alisea\raz\txwikinger\--------
\r
3239 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,
\r
3240 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam
\r
3241 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft
\r
3242 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.
\r
3243 Das soll keine Versetzung des Realen in ein
\r
3244 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale
\r
3245 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in
\r
3246 <g>einem</g> Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln
\r
3247 angeben; aber wir müssen uns daran
\r
3248 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als
\r
3249 eine Verhältniszahl formulieren kann.
\r
3253 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:
\r
3254 was früher eine Eigenschaft des <g>Dinges</g> war,
\r
3255 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;
\r
3256 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,
\r
3257 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,
\r
3258 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung
\r
3261 Bedeutet insofern der <g>Einstein</g>sche Längenbegriff
\r
3262 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden
\r
3263 realen Relation formuliert, so erhält er doch im
\r
3264 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche
\r
3265 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der
\r
3266 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt
\r
3267 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt
\r
3268 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,
\r
3269 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,
\r
3270 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein
\r
3271 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende
\r
3272 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich
\r
3273 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache
\r
3274 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst
\r
3275 -----File: 104.png---\Dragonfire1\rudi49\alisea\raz\txwikinger\------------
\r
3276 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation
\r
3277 ineinander hinreichend beschrieben wird.
\r
3279 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur
\r
3280 Charakterisierung eines <g>physikalischen Zustandes</g>
\r
3281 macht, ist in der <g>allgemeinen</g> Relativitätstheorie in noch
\r
3282 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie
\r
3283 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte
\r
3284 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,
\r
3285 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand
\r
3286 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen
\r
3287 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,
\r
3288 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.
\r
3289 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten
\r
3290 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird
\r
3291 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer
\r
3292 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der
\r
3293 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische
\r
3294 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz
\r
3295 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite
\r
3296 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle
\r
3297 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen
\r
3298 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische
\r
3299 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die
\r
3300 <g>Riemann</g>sche analytische Metrik ist imstande, solchen
\r
3301 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu
\r
3302 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,
\r
3303 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen
\r
3304 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das
\r
3305 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,
\r
3306 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut
\r
3307 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,
\r
3308 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung
\r
3309 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der
\r
3310 -----File: 105.png---\Burkhart\rudi49\alisea\raz\txwikinger\---------------
\r
3311 <g>Einstein-Riemann</g>schen Raumkrümmung, daß sie die
\r
3312 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das »unmöglich«
\r
3313 ist hier nicht <g>technisch</g> aufzufassen, etwa so,
\r
3314 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie
\r
3315 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern <g>begrifflich</g>;
\r
3316 auch die <g>gedachte</g> gerade Linie ist im <g>Riemann</g>schen
\r
3317 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf
\r
3318 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach
\r
3319 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische
\r
3320 Stäbe zu suchen; auch die <g>Annäherung</g> ist unmöglich.
\r
3321 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein
\r
3322 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine
\r
3323 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie
\r
3324 behauptet vielmehr: daß es <g>überhaupt keinen Sinn</g>
\r
3325 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu
\r
3326 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten
\r
3327 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der <g>Einstein</g>schen
\r
3328 Theorie verhält sich zur <g>Newton</g>schen Bahn
\r
3329 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die <g>Einstein</g>sche
\r
3330 Krümmung ist von höherer Ordnung als die <g>Newton</g>sche.
\r
3331 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen
\r
3332 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,
\r
3333 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands
\r
3336 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse
\r
3337 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,
\r
3338 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen
\r
3339 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig
\r
3340 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese
\r
3341 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten
\r
3342 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein
\r
3343 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine
\r
3344 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in
\r
3345 -----File: 106.png---\nola\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------------
\r
3346 die Gesamtheit der Körper. <g>Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom
\r
3347 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom
\r
3348 geworden.</g> Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung
\r
3349 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle
\r
3350 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die
\r
3351 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit
\r
3352 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff
\r
3353 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen
\r
3354 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer
\r
3355 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß
\r
3356 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.
\r
3357 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,
\r
3358 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.
\r
3359 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,
\r
3360 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.
\r
3361 Darum kann sich auch nur in der Längen- und
\r
3362 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.
\r
3363 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich
\r
3364 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser
\r
3365 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was
\r
3366 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir
\r
3367 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:
\r
3368 das Reale wird nicht mehr durch ein <g>Ding</g> beschrieben,
\r
3369 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den
\r
3370 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik
\r
3371 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des
\r
3372 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten
\r
3373 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch
\r
3374 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen
\r
3375 zwischen den metrischen Koeffizienten, und
\r
3376 wenn man 4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig
\r
3377 vorgibt, sind die anderen 6 durch Transformationsformeln
\r
3378 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt
\r
3379 -----File: 107.png---\rudi49\alisea\VerenaM\raz\txwikinger\----------------
\r
3380 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche
\r
3381 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren
\r
3382 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;
\r
3383 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen
\r
3384 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.
\r
3385 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --
\r
3386 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch
\r
3387 der Zustand der Körper ausdrücken.
\r
3391 Damit ist der alte auch noch von <g>Kant</g> benutzte
\r
3392 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz
\r
3393 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man
\r
3394 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen
\r
3395 dem Ausspruch des <g>Thales von Milet</g>, daß das Wasser
\r
3396 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff
\r
3397 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein
\r
3398 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere
\r
3399 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das
\r
3400 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen
\r
3401 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,
\r
3402 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die
\r
3403 <g>Einstein</g>sche Änderung der <g>Zuordnungsprinzipien</g>
\r
3404 ging auf den <g>Begriff</g> des Seienden. An diese Theorie
\r
3405 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist
\r
3406 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?
\r
3407 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den
\r
3408 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue
\r
3409 Ausfüllung. Daß etwas <g>ist</g>, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen
\r
3410 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;
\r
3411 da wir diese durch Messung feststellen können -- und <g>nur</g>
\r
3412 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß
\r
3413 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung
\r
3414 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element
\r
3415 -----File: 108.png---\rudi49\alisea\VerenaM\raz\txwikinger\----------------
\r
3416 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn
\r
3417 der allgemeinen Relativitätstheorie[A].
\r
3419 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn
\r
3420 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung
\r
3421 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von
\r
3422 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen
\r
3423 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
\r
3424 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung
\r
3425 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;
\r
3426 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,
\r
3427 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen
\r
3428 werden muß[B]. Der Begriff des Einzeldings verliert
\r
3429 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete
\r
3430 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht
\r
3431 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte
\r
3433 [Footnote A: Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis
\r
3434 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat
\r
3435 <g>Rutherford</g> eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des
\r
3436 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.
\r
3437 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff
\r
3438 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung
\r
3439 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und <g>Rutherfords</g> Arbeiten
\r
3440 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen
\r
3441 im <g>Einstein</g>schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die
\r
3442 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie
\r
3443 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im
\r
3444 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes
\r
3445 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen
\r
3448 [Footnote B: Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst
\r
3449 umgekehrt den »scheinbaren« Lauf einer Wasserwelle auf die »wirkliche«
\r
3450 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne
\r
3451 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese
\r
3452 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr
\r
3453 tiefgehenden Ausführungen bei <g>Weyl</g>, Anmerkung 21, S.~162.]
\r
3454 -----File: 109.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\----------
\r
3455 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie
\r
3456 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im
\r
3457 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den
\r
3458 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert
\r
3459 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man
\r
3460 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne
\r
3461 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst
\r
3462 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit
\r
3463 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an
\r
3464 Stelle der <g>Physik der Kräfte und Dinge</g> tritt die
\r
3465 <g>Physik der Feldzustände</g>.
\r
3467 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs
\r
3468 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch
\r
3469 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu
\r
3470 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien
\r
3471 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie
\r
3472 nicht, <g>was</g> im einzelnen Fall erkannt wird, sondern <g>wie</g>
\r
3473 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,
\r
3474 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.
\r
3475 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie
\r
3476 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was
\r
3477 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen
\r
3478 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die
\r
3479 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen
\r
3480 führt; in diesem logischen Sinne ist das »möglich« jener
\r
3481 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen
\r
3482 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein
\r
3483 können wie bei <g>Kant</g>: <g>weil sich der Begriff der Erkenntnis
\r
3484 geändert hat, und der veränderte Gegenstand
\r
3485 der physikalischen Erkenntnis auch andere
\r
3486 logische Bedingungen voraussetzt</g>. Diese Änderung
\r
3487 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und
\r
3488 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die
\r
3489 -----File: 110.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\----------
\r
3490 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur
\r
3491 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der
\r
3492 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist
\r
3493 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch
\r
3494 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben
\r
3495 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten
\r
3496 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln
\r
3497 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.
\r
3498 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung
\r
3499 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige
\r
3500 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,
\r
3501 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,
\r
3502 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder
\r
3503 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die
\r
3504 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,
\r
3505 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori
\r
3506 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,
\r
3507 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.
\r
3511 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne
\r
3512 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in
\r
3513 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:
\r
3514 die Vorstellbarkeit des <g>Riemann</g>schen Raums. Wir
\r
3515 müssen allerdings betonen, daß die Frage der <g>Evidenz</g>
\r
3516 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist
\r
3517 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische
\r
3518 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu
\r
3519 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
\r
3520 Axiome führt. Mit dem Schlagwort »Gewöhnung«
\r
3521 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar
\r
3522 -----File: 111.png---\nola\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------------
\r
3523 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um
\r
3524 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil
\r
3525 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen
\r
3526 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns
\r
3527 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte
\r
3528 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch
\r
3529 vollkommen unerklärt.
\r
3531 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten
\r
3532 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu
\r
3533 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach
\r
3534 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere
\r
3535 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der
\r
3536 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,
\r
3537 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.
\r
3538 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir
\r
3539 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden
\r
3540 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns
\r
3541 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend
\r
3542 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser
\r
3543 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen
\r
3544 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis
\r
3545 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,
\r
3546 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,
\r
3547 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir
\r
3548 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische
\r
3549 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.
\r
3551 Als im 15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,
\r
3552 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen
\r
3553 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht
\r
3554 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte
\r
3555 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,
\r
3556 um festzustellen, daß die Erde <g>keine</g> Kugel sei. Später
\r
3557 -----File: 112.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\----------
\r
3558 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es
\r
3559 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine
\r
3560 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen
\r
3561 richtig. Es ist auch gar nicht <g>vorstellbar</g>, daß
\r
3562 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,
\r
3563 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich
\r
3564 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,
\r
3565 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber
\r
3566 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung
\r
3567 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel
\r
3568 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene
\r
3569 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten
\r
3570 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht
\r
3571 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der
\r
3572 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.
\r
3573 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr
\r
3574 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.
\r
3575 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel
\r
3576 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran
\r
3577 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,
\r
3578 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.
\r
3580 Genau so, glaube ich, steht es mit dem <g>Riemann</g>schen
\r
3581 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht
\r
3582 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der
\r
3583 Dinge war, nun plötzlich im <g>Riemann</g>schen Sinne krumm
\r
3584 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild
\r
3585 <g>nicht gibt</g>, und daß mit den Relationen der Metrik etwas
\r
3586 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des
\r
3587 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen
\r
3588 Zustandes die in uns liegenden geometrischen
\r
3589 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.
\r
3590 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,
\r
3591 -----File: 113.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\----------
\r
3592 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die
\r
3593 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann
\r
3594 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten
\r
3595 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche
\r
3596 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns
\r
3597 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie
\r
3598 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,
\r
3599 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.
\r
3601 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,
\r
3602 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis
\r
3603 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen
\r
3604 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie
\r
3605 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;
\r
3606 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse
\r
3607 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,
\r
3608 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.
\r
3609 -----File: 114.png---\bock\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------------
\r
3614 Literarische Anmerkungen.
\r
3617 [Footnote 1: S. 3. Poincaré hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und
\r
3618 Hypothese, Teubner 1906[**1900?], S. 49-52. Es ist bezeichnend, daß er für
\r
3619 seine Äquivalenzbeweise die <g>Riemann</g>sche Geometrie von vornherein
\r
3620 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung
\r
3621 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der
\r
3622 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der
\r
3623 Geometrie nicht behaupten können.]
\r
3625 [Footnote 2: S. 4. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich
\r
3626 auftauchenden Ansichten, daß die <g>Einstein</g>sche Raumlehre sich mit der
\r
3627 <g>Kant</g>ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,
\r
3628 ob man <g>Kant</g> oder <g>Einstein</g> recht gibt, läßt sich der <g>Widerspruch</g>
\r
3629 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,
\r
3630 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft
\r
3631 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die
\r
3632 <g>Kant</g>ische Raumlehre völlig unberührt. E. <g>Sellien</g> schreibt in »Die
\r
3633 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie«, Kantstudien,
\r
3634 Ergänzungsheft 48, 1919: »Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf
\r
3635 die »reine« Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie
\r
3636 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst
\r
3637 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie
\r
3638 die Berechtigung genommen zu behaupten, die »wahre« Geometrie ist
\r
3639 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können
\r
3640 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische
\r
3641 Maßbestimmungen zugrunde legen.« Leider übersieht <g>Sellien</g>
\r
3642 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im <g>Einstein</g>schen
\r
3643 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,
\r
3644 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie
\r
3645 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen
\r
3646 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und <g>eine</g> Physik kann
\r
3647 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man
\r
3648 versteht nicht, warum <g>Sellien</g> nicht die Relativitätstheorie als <g>falsch</g>
\r
3649 bezeichnet, wenn er doch an <g>Kant</g> festhält. Befremdend erscheint auch
\r
3650 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen
\r
3651 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte <g>Newton</g>sche
\r
3652 Theorie viel bequemer war. Wenn <g>Sellien</g> aber weiterhin
\r
3653 behauptet, der <g>Einstein</g>sche Raum sei ein anderer als der von <g>Kant</g>
\r
3654 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu <g>Kant</g>. Freilich läßt
\r
3655 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als
\r
3656 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber
\r
3657 <g>Kants</g> Raum ist gerade wie <g>Einsteins</g> Raum derjenige, in dem die
\r
3658 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der <g>Physik</g>, lokalisiert
\r
3659 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der <g>Kant</g>ischen
\r
3660 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation
\r
3661 über anschauliche Hirngespinste.]
\r
3662 -----File: 115.png---\bock\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------------
\r
3664 [Footnote 3: S. 4. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,
\r
3665 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;
\r
3666 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,
\r
3667 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer
\r
3668 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit
\r
3669 der Prinzipien, die Darstellung von <g>Erwin Freundlich</g> (Die Grundlagen
\r
3670 der <g>Einstein</g>schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer
\r
3671 1920. 4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung
\r
3672 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen
\r
3673 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der
\r
3674 Abschnitte II und III dieser Untersuchung auf die Schrift <g>Freundlichs</g>,
\r
3675 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.
\r
3677 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der
\r
3678 Theorie sei auch die Schrift von <g>Moritz Schlick</g>, Raum und Zeit in der
\r
3679 gegenwärtigen Physik, 3.~Aufl., Verlag von Julius Springer 1920, genannt.]
\r
3681 [Footnote 4: S. 6. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes Anmerkung
\r
3684 [Footnote 5: S. 9. A. <g>Einstein</g>. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,
\r
3685 Ann. d. Phys. 17, 1905, S.~891.]
\r
3687 [Footnote 6: S. 13. Wir müssen diesen Einwand auch der <g>Natorp</g>schen Deutung
\r
3688 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den »Logischen Grundlagen
\r
3689 der exakten Wissenschaften«, Teubner 1910, S.~402, gibt. Er hat
\r
3690 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als
\r
3691 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit
\r
3692 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch
\r
3693 <g>Natorps</g> Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche
\r
3694 auf die Unmöglichkeit ihrer »empirischen Erfüllung« zu schieben, nicht
\r
3695 als gelungen betrachtet werden.]
\r
3696 -----File: 116.png---\bock\rudi49\alisea\raz\txwikinger\-------------------
\r
3698 [Footnote 7: S. 21. <g>A. Einstein</g>, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.
\r
3699 Ann. d. Phys. 1916, S.~777.]
\r
3701 [Footnote 8: S. 24. <g>Einstein</g>, a.~a.~O. S.~774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung
\r
3702 dieses Beispiels bei <g>Bloch</g>, Einführung in die Relativitätstheorie,
\r
3703 Teubner 1918, S.~95.]
\r
3705 [Footnote 9: S. 33. <g>David Hilbert</g>, Grundlagen der Geometrie, Teubner 1913, S.~5.]
\r
3707 [Footnote 10: S. 33. <g>Moritz Schlick</g>, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer
\r
3710 [Footnote 11: S. 41. <g>Schlick</g>. a.~a.~O. S.~55.]
\r
3712 [Footnote 12: S. 50. <g>Kant</g>, Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. §~14, S.~126
\r
3713 der Originalausgabe.]
\r
3715 [Footnote 13: S. 50. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in Anmerkung
\r
3716 20 genannten Arbeiten.]
\r
3718 [Footnote 14: S. 51. Dieses Prinzip ist von <g>Kurt Lewin</g> analysiert worden.
\r
3719 Vgl. seine in Anmerkung 20 genannten Arbeiten.]
\r
3721 [Footnote 15: S. 51. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen
\r
3722 Verknüpfungsaxiome gibt <g>Haas</g>, Naturwissenschaften 7, 1919, S.~744.
\r
3723 Freilich glaubt <g>Haas</g>, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu
\r
3724 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht
\r
3727 [Footnote 16: S. 53. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~43. Es ist nicht recht
\r
3728 einzusehen, warum <g>Kant</g> glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der
\r
3729 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.
\r
3730 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.]
\r
3732 [Footnote 17: S. 54. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß <g>Kant</g> niemals
\r
3733 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt
\r
3734 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von <g>Kant</g> behauptete <g>Einsicht
\r
3735 in die notwendige Geltung</g> apriorer Sätze nichts anderes ist,
\r
3736 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,
\r
3737 daß das Verfahren <g>Kants</g>, von der Existenz evidenter apriorer Sätze
\r
3738 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff
\r
3739 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden
\r
3740 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der <g>Kanti</g>-*]*
\r
3741 -----File: 117.png---\rudi49\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\----------
\r
3742 *[Footnote: *schen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt
\r
3743 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung
\r
3744 mit der Lehre <g>Kants</g> in ihrer ursprünglichen Form
\r
3745 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter
\r
3746 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem
\r
3747 exakt ausgeführten System der <g>Einstein</g>schen Lehre äquivalent in dem
\r
3748 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner
\r
3749 Auffassung von <g>Kants</g> Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus
\r
3750 der Kritik der reinen Vernunft (2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):
\r
3751 »Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis
\r
3752 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß
\r
3753 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein
\r
3754 könne. Findet sich also erstlich ein Satz, <g>der zugleich mit seiner
\r
3755 Notwendigkeit gedacht wird</g>, so ist er ein Urteil apriori (S.~3). Wo
\r
3756 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,
\r
3757 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich
\r
3758 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~4). Daß es nun dergleichen
\r
3759 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile
\r
3760 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.
\r
3761 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze
\r
3762 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten
\r
3763 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache
\r
3764 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff
\r
3765 einer Ursache so <g>offenbar den Begriff einer Notwendigkeit</g> der
\r
3766 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der
\r
3767 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn ... von
\r
3768 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte«
\r
3771 »Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien
\r
3772 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,
\r
3773 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der
\r
3774 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung
\r
3775 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An
\r
3776 beiden ist nicht allein die <g>Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung
\r
3777 apriori</g>, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar« (S.~17).
\r
3779 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,
\r
3780 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es: »Von
\r
3781 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl
\r
3782 geziemend fragen, <g>wie</g> sie möglich sind, denn <g>daß</g> sie möglich sein
\r
3783 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen« (S.~20). Und Prolegomena,
\r
3784 S.~275 und 276 der Akademieausgabe: »Es trifft sich aber
\r
3785 glücklicherweise, ... daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori
\r
3786 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;
\r
3787 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß
\r
3788 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der
\r
3789 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig
\r
3790 anerkannt werden. ... Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher
\r
3791 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.~i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es
\r
3792 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.«
\r
3794 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht
\r
3795 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise
\r
3796 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik
\r
3797 der reinen Vernunft.]
\r
3798 -----File: 118.png---\bock\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\------------
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3800 [Footnote 18: S. 64. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen
\r
3801 Hypothese muß auf die in Anmerkung 20 genannten Arbeiten
\r
3802 des Verfassers hingewiesen werden.]
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3804 [Footnote 19: S. 68. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~V.]
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3806 [Footnote 20: S. 72. <g>Reichenbach</g>. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die
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3807 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen 1915
\r
3808 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~161,
\r
3809 Barth 1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
\r
3810 Naturwiss. 8, 3, S.~46-55. -- Philosophische Kritik der
\r
3811 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss. 8, 8, S.~146-153, Springer 1920, --
\r
3812 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
\r
3813 Zeitschrift für Physik 1920, Bd.~2. Heft 2, S.~150-171.
\r
3815 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen
\r
3816 Arbeiten von <g>Kurt Lewin</g>: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und
\r
3817 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,
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3818 Berlin 1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,
\r
3819 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin
\r
3822 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
\r
3823 liegt neuerdings eine Arbeit von <g>Ernst Cassirer</g> vor (Zur <g>Einstein</g>schen
\r
3824 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1920,
\r
3825 B. <g>Cassirer</g>), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter
\r
3826 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen
\r
3827 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion
\r
3828 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat
\r
3829 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion
\r
3830 berufener als <g>Cassirer</g>, dessen kritische Auflösung physikalischer
\r
3831 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie
\r
3832 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E. <g>Cassirer</g>,
\r
3833 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910. B. <g>Cassirer</g>).
\r
3834 Leider war es mir nicht möglich, auf <g>Cassirers</g> Arbeit einzugehen, da
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3835 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.]
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3836 -----File: 119.png---\bock\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\------------
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3838 [Footnote 21: S. 73. <g>Hermann Weyl</g>, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius
\r
3839 Springer 1918, S.~227. <g>Arthur Haas</g>, Die Physik als geometrische
\r
3840 Notwendigkeit. Naturwiss. 8, 7, S.~121-140. Springer 1920.]
\r
3842 [Footnote 22: S. 73 <g>Hermann Weyl</g>, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.
\r
3843 der Berliner Akademie. 1918, S.~465-480.]
\r
3845 [Footnote 23: S. 75. Vgl z.~B. Kritik der reinen Vernunft. 2.~Aufl. S.~228. »Ein
\r
3846 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe
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3847 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden
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3848 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als
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3849 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)
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3850 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.«
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3851 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret
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3852 sich <g>Kant</g> die Substanz als wägbare Materie vorstellt.]
\r
3854 [Footnote 24: S. 78. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten
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3855 (vgl. Anm. 20) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen
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3856 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung
\r
3857 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren
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3858 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so
\r
3859 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen
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3860 gelegentlich versucht wird.]
\r
3862 [Footnote 25: S. 79. Vgl. hierzu meine in Anmerkung 20 genannte erste Arbeit,
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3865 [Footnote 26: S. 80. Vgl. die in Anmerkung 10 genannte Arbeit, S. 323.]
\r
3867 [Footnote 27: S. 82. Es ist auffallend, daß <g>Schlick</g>, der den Begriff der eindeutigen
\r
3868 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und
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3869 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst
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3870 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen
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3871 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein
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3872 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese
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3873 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus
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3874 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr
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3875 weiter käme (Anmerkung 10, S.~344). Aber etwas anderes hatte <g>Kant</g>
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3876 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend
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3877 für <g>Schlicks</g> psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der
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3878 <g>Kant</g>ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,
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3879 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften
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3880 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis
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3881 als eindeutige Zuordnung ist <g>Schlicks</g> Analyse der Vernunft,
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3882 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.]
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3883 -----File: 120.png---\bock\MilochGermany\alisea\raz\txwikinger\------------
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3885 [Footnote 28: S. 91. <g>Helge Holst</g>, Die kausale Relativitätsforderung und
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3886 <g>Einsteins</g> Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab
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3887 Math.-fys. Medd. II, 11, Kopenhagen, 1919.]
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