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91 %UND ERKENNTNIS APRIORI}
92 \title{Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori
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96 %\author{HANS REICHENBACH}
97 \author{Hans Reichenbach
}
101 VERLAG VON JULIUS SPRINGER
}
112 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
113 in fremde Sprachen, vorbehalten.
116 Copyright
1920 by Julius Springer in Berlin.
131 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten
134 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten
137 %IV. Erkenntnis als Zuordnung 32
139 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung
142 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die
143 %Relativitätstheorie 59
145 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische
148 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der
149 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes 89
151 %Literarische Anmerkungen 104
156 \Chapter{I
}{Einleitung.
}
159 Die
\name{Einstein
}sche Relativitätstheorie hat die philosophischen
160 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung
161 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu
162 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie
163 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als
164 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in
165 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie
166 nur Behauptungen über
\emph{physikalische
} Meßbarkeitsverhältnisse
167 und physikalische
\emph{Größenbeziehungen
} auf
168 -- aber es muß durchaus zugegeben werden, daß diese
169 speziellen Behauptungen den allgemeinen
\emph{philosophischen
}
170 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen
171 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen
172 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen
173 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte
174 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;
175 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die
176 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer
177 physikalischen Annahmen gemacht.
179 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere
180 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.
181 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht
182 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse
183 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem
184 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist
185 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,
186 auch zu dem Zeitbegriff
\name{Kants
}. Man hat
188 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem
189 man die
\glqq{}physikalische Zeit
\grqq{} von der
\glqq{}phänomenologischen
190 Zeit
\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die
191 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis
} immer die irreversible
192 Folge blieb. Aber in
\name{Kants
} Sinne ist diese Trennung
193 sicherlich nicht. Denn für
\name{Kant
} ist es gerade das Wesentliche
194 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine
\emph{Bedingung
195 der Naturerkenntnis
} bildet, und nicht bloß
196 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er
197 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung
198 \glqq{}affizieren
\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,
199 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form
200 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente
201 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde
202 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische
203 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,
204 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts
205 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn
206 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände
207 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie
208 %sic: No name-markup on the next line - verified from scan
209 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.
211 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese
212 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde
213 nichts Geringeres behauptet, als
\emph{daß die euklidische
214 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden
215 dürfte
}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser
216 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit
217 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung
218 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung
219 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher
220 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich
221 evidenten Axiomen
\name{Euklids
} widersprechen.
223 \name{Riemann
} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in
224 analytischer Form begründet, in der der
\glqq{}ebene
\grqq{} Raum
225 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche
226 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen
227 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,
228 daß man sie als
\emph{anschaulich evident
} von den anderen
229 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen
230 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne
\name{Kants
} -- die
231 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung
232 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden
233 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie
234 auf einen Einwand gegen ihre rein
\emph{begriffliche
}
235 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der
236 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte
237 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die
238 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung
239 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden
240 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von
241 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der
242 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein
243 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über
244 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt
245 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches
246 Schema ersetzt werden könnte
\litref{1}. Gegenüber
247 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen
248 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken
249 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie
250 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen
251 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt
\emph{falsch
} wären.
252 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten
253 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,
254 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht
255 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung
257 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.
258 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie
259 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein
260 Zweifel, daß
\name{Kants
} transzendentale Ästhetik von der
261 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;
262 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer
263 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie
264 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität
265 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so
266 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der
\emph{Ungültigkeit
}
267 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.
269 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist
270 die Relativitätstheorie falsch, oder die
\name{Kant
}ische Philosophie
271 bedarf in ihren
\name{Einstein
} widersprechenden Teilen
272 einer Änderung
\litref{2}. Der Untersuchung dieser Frage ist die
273 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint
274 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,
275 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung
276 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung
277 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es
278 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos
279 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische
280 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir
281 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst
282 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,
283 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen
284 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen
285 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie
286 für ihre Behauptungen anführt
\litref{3}. Danach untersuchen
287 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,
288 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie
\name{Kants
} einschließt,
289 und indem wir diese den Resultaten unserer
290 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden
292 wir, in welchem Sinne die Theorie
\name{Kants
} durch
293 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann
294 eine solche Änderung des Begriffs
\glqq{}apriori
\grqq{} durchführen,
295 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr
296 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie
297 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine
298 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.
299 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische
305 \Chapter{II
}{Die von der speziellen Relativitätstheorie
306 behaupteten Widersprüche.
}
309 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt
310 das Wort apriori im Sinne
\name{Kants
} gebrauchen, also dasjenige
311 apriori nennen, was die Formen der Anschauung
312 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir
313 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche
314 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien
315 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche
316 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der
317 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die
\emph{Geltung
}
318 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori
319 nicht vorweggenommen sein
\litref{4}.
321 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese
322 Theorie auch heute noch als für
\emph{homogene
} Gravitationsfelder
323 gültig ansehen -- behauptet
\name{Einstein
}, daß das
324 \name{Newton-Galilei
}sche Relativitätsprinzip der Mechanik
325 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
326 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der
327 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen
328 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit
329 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.
330 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:
331 Auf welche Voraussetzungen stützen sich
\name{Einstein
}s
334 Das
\name{Galilei
}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein
336 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein
337 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen
338 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt
339 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil
340 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand
341 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende
342 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung
343 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische
344 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber
345 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits
\emph{änderungen
}
346 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung
347 kennen, an das Auftreten einer
\emph{Beschleunigung
} geknüpft
348 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren
349 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das
\name{Galilei
}sche
350 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
352 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form
353 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von
354 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig
355 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen
356 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik
357 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser
358 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form
359 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.
360 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,
361 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die
362 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte
363 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,
364 wie im alten, daß also der
\emph{Funktionalzusammenhang
}
365 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller
366 als die
\name{Galilei
}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung
367 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier
368 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen
369 an, bei welchen die Erhaltung des
371 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung
372 der Kraft
\emph{größen
} herbeigeführt wird. Daß es solche
373 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings
374 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische
375 \emph{Gesetz
}, und nicht nur die
\emph{Kraft
}, invariant gegen
376 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer
377 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen
378 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen
379 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist
380 durch die Verteilung und die Natur der
\emph{Dinge
}, und die
381 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang
382 haben kann. Für den
\name{Kant
}ischen Standpunkt, auf dem
383 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und
384 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die
385 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,
386 daß gegen die
\name{Galilei-Newton
}schen Gesetze
387 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von
388 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben
389 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs
390 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,
391 liegt für den Philosophen kein Grund vor;
392 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts
393 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch
394 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung
395 der Geschehnisse äquivalent sein.
\name{Mach
}
396 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken
397 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn
398 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand
399 hat
\name{Einstein
} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie
400 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal
401 genug sei. Erst
\name{Einstein
} selbst hat seiner Theorie diesen
402 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine
403 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die
\name{Kant
}ische
405 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend
406 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;
407 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht
408 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,
409 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik
410 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung
411 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern
412 lag, um von ihr erkannt werden zu können.
414 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische
415 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische
416 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als
417 \name{Einstein
} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung
\litref{5} zur
418 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,
419 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange
422 \name{Einstein
} ging davon aus, daß man, um in einem
423 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die
424 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter
425 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang
426 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu
427 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses
428 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann
429 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die
430 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an
431 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen
432 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung
433 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle
434 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition
435 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen
436 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,
437 also eine negative Auswahl treffen. In jeder
\glqq{}Koordinatenzeit
\grqq{}
438 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert
439 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die
441 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von
442 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme
445 Es ist keineswegs gesagt, daß diese
\emph{einfachste
} Annahme
446 auch
\emph{physikalisch zulässig
} ist. Sie führt z.\,B.,
447 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der
448 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),
449 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere
450 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens
451 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten
452 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition
453 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit
454 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit
455 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt
456 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit
457 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen
458 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.\,h. ob nicht
459 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden
460 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch
461 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als
462 Entscheidung darüber konnte der
\name{Michelson
}sche Versuch
463 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
464 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem
465 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen
466 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage
467 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit
468 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat
469 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung
470 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben
471 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete
472 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der
473 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste
474 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die
476 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall
477 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
479 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung
480 der speziellen Relativitätstheorie die empirische
481 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials
482 erhebt sich der tiefe Gedanke
\name{Einsteins
}:
\emph{daß
483 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese
484 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten
485 unmöglich ist
}. Auch die alte Definition einer
486 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:
487 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich
488 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung
491 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist
492 \name{Einstein
} eingewandt worden, daß seine Überlegungen
493 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln
494 niemals zu einer genauen
\glqq{}absoluten
\grqq{} Zeit kommen
495 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend
496 approximativen Messung müßte festgehalten
497 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die
\glqq{}absolute
\grqq{} Zeit
498 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit
499 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren
500 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung
501 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen
502 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht
503 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts
504 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei
505 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung
506 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,
507 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt
508 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei
509 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine
510 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip
512 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,
513 wie etwa
\name{Kant
} die Unzerstörbarkeit der Substanz
514 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten
515 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden
516 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige
517 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.
518 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten
519 eine obere Grenze nicht geben. Darüber
520 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist
521 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade
522 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur
523 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung
524 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie
525 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger
526 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar
527 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese
528 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht
529 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,
530 in denen z.\,B. die kinetische Energie eines Massenpunktes
531 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich
532 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,
533 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,
534 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere
535 Grenze der Temperatur zu unterschreiten
\Footnote{a
}
536 {Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur
537 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören
538 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen
539 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,
540 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.
541 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische
542 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.
}, kann auch
543 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch
544 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das
546 andere, aber es handelt sich hier gerade um das
\emph{physikalisch
547 Erreichbare
}. Wenn ein physikalisches Gesetz
548 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze
549 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die
\glqq{}absolute
\grqq{}
550 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des
551 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von
552 einer
\glqq{}idealen Zeit
\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe
553 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch
554 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch
555 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten
\litref{6}).
557 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip
558 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur
559 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten
560 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),
561 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute
562 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch
563 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide
564 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,
565 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der
566 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten
567 ist aber eine empirische Angelegenheit
568 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von
569 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem
570 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare
571 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip
572 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken
573 vollzieht dabei
\name{Einsteins
} Entdeckung, daß die
574 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung
575 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden
578 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls
579 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit
580 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die
582 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.
583 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert
584 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit
585 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.
586 Allerdings wird sich der experimentelle
587 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit
588 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen
589 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir
590 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze
591 ist, z.\,B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung
592 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische
593 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit
594 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;
595 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch
596 der
\name{Michelson
}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn
597 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des
598 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.
599 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine
600 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den
601 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste
602 Extrapolation verwendet, das
\emph{Prinzip der
603 normalen Induktion
} nennen. Allerdings verbirgt sich
604 hinter dem Begriff
\emph{\glqq{}wahrscheinlichste Extrapolation
\grqq{}}
605 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf
606 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die
607 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen
608 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl
609 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden
610 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches
611 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.
612 Denken wir uns z.\,B. die Werte der kinetischen Energie
613 des Elektrons für Geschwindigkeiten von
0--
99\% der
614 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und
616 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die
617 sich bei
100\% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.
618 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve
619 zwischen
99\% und
100\% noch einen Knick macht,
620 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins
621 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der
622 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,
623 den
\name{Michelson
}schen Versuch eingerechnet, nicht
624 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten
625 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer
626 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,
627 um seinen aprioren Charakter im Sinne des
628 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im
629 Abschnitt
\chapref{VI
} auf die erkenntnistheoretische Stellung
630 dieses Prinzips näher eingehen.
632 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,
635 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
636 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität
637 \item Prinzip der Nahewirkung
638 \item Prinzip des approximierbaren Ideals
639 \item Prinzip der normalen Induktion
640 \item Prinzip der absoluten Zeit
642 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar
643 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit
644 gleichem Recht
\emph{apriore
} Prinzipien nennen. Zwar sind
645 sie nicht alle von
\name{Kant
} selbst als apriori genannt. Aber
646 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem
647 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,
648 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir
649 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit
650 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen
652 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere
653 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige
654 dieser Prinzipien, z.\,B. das der Nahewirkung, bestritten
655 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen
656 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien
657 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das
658 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung
659 besonders aufführten, in ihnen nochmals
662 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen
663 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum
\emph{Kausalprinzip
}
664 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität
665 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale
666 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann
667 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema
668 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten
671 \name{Minkowski
} hat den
\name{Einstein
}schen Gedanken eine
672 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer
673 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_
{4}$-Koordinate
674 durch $x_
{4} = i c t$ und leitet die Lorentztransformation
675 aus der Forderung ab, daß das Linienelement
676 der
4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
678 \diff{s
}^
{2} =
\sum_{1}^
{4} \diff{x_
\nu}^
{2}
680 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen
681 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören
682 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip
683 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als
684 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
685 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen
688 \emph{Relativität aller orthogonalen
689 Transformationen in der Minkowski-Welt
}. Die
690 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam
691 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der
692 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene
693 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern
694 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird
695 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem
696 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen
697 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für
698 die einzelnen Systeme verschieden wäre.
700 Man muß jedoch beachten, daß das
\name{Minkowski
}sche
701 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare
702 Formulierung der
\name{Einstein
}schen Gedanken. An deren
703 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie
704 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,
705 denn die Einführung der vierten Koordinate
706 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet
707 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit
708 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind
709 raumartige und zeitartige Vektoren in der
\name{Minkowski
}-Welt
710 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch
711 mögliche Transformation ineinander überführen.
713 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine
714 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen
715 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen
716 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen
717 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.
718 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
719 das in unseren Überlegungen eine so
720 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben
723 Nach
\name{Einsteins
} zweiter Theorie gilt die spezielle
724 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen
726 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.\,B. die
727 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so
728 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
729 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle
730 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt
731 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall
732 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung
733 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die
734 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.
735 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,
736 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,
737 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß
738 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere
739 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn
740 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener
741 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier
742 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen
743 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch
744 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber
745 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten
746 als $c =
3 \cdot 10^
{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die
747 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit
748 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
750 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld
751 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,
752 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge
753 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.
754 Für jedes Volumelement des Raumes hat $c$ einen bestimmten
755 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang
756 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat
757 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten
758 $c =
3 \cdot 10^
{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem
759 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller
761 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,
762 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer
\emph{oberen
763 Grenze
}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein
764 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach
765 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt
766 also unsere vorher angewandte Betrachtung
767 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
769 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich
770 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht
771 von einer
\emph{allmählichen Annäherung
} an eine absolute
772 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht
773 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren
774 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom
775 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens
776 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl
777 $c >
3 \cdot 10^
{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die
778 absolute Zeit beliebig genau wird?
780 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl $c$ für das gewählte
781 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung
782 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,
783 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos
784 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,
785 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen
786 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß
787 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements
788 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und
789 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren
790 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht
791 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen
792 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung
793 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der
794 größeren Konstanten $c$ als eine Genauigkeitssteigerung
795 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die
797 Konstante $c$ einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur
798 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst
799 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit
800 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig
801 erschiene es allein, den Wert von $c$ festzuhalten, etwa (wie es
802 vielfach geschieht) $c =
1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,
803 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
805 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge
806 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn
807 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit
808 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung
809 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne
810 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine
811 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich
812 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit
813 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;
814 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des
815 Raumes. Die Größe $c$ ist aber nicht eine Funktion bestimmter
816 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines
817 \emph{universalen Zustands
}, und alle Meßmethoden sind
818 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,
819 daß innerhalb jedes Universalzustands eine
820 obere Grenze $c$ für jedes Volumelement existiert, bleibt
821 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch
822 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man
823 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die
824 allgemeine einordnet.
826 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um
827 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen
828 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die
829 \emph{Geltung
} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes
830 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.
835 \Chapter{III
}{Die von der allgemeinen Relativitätstheorie
836 behaupteten Widersprüche.
}
839 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie
840 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die
841 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.
842 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,
843 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum
844 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?
846 \name{Einstein
} sagt in seiner grundlegenden Schrift:
\glqq{}Es
847 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die
848 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches
849 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.
850 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie
851 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit
852 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß
853 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung
854 möglichst gesichert erscheinen
\litref{7}.
\grqq{}
856 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,
857 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung
858 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine
859 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an
860 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft
861 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,
862 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem
863 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden
864 wir finden, daß
\name{Einsteins
} Darstellung in Wahrheit eine
865 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden
869 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen
870 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität
871 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen
872 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher
873 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen
874 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen
877 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von
878 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.
879 In diesem Koordinatensystem ist dann das
880 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß
881 dann das vierdimensionale Linienelement
883 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 \diff{x_
\nu}^
2
885 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale
886 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch
887 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich
888 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird
889 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,
890 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:
892 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 g_
{\mu\nu} \diff{x_
\mu} \diff{x_
\nu}.
895 Dieser Ausdruck ist nach
\name{Gauß
} und
\name{Riemann
}
896 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie
\Footnote{b
}
897 {Wir gebrauchen hier das Wort
\glqq{}euklidisch
\grqq{} für die vierdimensionale
898 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen
899 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen
900 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen
901 Raum, denn wenn die erstere eine
\name{Riemann
}sche Krümmung aufweist,
902 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch
903 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die
904 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten
\name{Erwin Freundlich
},
\Anmerkung{%
907 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_
{\mu\nu}$ drücken sich
908 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems
909 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung
910 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld
911 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für
912 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang
913 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld
914 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten
915 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß
916 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat
\name{Einstein
} den
917 Schluß gezogen, daß
\emph{jedes
} Gravitationsfeld, nicht bloß
918 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung
919 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.
921 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine
922 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;
923 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der
924 \name{Einstein
}schen Extrapolation geführt haben.
926 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch
927 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen
928 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,
929 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen
930 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.
931 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit
932 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:
933 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß
934 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit
935 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine
936 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.\,B. daß
937 das
\name{Riemann
}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall
938 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar
939 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur
940 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale
941 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische
943 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche
944 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann
945 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen
946 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten
947 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme
948 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen
949 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige
950 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des
951 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum
952 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes
953 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen
954 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber
955 bleibt dabei gleich Null.
957 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung
958 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.
959 Wenn also die
\name{Einstein
}sche Theorie, indem sie von
960 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen
961 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer
962 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich
963 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet
964 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,
965 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir
966 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.
967 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch
968 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische
969 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte
970 Raum das Krümmungsmaß Null behält.
972 Auch das von
\name{Einstein
} angeführte Beispiel der rotierenden
973 Kreisscheibe
\litref{8} kann eine so weitgehende Verallgemeinerung
974 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings
975 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender
976 Beobachter für den Quotienten aus Umfang
977 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als $
\pi$
979 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem
980 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber
981 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate
982 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von
983 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das
984 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit
985 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --
986 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge
987 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine
988 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was
989 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).
990 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,
991 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des
992 Sonnensystems, das für die
\name{Newton
}schen Gleichungen
993 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe
994 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß
997 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie
998 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als
999 die
\name{Einstein
}sche. Wir wollen folgende Forderungen an
1002 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in
1003 die spezielle Relativitätstheorie;
1005 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer
1006 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.
1008 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden
1009 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.\,B.
1010 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem
1011 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des
1012 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken
1013 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem
1014 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante
1016 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich
1017 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen
1018 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;
1019 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß
1020 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen
1021 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.
1022 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das
1023 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen
1024 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung
1025 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten
1026 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen
1027 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und
1028 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene
1029 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische
1032 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von
\name{Einstein
}
1033 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang
1034 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a
1035 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei
\emph{festgehaltenem
1036 Raumgebiet
} die Feldstärken in den verschiedenen
1037 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch
1038 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß
1039 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;
1040 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir
1041 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in
1042 der Weise vollziehen, daß wir
\emph{bei festgehaltener Feldstärke
}
1043 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.
1044 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes
1045 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende
\name{Einstein
}sche
1046 Voraussetzung für die Extrapolation machen:
1048 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich
1049 kleine Gebiete übergehen in die spezielle
1050 Relativitätstheorie.
1053 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b
1056 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld
1057 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend
1058 homogen betrachten dürfen. Dort können wir
1059 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die
1060 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem
1061 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar
1062 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme
1063 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.
1064 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes
1065 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen
1066 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen
1067 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören
1068 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit
1069 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch
1070 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$
1071 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c
1072 mit Forderung b nicht vereinbar.
1074 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen
1075 Relativitätstheorie nach der
\name{Einstein
}schen Forderung c
1076 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie
1077 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes
1078 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen
1079 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl
1080 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die
1081 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des
1082 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.
1084 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits
1085 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die
1086 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation
1087 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt
1088 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit
1090 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die
1091 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine
1092 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,
1093 daß also der
\emph{Raum homogen
} ist; denn nur unter dieser
1094 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine
1095 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn
1096 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.
1097 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,
1098 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung
1099 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten
1100 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,
1101 so daß doch keine Annäherung an die spezielle
1102 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den
1103 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens
1104 beruht die Forderung c auf dem
\name{Einstein
}schen Äquivalenzprinzip,
1105 denn sie besagt, daß
\emph{jedes
} homogene Gravitationsfeld,
1106 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,
1107 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier
1108 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.
1109 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die
1110 Gleichheit von schwerer und träger Masse für
\emph{jedes
}
1111 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch
1112 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment
1113 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.
1114 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche
1115 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.
1117 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und
1118 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien
1119 im
\name{Kant
}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,
1120 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden
1121 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c
1122 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse
1123 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß
1125 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf
1126 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da
1127 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität
1128 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,
1129 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die
1130 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch
1131 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen
1132 Fall in die spezielle übergeht, die
\emph{Stetigkeit der Gesetze
},
1133 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen
1134 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie
1135 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen
1136 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie
1137 folgende Prinzipien als
\emph{gemeinsam unvereinbar mit
1138 der Erfahrung
} nachgewiesen hat.
1141 \item Prinzip der speziellen Relativität
1142 \item Prinzip der normalen Induktion
1143 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz
1144 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze
1145 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen
1146 \item Prinzip der Homogenität des Raumes
1147 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.
1150 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar
1151 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und
1152 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,
1153 mit Ausnahme des ersten, apriori im
\name{Kant
}ischen
1154 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches
1155 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden
1156 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.
1158 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das
1159 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.
1160 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir
1161 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch
1162 der
\name{Einstein
}sche Raum noch besitzt.
1165 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der
\name{Einstein
}schen
1166 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr
1167 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,
1168 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen
1169 wird.
\name{Riemann
} nennt diese Eigenschaft:
1170 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen
\grqq{}. Sie drückt sich analytisch
1171 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements
1172 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl
1173 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das
1174 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.
1175 Man kann also ein Koordinatensystem immer so
1176 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet
1177 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß
1178 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld
1179 immer
\glqq{}wegtransformieren
\grqq{} kann, wie auch das Feld
1180 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied
1181 zwischen den durch Transformation erzeugten und
1182 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der
1183 Inhalt der
\name{Einstein
}schen Äquivalenzhypothese für die
1184 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese
1185 Hypothese der Grund für die quadratische Form des
1186 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen
1187 hat danach ihren
\emph{physikalischen
} Grund. Würden die
1188 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für
1189 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa
1190 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde
1191 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes
1194 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen
1195 Form für das Linienelement auch folgendermaßen
1196 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen
1197 $g_
{\mu\nu}$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der
1198 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig
1200 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,
1201 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen
1202 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der
1203 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die
1204 metrischen Funktionen $g_
{\mu\nu}$ gilt also
\emph{keine
} Relativität,
1205 d.\,h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man
1206 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn
1207 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem
1208 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in
1209 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen
1210 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie
1211 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese
1212 Eigenschaft
\glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten
\grqq{}
1213 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die
1214 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.
1215 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für
1216 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere
1217 Formen, z.\,B. den Differentialausdruck vierten Grades,
1218 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der
1219 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die
1220 \name{Einstein
}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in
1221 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb
1222 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische
1223 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer
1224 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.
1229 \Chapter{IV
}{Erkenntnis als Zuordnung.
}
1232 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie
1233 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie
1234 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,
1235 den Sinn des Apriori zu formulieren.
1237 Es ist das Kennzeichen der modernen
\emph{Physik,
} daß
1238 sie alle Vorgänge durch
\emph{mathematische
} Gleichungen
1239 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf
1240 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.
1241 Für den mathematischen Satz bedeutet
\emph{Wahrheit
}
1242 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen
1243 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas
1244 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.
1245 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der
1246 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute
1247 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur
1248 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese
1249 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der
1250 beiden Wissenschaften.
1252 Der
\emph{mathematische Gegenstand
} ist durch die
1253 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig
1254 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie
1255 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten
1256 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede
1257 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er
1258 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.
1259 Und durch die Axiome: denn sie geben die
1261 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen
1262 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe
1263 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen
1264 definiert. Wenn
\name{Hilbert
}\litref{9} unter seine Axiome der
1265 Geometrie den Satz aufnimmt:
\glqq{}unter irgend drei
1266 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,
1267 der zwischen den beiden andern liegt
\grqq{}, so ist dies ebensowohl
1268 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte
1269 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation
1270 \glqq{}zwischen
\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine
\emph{erschöpfende
}
1271 Definition. Aber die Definition wird vollständig
1272 durch die Gesamtheit der Axiome. Der
\name{Hilbert
}sche
1273 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was
1274 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.
1275 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c
\ldots{} an Stelle
1276 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,
1277 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten
1278 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,
1279 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die
1280 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch
1281 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,
1282 und obgleich unsere Anschauung mit beiden
1283 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und
1284 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,
1285 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache
1286 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz
1287 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich
1288 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche
1289 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,
1290 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß
1291 eine Beziehung auf
\glqq{}absolute Definitionen
\grqq{} nötig wäre,
1292 ist von
\name{Schlick
}\litref{10} in der Lehre von den impliziten Definitionen
1293 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese
1295 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit
1296 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.
1298 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,
1299 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.
1300 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung
1301 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich
1302 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,
1303 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten
1304 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.
1305 \name{Schlick
} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine
1306 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht
1307 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen
1308 empirischen Ungenauigkeiten ist.
1310 Für den
\emph{physikalischen Gegenstand
} aber ist eine
1311 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der
1312 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.
1313 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des
1314 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen
1315 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,
1316 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie
1317 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung
1318 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen
1319 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was
1320 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System
1321 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt
1322 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,
1323 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß
1324 dies System von Gleichungen
\emph{Geltung für die Wirklichkeit
}
1325 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als
1326 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir
1327 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen
1328 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die
1329 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des
1331 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die
\emph{einzelnen
}
1332 Dinge den
\emph{einzelnen
} Gleichungen. Dabei ist das
1333 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als
1334 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,
1335 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur
1336 \glqq{}Kugel
\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und
1337 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe
1338 der Zuordnung vollziehend, als
\glqq{}Wahrnehmungsbilder der
1339 Erde
\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem
\name{Boile
}schen
1340 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p
\cdot V = R
\cdot T$
1341 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte
1342 (z.\,B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte
1343 (z.\,B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen
1344 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung
1345 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist
1346 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine
1347 Metaphysik hinweg zu interpretieren.
1349 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen
1350 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet
1351 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.
1352 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie
1353 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen
1354 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.
1355 Dazu müssen aber die Elemente jeder der
1356 Mengen
\emph{definiert
} sein; d.\,h. es muß für jedes Element
1357 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die
1358 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese
1359 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen
1360 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,
1361 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber
1362 für das
\glqq{}Wirkliche
\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.
1363 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst
1364 durch die Zuordnung zu Gleichungen.
1367 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen
1368 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge
1369 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa
1370 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu
1371 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst
1372 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl
1373 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt
1374 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder
1375 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem
1376 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,
1377 welcher von ihnen
\glqq{}rechts
\grqq{}, welcher
\glqq{}links
\grqq{} liegt. Aber
1378 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden
1379 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen
1380 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der
1381 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst
1382 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem
1383 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er
1384 zu der zugeordneten Untermenge gehört; um das festzustellen,
1385 müssen wir erst nach einer Methode, die durch
1386 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine
1387 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung
1388 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge
1389 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das
1390 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn
1391 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene
1392 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die
1393 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung
1394 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen
1395 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.
1396 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer
1397 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem
1398 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte
1399 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen
1401 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben
1402 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die
1403 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb
1404 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man
1405 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der
1406 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt
1407 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende
1408 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen
1409 angegeben sind. So kann man fordern, daß
1410 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter
1411 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt
1412 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen
1413 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die
1414 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung
1415 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden
1416 worden sind, ist durch die diskrete Menge und
1417 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den
1418 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung
1419 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber
1420 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen
1421 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen
1422 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben
1425 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer
1426 noch von der Zuordnung, die im
\emph{Erkenntnisprozeß
}
1427 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die
\emph{Obermenge
}
1428 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.
1429 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft
1430 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,
1431 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;
1432 von letzterer z.\,B. in der Forderung, daß dem
1433 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden
1434 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für
1436 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben
1437 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber
1438 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist
1439 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,
1440 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal
1441 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was
1442 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst
1443 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,
1444 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten
1445 eine Größe
\glqq{}Länge
\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht
1446 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.
1447 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir
1448 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,
1449 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre
1450 Ordnung erhält, sondern
\emph{in ihren Elementen erst
1451 durch die Zuordnung definiert wird
}.
1453 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung
1454 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,
1455 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung
1456 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element
1457 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben
1458 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers
1459 als solches Element auf, so geraten wir deshalb
1460 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr
1461 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.\,B. auf dem Manometer
1462 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies
1463 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,
1464 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,
1465 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem
1466 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,
1467 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen,
\glqq{}das Wesentliche
1468 vom Unwesentlichen scheiden
\grqq{}; aber das ist bereits
1469 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen
1471 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn
1472 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.
1473 Man könnte vermuten, daß etwa die
\emph{zeitliche Aufeinanderfolge
}
1474 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite
1475 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.
1476 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil
1477 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung
1478 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen
1479 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge
1480 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über
1481 den
\glqq{}wirklichen
\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert
1482 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,
1483 z.\,B. muß die physikalische Natur der Uhren,
1484 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der
1485 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete
1486 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung
1487 brauchbaren Ordnungssinn.
1489 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes
1490 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge
1491 der wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen
1492 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein
1493 Erkenntnisurteil, d.\,i. aber ein Zuordnungsprozeß, kann
1494 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines
1495 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem
1496 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.
1497 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der
1498 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die
1499 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen
1500 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was
1501 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine
\emph{Definition
}
1502 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.
1504 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten
1505 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die
1507 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge
1508 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte
1509 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß
1510 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre
1511 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst
1512 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.
1514 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem
1515 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man
1516 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen
\glqq{}wirklich
\grqq{}
1517 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein
1518 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so
1519 die Auffassung des
\name{Berkeley
}schen Solipsismus und in
1520 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.
1521 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.
1522 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre
1523 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur
1524 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich
1525 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,
1526 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise
1527 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung
1528 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren
1529 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge
1530 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt
1531 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten
1532 Seite vorschreibt.
\emph{In dieser Wechselseitigkeit der
1533 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen
1534 aus
}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von
1535 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.
1536 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene
1537 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns
1538 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu
1541 Hier erhebt sich die Frage: Worin besteht denn die
1543 Auszeichnung der
\glqq{}richtigen
\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet
1544 sie sich von der
\glqq{}unrichtigen
\grqq{}? Nun, dadurch,
1545 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden
1546 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.
1547 Berechnet man etwa aus der
\name{Einstein
}schen Theorie
1548 eine Lichtablenkung von $
1,
7^
{\prime\prime}$ an der Sonne, und würde
1549 man an Stelle dessen $
10^
{\prime\prime}$ finden, so ist das ein Widerspruch,
1550 und solche Widersprüche sind es allemal, die über
1551 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun
1552 ist die Zahl $
1,
7^
{\prime\prime}$ auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen
1553 an anderem Material gewonnen; die Zahl $
10^
{\prime\prime}$
1554 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs
1555 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe
1556 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente
1557 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und
1558 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis
1559 die Zahl
1,
7 zuordnet, die andere die Zahl
10, und dies
1560 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend
1561 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen
1562 wir
\emph{wahr
}.
\name{Schlick
} hat deshalb ganz recht, wenn er
1563 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert
}\litref{11}.
1564 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe
1565 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine
1566 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;
1567 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten
1568 Erfahrungswissenschaft durch
\name{Galilei
} und
\name{Newton
} und
1569 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch
\name{Kant
} als unbedingter
1570 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß
1571 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im
1572 Erkenntnisprozeß zukommt.
\emph{Die Wahrnehmung liefert
1573 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung
}.
1574 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande
1575 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber
1577 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer
1578 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen
1579 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind
1580 nämlich gar keine Täuschung der
\emph{Sinne
}, sondern der
1581 \emph{Interpretation
}; daß auch in der Halluzination die
1582 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,
1583 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die
1584 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen
1585 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist
1586 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb
1587 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde
1588 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,
1589 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer
1590 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein
1591 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang
1592 zurückführen will, denn ich beobachte auf der
1593 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung
1594 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den
1595 einer physiologischen Theorie, so entsteht
\emph{kein
} Widerspruch,
1596 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr
1597 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage
1598 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung
1599 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung
1600 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also
1601 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft
1602 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist
1603 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.
1605 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte
1606 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von
1607 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen
1608 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort
1609 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der
1610 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte
1612 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe
1613 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu
1614 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls
1615 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene
1616 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für
1617 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,
1618 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen
1619 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,
1620 die dies leistet, immer dieselben Elemente der
1621 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.
1622 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit
1623 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt
1624 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit
1625 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren
1626 deshalb:
\emph{Eindeutigkeit
} heißt für die Erkenntniszuordnung,
1627 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung
1628 aus
\emph{verschiedenen Erfahrungsdaten
} durch
1629 \emph{dieselbe Messungszahl
} wiedergegeben wird.
1631 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße
1632 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an
1633 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die
1634 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen
1635 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine
1636 Behauptung der Kausalität
\Footnote{c
}
1637 {Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft
1638 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein
1639 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,
1640 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint
1641 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht
1642 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt
1643 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte
1644 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.
1645 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation
1646 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität
1647 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.
}. Auch wenn sie nicht
1649 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;
1650 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung
1651 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen
1652 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,
1653 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,
1654 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings
1655 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert
1656 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und
1657 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet
1658 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier
1659 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,
1660 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener
1661 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.
1663 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig
1664 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man
1665 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie
1666 bedeutet nichts anderes als die
\name{Kant
}ische Frage: Wie ist
1667 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe
1668 sein, die Antwort, die
\name{Kant
} auf diese Frage gab, mit den
1669 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu
1670 untersuchen, ob die
\name{Kant
}ische Antwort sich heute noch
1671 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,
1672 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort
1673 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie
1674 geben kann, die an ihr vorbeigeht.
1676 Was bedeutet das Wort
\glqq{}möglich
\grqq{} in dieser Frage?
1677 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch
1678 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er
1679 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht
1680 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen
1681 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier
1682 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet
1683 die Frage nach den logischen Bedingungen der
1685 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß
1686 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst
1687 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über
1688 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge
1689 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung
1690 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,
1691 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne
1692 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen
1693 Frage diese Form geben:
\emph{Mit welchen Prinzipien wird
1694 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
1697 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,
1698 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien
1699 charakterisieren. Denn sie bedeuten
1700 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori
\name{Kants
}.
1705 \Chapter{V
}{Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite
1706 Voraussetzung Kants.
}
1709 Der Begriff des Apriori hat bei
\name{Kant
} zwei verschiedene
1710 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie
\glqq{}apodiktisch
1711 gültig
\grqq{},
\glqq{}für alle Zeiten gültig
\grqq{}, und zweitens bedeutet
1712 er
\glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend
\grqq{}.
1714 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.
1715 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,
1716 ist nach
\name{Kant
} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung
1717 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den
1718 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch
1719 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,
1720 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt
1721 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in
1722 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der
1723 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter
1724 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in
1725 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls
1726 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche
1727 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand
1728 der Wissenschaft ist also nicht ein
\glqq{}Ding an sich
\grqq{},
1729 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung
1730 basiertes Bezugsgebilde.
1732 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den
1733 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,
1734 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß
1735 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element
1736 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,
1738 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der
1739 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht
1740 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart
1741 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe
1742 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren
1743 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.
1744 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der
1745 Erfahrung bezeichnen.
\name{Kant
} nennt als solche Schemata
1746 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen
1747 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen
1748 für die eindeutige Zuordnung sind.
1750 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls
1751 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die
1752 zentrale Stellung, die er seit
\name{Kant
} in der Erkenntnistheorie
1753 inne hat. Es war die große Entdeckung
\name{Kants
},
1754 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin
1755 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente
1756 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten
1757 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt
1758 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur
1759 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte
1760 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht
1761 \name{Kant
} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar
1762 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der
1763 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.
1765 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und
1766 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu
1767 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht
1768 unzweckmäßig, sich die
\name{Kant
}ische Lehre in mehr anschaulicher
1769 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit
1770 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken
1771 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß
1772 die
\name{Kant
}ischen Begriffsbildungen einer mehr von
1774 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten
1775 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser
1776 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.
1777 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe
1780 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in
1781 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen
1782 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie
1783 es vor uns steht; es hat keinen Sinn, dieses Sein noch
1784 näher definieren zu wollen, denn was
\glqq{}wirklich
\grqq{} bedeutet,
1785 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung
1786 bleiben Analogien oder sind Darstellungen für den
\emph{begrifflichen
1787 Ausdruck
} dieses Erlebnisses. Die Wirklichkeit
1788 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit
1789 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur
1790 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche
1791 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem
1792 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert
1793 wird, was in dem
\glqq{}Kontinuum
\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding
1794 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang
1795 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes
1796 Einzelding
\glqq{}in Wirklichkeit da ist
\grqq{}.
1798 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei
1799 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,
1800 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem
1801 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst
1802 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch
1803 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich
1804 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene
1805 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion
1806 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man
1807 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man
1808 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei
1810 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,
1811 die von der Definiertheit der Elemente auf
\emph{beiden
} Seiten
1812 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer
1813 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes
1814 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,
1815 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den
1816 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder
1817 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre
1818 z.\,B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) =
0$
1819 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies
1820 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen
1821 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung
1822 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,
1823 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und
1824 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.
1825 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter
1826 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.
1827 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,
1828 daß man für jeden Wert $z = p =
\mathrm{konst.
}$ eine Kurve
1829 $f(x, y, p) =
0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige
1830 Funktion $
\varphi (x, z) = p^
\prime =
\mathrm{konst.
}$ annehmen und $p^
\prime$ als Parameter
1831 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von
1832 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut
1833 ein Bild der Funktion $f(x, y, z)$ wie die erste. Man
1834 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser
1835 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser
1836 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen
1837 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also
1838 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der
1839 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu $f(x, y, z)$
1840 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters
1841 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine
1842 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei
1844 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,
1845 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur
1846 auf die
\emph{eine
} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem
1847 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem
1850 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente
1851 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und
1852 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien
1853 der ersten Art geben, sondern nur solche, die
1854 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen
1855 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen
1856 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art
1857 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große
1858 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen
1859 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber
1860 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses
1861 überhaupt, und hängt damit zusammen,
1862 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes
1863 bedeutet als eine Beziehung auf
\glqq{}dasselbe
\grqq{} Element der
1864 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung
1865 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert
1866 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für
1867 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für
1868 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung
1869 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der
1870 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie
1871 \emph{konstitutiv
} für den wirklichen Gegenstand; in
\name{Kants
}
1872 Worten:
\glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein
1873 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann
\grqq{}\litref{12}.
1875 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip
1876 genannt, welches definiert, wann
1877 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten
1878 anzusehen sind
\litref{13}. (Man denke etwa an eine
1880 Verteilung nach dem
\name{Gauß
}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip
1881 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,
1882 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch
1883 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen
1884 dient; es definiert die physikalische Konstante.
1885 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip
\litref{14},
1886 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen
1887 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in
1888 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch
1889 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn
1890 sie besagen z.\,B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt
1891 definieren. Für die alte Physik war auch
1892 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn
1893 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne
1894 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten
1895 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie
1896 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,
1897 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen
1898 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese
1899 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung
1900 sind und ihr als
\emph{Zuordnungsaxiome
} vorangestellt
1901 werden können, unterscheiden sie sich von den
1902 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man
1903 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives
1904 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen
1905 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen
1906 enthalten aber immer noch spezielle mathematische
1907 Operationen; so geben die
\name{Einstein
}schen Gravitationsgleichungen
1908 an, in welcher speziellen mathematischen
1909 Beziehung die physikalische Größe $R_
{ik
}$ zu den
1910 physikalischen Größen $T_
{ik
}$ und $g_
{ik
}$ steht. Wir wollen sie
1911 deshalb
\emph{Verknüpfungsaxiome
} nennen
\litref{15}. Die Zuordnungsaxiome
1912 unterscheiden sich von ihnen dadurch,
1914 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,
1915 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen
1916 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen
1917 die Axiome der Arithmetik als Regeln der
1918 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien
1921 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig
1922 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen
1923 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an
1924 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher
1925 Weise gebunden. Wenn wir z.\,B. ein bestimmtes
1926 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,
1927 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand
1928 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen
1929 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen
1930 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive
1931 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs
\Footnote{d
}
1932 {Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der
1933 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen
1934 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die
1935 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.
}.
1936 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,
1937 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch
1938 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als
1939 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang
1940 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis
1941 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber
1942 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,
1943 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche
1944 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der
1945 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch
1946 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so
1947 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte
1949 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten
1952 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,
1953 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.
1954 Definieren wir einmal
\glqq{}apriori
\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung
1955 als
\glqq{}Gegenstand konstituierend
\grqq{}. Wie folgt
1956 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,
1957 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?
1959 \name{Kant
} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die
1960 menschliche Vernunft, d.\,i. der Inbegriff von Verstand
1961 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.
1962 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach
1963 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit
1964 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist
1965 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande
1966 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis
1967 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese
1968 apodiktische Gültigkeit.
1970 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht
1971 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch
1972 \emph{Erfahrungen
} eine Änderung der menschlichen Vernunft
1973 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft
1974 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren
1975 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und
1976 für
\name{Kant
} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,
1977 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive
1978 Prinzipien benutzen als wir
\litref{16}; damit ist natürlich
1979 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische
1980 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,
1981 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft
1982 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet.
\name{Kant
}
1983 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie
1984 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine
1986 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft
1987 und ihrer Ordnungsprinzipien durch
\emph{Erfahrungen
}; in
1988 diesem Sinne ist das
\glqq{}apodiktisch gültig
\grqq{} zu verstehen.
1990 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen
1991 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:
1992 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,
1993 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung
1994 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien
1995 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den
1996 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,
1997 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die
1998 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die
1999 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert.
\name{Kants
}
2000 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht
2001 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den
2002 Abschnitten
\chapref{II
} und
\chapref{III
} eine Reihe von Prinzipien apriori
2003 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach
2004 dem
\name{Kant
}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben
2005 würden. Wir durften dafür das Kriterium der
2006 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von
\name{Kant
} als
2007 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch
2008 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die
2009 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen
2012 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien
2013 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige
2014 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns
2015 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht
2016 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft
2017 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das
2018 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von
2019 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein
2020 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen
2022 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur
2023 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich
2024 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit
2025 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,
2026 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien
2027 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.
2029 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer
2030 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es
2031 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die
2032 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,
2033 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise
2034 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der
2035 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht
2036 alle verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf
2037 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,
2038 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie
2039 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme
2040 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur
2041 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen
2042 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich
2043 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht
2044 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System
2045 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme
2046 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel
2047 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung
2048 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene
2049 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.
2050 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die
2051 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System
2052 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,
2053 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich
2054 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.
2056 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht
2058 so einfach schließen. Wäre z.\,B. das Prinzipiensystem
2059 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze
2060 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System
2061 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen
2062 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung
2063 \name{Kants
}) deuten, daß es sich in dem evidenten
2064 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.
2065 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,
2066 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System
2067 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann
2068 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen
2069 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch
2070 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,
2071 die Wahrnehmung, von dem System ganz
2072 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl
2073 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn
2074 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir
2075 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,
2076 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst
2077 das euklidische System übernommen wird; daß durch das
2078 so gewonnene System kein Widerspruch entsteht, läßt
2079 sich erst durch den
\emph{konsequenten Ausbau dieser
2080 Geometrie
} feststellen. Freilich ist gerade das System
2081 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann
2082 hier nur der
\emph{Ausbau einer experimentellen Physik
}
2083 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,
2084 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,
2085 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.
2087 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich
2088 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte
2089 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen
2090 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer
2091 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip
2093 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt
2094 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten
2095 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien
2096 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert
2097 ein
\emph{System
}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht
2098 auskommen; und auch die
\name{Kant
}ische Philosophie hat
2099 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen
2100 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,
2101 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip
2102 enthält unter Umständen einen
\emph{Komplex
} von Gedanken,
2103 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe
2104 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem
\emph{unvollständigen
}
2105 System äquivalent ist.
2107 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;
2108 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine
2109 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung
2110 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn
2111 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der
2112 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen
2113 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit
2114 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die
2117 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir
2118 die Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre von der
2119 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig
2120 machen können.
\name{Kants
} Theorie enthält die Hypothese,
2121 daß es
\emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme
2122 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der
2123 Wirklichkeit gibt
}. Da diese Hypothese gleichbedeutend
2124 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit
2125 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu
2126 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
2127 kommen kann, wollen wir sie als
\emph{Hypothese
}
2129 \emph{der Zuordnungswillkür
} bezeichnen. Nur wenn sie
2130 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes
2131 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die
2132 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung
2133 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt
2134 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die
2135 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.
2140 \Chapter{VI
}{Widerlegung der Kantischen Voraussetzung
2141 durch die Relativitätstheorie.
}
2144 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte
\chapref{II
} und
\chapref{III
}
2145 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie
2146 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung
2147 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?
2148 Schließt nicht der
\name{Kant
}ische Beweis für die unbeschränkte
2149 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch
2152 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit
2153 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet
2154 wird, auf
\pagelink{S.
}{15} zusammengestellt. Wir haben
2155 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit
2156 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten
2157 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials
2158 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen
2159 der Dehnbarkeit des Begriffs
\glqq{}normal
\grqq{} ist das in gewissen
2160 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch
2161 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch
2162 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält
2163 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale
2164 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne
2165 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet
2166 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im
2167 Sinne
\name{Kants
}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die
2168 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines
2169 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven
2170 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.
2173 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse
2174 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach
2175 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf
\pagelink{S.
}{29}
2176 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet
2177 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr
2178 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip
2179 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses
2180 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten
2181 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,
2182 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt
2183 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung
2184 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt
2185 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente
2186 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den
2187 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu
2188 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,
2189 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.
2191 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf
2192 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die
2193 Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,
2194 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.
2195 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips
2196 für die Erkenntnis untersucht werden.
2198 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem
2199 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß
2200 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit
2201 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der
2202 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;
2203 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß
2204 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der
2205 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist
2206 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im
2207 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über
2209 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie
2210 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur
2211 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium
2212 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die
2213 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.
2214 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,
2215 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,
2216 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem
2217 Gedanken beruht der
\name{Kant
}ische Beweis für die Unabhängigkeit
2218 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.
2219 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage
2220 unmittelbar an diesen Beweis.
2222 \name{Kants
} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung
2223 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien
2224 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze
2225 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der
2226 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,
2227 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine
2228 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr
2229 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein
2230 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.
2232 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung
2233 zweier Fragen zurückführen.
2235 Ist es logisch
\emph{widersinnig
}, solche induktiven Deutungen
2236 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen
2237 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?
2239 Ist es logisch
\emph{zulässig
}, vor der induktiven Deutung
2240 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,
2241 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?
2243 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,
2244 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen
2245 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang
2247 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren
2248 der Physik, wie wir es im Abschnitt
\chapref{II
} geschildert
2249 haben, verstehen werden.
2251 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn
2252 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man
2253 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines
2254 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen
2255 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das
2256 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren
2257 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr
2258 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit
2259 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man
2260 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien
2261 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,
2262 daß das zu prüfende Prinzip bereits in
\emph{sämtlichen
} zur
2263 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.
2264 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des
2265 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.
2267 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir
2268 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht
2269 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.
2271 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage
2272 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein
2273 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es
2274 seien etwa Messungen zum
\name{Boile
}schen Gesetz ausgeführt,
2275 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe
2276 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte
2277 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen
2278 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen
2279 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$
2280 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch
2281 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen
2282 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.\,B. die
2284 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört
\Footnote{e
}
2285 {Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente
2286 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen
2287 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten
2288 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der
2289 Bezeichnungsweise.
}.
2290 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb
2291 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler
2292 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich
2293 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen
2294 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren
2295 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre
2296 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler
2297 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß
2298 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch
2299 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe
2300 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist
2301 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel
2302 $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende
2303 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen
2304 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die
2305 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur
2306 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende
2307 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man
2308 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen
2309 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings
2310 \emph{möglich
}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen
2311 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer
2312 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig
2313 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden
2314 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte
2315 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß
2316 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen
2318 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der
2319 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede
2320 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion
2321 festgehalten werden
\litref{18}.
2323 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn
2324 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.
2325 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,
2326 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip
2327 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der
2328 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle
2329 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,
2330 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar
2331 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische
2332 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.
2333 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen
2334 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst
2335 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn
2336 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so
2337 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als
2338 das Induktionsprinzip.
2340 Der
\name{Kant
}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus
2341 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien
2342 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie
2343 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen
2344 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort
2345 auf die
\name{Kant
}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in
2346 folgenden Satz zusammenfassen:
\emph{Es gibt Systeme von
2347 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der
2348 Zuordnung unmöglich machen, also implizit
2349 widerspruchsvolle Systeme.
} Wir bemerken nochmals,
2350 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,
2351 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen
2352 Physik möglich wurde. Hat man kein solches
2354 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung
2355 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu
2356 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip
2357 gesprochen werden könnte.
2359 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine
2360 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich
2361 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches
2362 durch
\emph{Evidenz
} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;
2363 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht
2364 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch
2365 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch
2366 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr
2367 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der
2368 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir
2369 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß
2370 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie
2371 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen
2372 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur
2373 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses
2374 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß
2375 Zuordnungsprinzipien in
\emph{jedem
} Gesetz enthalten sind,
2376 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen
2377 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische
2378 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,
2379 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,
2380 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.
2381 Wollte man z.\,B. versuchsweise den Raum als vierdimensional
2382 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser
2383 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung
2384 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität
2385 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle
2386 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in
2387 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts
2389 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren
2390 wäre aber
\emph{technisch unmöglich
}. Denn wir können
2391 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.
2393 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß
2394 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt
2395 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch
2398 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie
2399 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem
2400 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;
2401 und das Verfahren, welches
\name{Einstein
} dabei benutzt hat,
2402 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.
2404 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem
2405 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit
2406 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter
2407 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine
2408 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden
2409 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze
2410 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt
2411 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit
2412 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.
2413 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,
2414 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem
2415 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung
2416 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.
}
2417 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil
2418 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte
2419 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit
2420 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses
2421 induktive Verfahren als
\emph{Verfahren der stetigen Erweiterung
2424 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie
2425 ging. Als
\name{Eötvös
} die Gleichheit von
2427 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte
2428 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung
2429 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner
2430 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat
2431 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der
2432 \name{Riemann
}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper
2433 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie
2434 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,
2435 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen
2436 vernachlässigt werden können. Wenn z.\,B.
2437 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen
2438 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so
2439 braucht er deswegen noch nicht die
\name{Einstein
}sche Zeitkorrektion
2440 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem
2441 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,
2442 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis
2443 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie
2444 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld
2445 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung
2446 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb
2447 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion
2448 nach der üblichen Methode berechnen.
2449 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf
2450 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie
2451 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung
2452 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich
2453 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,
2454 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen
2455 liegen und darum als euklidisch angenommen
2458 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung
2459 den Kernpunkt für die Widerlegung der
\name{Kant
}ischen
2460 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur
2462 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern
2463 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und
2464 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,
2465 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.
2467 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,
2468 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür
2469 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung
\name{Kants
}
2470 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen
2471 mag.
\name{Kant
} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit
2472 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl
2473 bewußt, daß er einen
\emph{Beweis für diese Möglichkeit
}
2474 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,
2475 daß
\emph{Erkenntnis unmöglich
} wäre, und sah es für einen
2476 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit
2477 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den
2478 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden
2479 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier
2480 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum
2481 Gegenstand der Untersuchung gemacht.
\glqq{}Der Verstand
2482 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,
2483 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein
2484 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer
2485 gewissen Ordnung der Natur
\ldots{} Diese Zusammenstimmung
2486 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird
2487 von der Urteilskraft
\ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie
2488 der
\emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt
}.
2489 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für
2490 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche
2491 Ordnung zu entdecken
\litref{19}.
\grqq{} Es erscheint befremdend,
2492 daß
\name{Kant
}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit
2493 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an
2494 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der
2496 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem
2497 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten
2498 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,
2499 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den
2500 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der
2501 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht
2502 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie
2503 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven
2504 Prinzipien ändern muß, glaubte
\name{Kant
}, daß damit jede
2505 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche
2506 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene
2507 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,
2508 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung
2509 fortkommen und Erkenntnis erwerben können
\grqq{}. Erst das
2510 \name{Kant
} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung
2511 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein
2512 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens
2513 durch die Physik widerlegt werden.
2515 Wir müssen dieser Auflösung der
\name{Kant
}ischen Aprioritätslehre
2516 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.
2517 Es scheint uns der Fehler
\name{Kants
} zu sein, daß er, der mit
2518 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie
2519 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten
2520 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen
2521 der Erkenntnis suchte, so mußte er die
\emph{Erkenntnis
}
2522 analysieren; aber was er analysierte, war die
\emph{Vernunft
}.
2523 Er mußte
\emph{Axiome
} suchen, anstatt
\emph{Kategorien
}. Es ist
2524 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft
2525 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,
2526 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,
2527 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine
2528 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft
2529 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das
2531 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar
2532 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf
2533 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner
2534 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft
2535 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch
2536 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen
2537 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig
2538 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade
2539 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann
2540 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem
2541 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch
2542 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die
2543 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel
2544 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem
2545 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein
2546 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft
2547 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen
2548 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren
2549 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung
2550 des
\glqq{}gesunden Menschenverstandes
\grqq{}, jener
2551 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich
2552 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.
2554 In diesem Verfahren
\name{Kants
} scheint uns sein methodischer
2555 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig
2556 angelegte System der kritischen Philosophie nicht
2557 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden
2558 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die
2559 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller
2560 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen
2561 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung
2562 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht
2568 \Chapter{VII
}{Beantwortung der kritischen Frage durch die
2569 wissenschaftsanalytische Methode.
}
2572 Die Widerlegung des positiven Teils der
\name{Kant
}ischen
2573 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,
2574 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen
2575 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,
2576 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig
2577 von der
\name{Kant
}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und
2578 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine
2579 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der
2580 \name{Kant
}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur
2581 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit
2582 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung
2583 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?
2585 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der
\emph{wissenschaftsanalytischen
2586 Methode
} in die Erkenntnistheorie.
2587 Die von den positiven Wissenschaften in stetem
2588 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate
2589 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische
2590 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau
2591 der Axiomatik, die seit
\name{Hilberts
} Axiomen der Geometrie
2592 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen
2593 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche
2594 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar
2595 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes
2596 Verfahren gibt,
\emph{als festzustellen, welches die in der
2597 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien
2599 sind
}. Der Versuch
\name{Kants
}, diese Prinzipien aus der Vernunft
2600 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet
2601 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine
2602 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als
2603 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial
2604 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich
2605 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um
2606 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den
2607 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.
2609 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,
2610 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser
2611 bereits durchgeführt werden
\litref{20}. Sie führte zur Aufdeckung
2612 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für
2613 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der
2614 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der
2615 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie
2616 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer
2617 geleistet worden. Denn
\name{Einstein
} hat bei allen seinen
2618 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen
2619 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,
2620 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,
2621 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.
2622 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen
2623 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will
2624 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und
2625 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.
2626 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine
2627 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte
2628 \chapref{II
} und
\chapref{III
} dieser Untersuchung aufgefaßt werden.
2630 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied
2631 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist
2632 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit
2633 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein
2635 System von Regeln, nach dem ihre Begriffe unter sich
2636 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik
2637 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der
2638 \emph{Naturerkenntnis
}. Darum konnte auch die Axiomatik
2639 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische
2640 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie
2641 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,
2642 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge
2643 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.
2644 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie
2645 z.\,B.
\name{Weyl
} und auch
\name{Haas
}\litref{21}, wieder den Schluß ziehen
2646 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin
2647 zusammenwachsen. Die Frage der
\emph{Geltung
} von Axiomen
2648 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen
2649 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das
2650 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der
2651 \emph{Geltung
} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen
2652 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt
2653 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt
2654 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,
2655 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser
2656 Einwand muß der
\name{Weyl
}schen Verallgemeinerung der
2657 Relativitätstheorie
\litref{22} entgegengehalten werden, bei der
2658 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich
2659 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings
2660 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit
2661 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer
2662 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum
2663 muß die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt
2664 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre
2665 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik
2666 ist eben keine
\glqq{}geometrische Notwendigkeit
\grqq{}; wer das
2667 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt
2669 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.
2670 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine
2671 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die
2672 \name{Kant
}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern
2673 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.
2675 Der
\emph{Begriff des Apriori
} erfährt durch unsere
2676 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,
2677 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder
2678 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung
2679 der
\name{Kant
}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.
2680 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:
2681 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst
2682 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches
2683 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung
2684 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen
2685 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine
2686 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang
2687 mit anderen Gegenständen gemacht werden.
2688 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form
2689 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der
2690 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische
2691 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,
2692 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst
2693 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien
2694 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt
2695 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer
2696 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange
2697 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.
2699 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,
2700 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,
2701 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip
2702 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es
2703 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den
2705 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten
2706 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung
2707 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das
2708 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben
2709 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze
2710 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie
2711 leicht verfällt. Als man die dem
\name{Kant
}ischen
2712 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung
2713 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war
2714 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die
2715 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten
2716 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,
2717 denn
\name{Kant
} hatte gewiß mit der Substanz
2718 die Masse gemeint
\litref{23}. Aber man ist damit keineswegs
2719 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip
2720 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es
2721 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding
2722 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man
2723 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens
2724 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung
2725 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt
2726 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen
2727 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere
2728 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,
2729 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung
2730 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen
2731 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten
2732 \name{Kant
}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.
2733 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor
2734 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn
2735 wenn z.\,B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen
2736 der Koordinaten nicht invariant sind, muß
2737 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man
2739 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten
2740 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip
2741 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich
\emph{mit der
2742 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung
2743 begnügen
}. So wollen wir, nach der Niederlage der
\name{Kant
}ischen
2744 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht
2745 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und
2746 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung
2747 unter allen Umständen wenigstens die
\name{Riemann
}sche
2748 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß
2749 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts
2750 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags
2751 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom
2752 vierten Grade übergegangen ist. Die
\name{Weyl
}sche Theorie
2753 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der
\name{Einstein
}schen
2754 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch
2755 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.
2756 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar
2757 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge
2758 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der
2759 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer
2760 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß
2761 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung
2762 und gleiche Länge hat. In der
\name{Einstein-Riemann
}schen
2763 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche
2764 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der
\name{Weyl
}schen
2765 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.
2766 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert
2767 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich
2768 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die
2769 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch
2770 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge
2771 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.
2774 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige
2775 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen
2776 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten
2777 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,
2778 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt
2779 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese
2780 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter
2781 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten
2782 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen
2783 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie
2784 sie wieder aufgibt. Z.\,B. ist in der
\name{Weyl
}schen
2785 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche
2786 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem
2787 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit
2788 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.
2789 Nach der
\name{Weyl
}schen Theorie ist die Frequenz
2790 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man
2791 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß
2792 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen
2793 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.\,B. die
2794 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen
2795 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen
2796 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes
2797 solche Fälle nachweisen, wo die
\name{Weyl
}sche
2798 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.
2800 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der
2801 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung
2802 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.
2803 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen
2804 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen
2805 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,
2806 daß die Größenwerte sich einer
\emph{stetigen
} Häufigkeitsfunktion
2807 einfügen. Würde man aber z.\,B. die
2809 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische
2810 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches
2811 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese
2812 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte
2813 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer
2814 noch mit großer Näherung gelten
\litref{24}. Wir wollen uns aber
2815 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend
2816 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft
2817 wird allein zeigen können, in welcher
\emph{Richtung
} sich die
2818 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das
2819 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle
2820 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem
2821 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein
2822 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall
2823 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten
2824 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere
2825 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine
2826 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall
2827 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.
2829 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer
2830 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede
2831 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die
2832 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten
2833 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.
2834 Aber
\emph{daß
} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige
2835 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und
2836 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im
2837 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der
2838 \name{Kant
}ischen Philosophie?
2840 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder
2841 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen
2842 können: nämlich daß die
\emph{eindeutige
} Zuordnung immer
2843 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition
2845 der Erkenntnis als
\emph{eindeutiger
} Zuordnung? Aus einer
2846 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann
2847 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen
2848 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;
2849 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit
2850 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die
2851 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen
2852 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten
2853 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen
2854 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische
2855 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine
2856 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine
2857 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse
\litref{25}. Aber
2858 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es
2859 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse
2860 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und
2861 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der
2862 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem
2863 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,
2864 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede
2865 physikalische Konstante die Form hat: $C + k
\alpha$, wo $
\alpha$
2866 sehr klein und $k$ eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch
2867 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß $k$ meistens
2868 klein ist, vielleicht zwischen
1 und
10 liegt. Für Konstanten
2869 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied
2870 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine
2871 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.\,B.
2872 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die
2873 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe
2874 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem
2875 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte
2876 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der
2877 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen
2879 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen
2880 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit
2881 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer
2882 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch
2883 dadurch, daß man den neuen Ausdruck $C + k
\alpha$ einführt,
2884 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir
2885 hatten oben (Abschnitt
\chapref{IV
}) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung
2886 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen
2887 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben
2888 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit
2889 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der
2890 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck $C + k
\alpha$
2891 ist aber die Größe $k$ ganz unabhängig von physikalischen
2892 Faktoren. Darum können wir die Größe $C + k
\alpha$ niemals
2893 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten
2894 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden
2895 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.
2896 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten
2897 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.
2898 Wir hätten, da $k$ auch von den Koordinaten unabhängig
2899 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen
2900 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu
2901 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände
2902 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe
2903 $C + k
\alpha$ ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme
2904 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer
2905 \glqq{}individuellen Kausalität
\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben
2906 haben und wie sie z.\,B.
\name{Schlick
}\litref{26} als möglich annimmt,
2907 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt
2908 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen
2909 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem
2910 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt
2911 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des
2913 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu
2914 dieser etwa wie der
\name{Riemann
}sche Raum zum euklidischen;
2915 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff
2916 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung
2917 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr
2918 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie
2919 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn
2920 z.\,B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen
2921 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit
2922 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.
2923 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten
2924 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu
2925 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch
2926 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer
2927 praktischen Verwertung finden lassen.
2931 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar
2932 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon
2933 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar
2934 nicht
\emph{konstatiert
} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche
2935 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.
2936 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip
2937 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen
2938 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt
2939 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt
2940 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese
2941 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch
2942 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu
2943 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung
2944 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme
2945 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs
2946 die Bestimmtheit in die Definition
2947 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der
2949 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung
2950 des Zuordnungsbegriffs
\litref{27}.
2952 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der
2953 \name{Kant
}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,
2954 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.
2955 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren
2956 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.
2957 Denn vorläufig
\emph{gilt
} dieser Begriff, und wir können
2958 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis
2959 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der
2960 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,
2961 daß diese
\emph{stetig
} erfolgen muß, und darum wird der alte
2962 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden
2963 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem
2964 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den
2965 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit
2966 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist
2967 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell
2968 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.
2969 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich
2970 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise
2971 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --
2972 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,
2973 daß
\emph{unsere
} Resultate
\emph{nun ewig
} gelten sollen, nachdem
2974 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv
2977 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung
2978 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie
2979 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs
2980 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis
2981 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist
2982 nicht der Begriff der
\emph{Zuordnung
} überhaupt jenes allgemeinste
2983 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor
2984 aller Erkenntnis steht?
2987 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den
2988 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.
2989 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,
2990 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs
2991 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit
2992 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns
2993 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis
2994 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.
2995 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies
2996 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den
2997 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.
2998 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe
}.
3000 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische
3001 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn
3002 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle
3003 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.
3004 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung
3005 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die
3006 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist
3007 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das
3008 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.
3009 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.
3011 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu
3012 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,
3013 wenn wir die
\name{Kant
}ische Analyse der Vernunft ablehnen,
3014 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige
3015 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien
3016 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die
3017 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren
3018 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich
3019 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von
3020 der Erfahrung
\emph{erhält
}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten
3021 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft
3023 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche
3024 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von
3025 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das
3026 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen
3027 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt
3028 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,
3029 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.
3030 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt
3031 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,
3032 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während
3033 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung
3034 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet
3035 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien
3036 eine Entwicklung des
\emph{Gegenstandsbegriffs
}
3037 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung
3038 von der
\name{Kant
}ischen: während bei
\name{Kant
} nur die
3039 Bestimmung des
\emph{Einzelbegriffs
} eine unendliche Aufgabe
3040 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden,
\emph{daß auch
3041 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft
3042 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,
3043 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung
3044 entgegengehen können
}.
3046 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht
3047 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe
3048 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten
3049 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat
3050 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir
3051 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere
3052 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem
3053 in seinen begrifflichen Relationen durch
3054 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung
3055 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in
3056 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie
3058 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff
3059 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft
3060 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich
3061 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie
\name{Kant
}
3062 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,
3063 die von der Vernunft als notwendig hingestellt
3064 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet
3065 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen
3066 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur
3067 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten
3068 sind, für die
\emph{keine
} Auswahl vorgeschrieben ist,
3069 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in
3070 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich
3071 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff
3072 verdanken.
\emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der
3073 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des
3074 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche
3075 Elemente im System auftreten.
} Damit
3076 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils
3077 wesentlich gegenüber der
\name{Kant
}ischen; aber gerade
3078 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise
3081 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür
3082 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit
3083 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,
3084 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da
3085 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt
3086 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung
3087 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln
3088 aus, die den Übergang von einem System aufs
3089 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein
3090 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit
3091 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige
3093 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,
3094 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß
3095 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,
3096 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche
3097 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach
3098 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,
3099 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig
3100 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen
3101 $g_
{\mu\nu}$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,
3102 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte
3103 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven
3104 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver
3105 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien
3106 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den
3107 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit
3108 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen
3109 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist
3110 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,
3111 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,
3112 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft
3113 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.
3114 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der
3115 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen
3116 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was
\name{Kant
} in
3117 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch
3118 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert
3119 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel
3120 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung
3121 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu
3122 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive
3123 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische
3124 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn
3125 Funktionen $g_
{\mu\nu}$ beliebig wählbar sein. Aber die
3127 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie
3128 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und
3129 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft
3130 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv
3131 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten
3132 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die
3133 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger
3134 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der
\name{Kant
}ischen
3135 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik
3136 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft
3137 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die
3138 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die
3139 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als
3140 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen
3141 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.
3142 Wenn sich z.\,B. die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung
3143 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder
3144 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.
3145 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe
3146 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive
3147 Relation mehr, die er bei
\name{Einstein
} trotz der Abhängigkeit
3148 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl
3149 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive
3150 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten
3151 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend
3152 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs
3153 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft
3154 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise
3155 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung
3156 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen
3157 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,
3158 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.
3160 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den
3162 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven
3163 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem
3164 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle
3165 der
\name{Kant
}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist
3166 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als
\name{Kants
}
3167 Versuch einer direkten Formulierung, und die
\name{Kant
}ische
3168 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen
3169 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem
3170 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,
3171 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der
3172 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen
3178 \Chapter{VIII
}{Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie
3179 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.
}
3182 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren
3183 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege
3184 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt
3185 oder widerlegt werden können, so bedeutet das
3186 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.
3187 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung
3188 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,
3189 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei
3190 Weise mit der Bemerkung
\glqq{}alles ist Erfahrung
\grqq{} abtun
3191 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied
3192 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen
3193 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,
3194 daß die letzteren für den
\emph{logischen Aufbau
} der Erkenntnis
3195 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.
3196 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:
3197 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch
3198 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und
3199 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung
3200 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung
3201 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.
3203 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung
3204 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des
3205 \emph{Gegenstandsbegriffs
} beschreiben, die mit der Änderung
3206 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie
3210 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem
3211 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und
3212 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen
3213 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.
3214 So konstatiert sie das Auftreten von
3215 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender
3216 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,
3217 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte
3218 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert
3219 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die
3220 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die
3221 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten
3222 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte
3223 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß
3224 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die
3225 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß
3226 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den
3227 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu
3228 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die
3229 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in
3230 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.
3231 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt
3232 nach der
\name{Newton
}schen Theorie eine Abplattung. Der
3233 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,
3234 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen
3235 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln
3236 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch
3237 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis
3238 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.\,B. eines
3239 Breitenkreises) gleich $
\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender
3240 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen
3241 in der pythagoräischen Beziehung steht (und
3242 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten
3244 für
\emph{alle
} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen
3245 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen
3246 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige
3247 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er
3248 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser
3249 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding
3250 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,
3251 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die
3252 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen
3253 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum
\emph{Gegenstandsbegriff
3256 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,
3257 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese
3258 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten
3259 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles
3260 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und
3261 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine
3262 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch
3263 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache
3264 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor
3265 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung
3266 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten
3267 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat
\name{Helge
3268 Holst
}\litref{28} den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch
3269 zu retten, daß er entgegen der
\name{Einstein
}schen Relativität
3270 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die
3271 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben
3272 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch
3273 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die
3274 \name{Einstein
}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante
3275 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall
3278 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare
3280 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung
3281 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines
3282 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits
3283 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine
3284 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung
3285 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem
3286 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen
3287 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als
3288 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch
3289 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,
3290 welcher der Körper die Verkürzung
\glqq{}wirklich
\grqq{} erfährt,
3291 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute
3292 Eigenschaft des Körpers ist; aber
\name{Einstein
} hatte gerade
3293 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes
3294 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.
3295 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab
3296 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)
3297 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem
3298 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als
3299 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir
3300 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den
3301 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.
3302 Allerdings können wir sie
\emph{formulieren
} nur in
3303 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir
3304 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere
3305 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen
3306 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:
3307 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln
3308 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn
3309 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen
3310 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu
3311 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene
3312 Länge. Aber sie ist nur
\emph{ein
} Ausdruck der realen Relation.
3314 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,
3315 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam
3316 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft
3317 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.
3318 Das soll keine Versetzung des Realen in ein
3319 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale
3320 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in
3321 \emph{einem
} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln
3322 angeben; aber wir müssen uns daran
3323 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als
3324 eine Verhältniszahl formulieren kann.
3328 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:
3329 was früher eine Eigenschaft des
\emph{Dinges
} war,
3330 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;
3331 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,
3332 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,
3333 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung
3338 Bedeutet insofern der
\name{Einstein
}sche Längenbegriff
3339 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden
3340 realen Relation formuliert, so erhält er doch im
3341 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche
3342 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der
3343 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt
3344 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt
3345 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,
3346 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,
3347 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein
3348 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende
3349 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich
3350 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache
3351 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst
3353 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation
3354 ineinander hinreichend beschrieben wird.
3356 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur
3357 Charakterisierung eines
\emph{physikalischen Zustandes
}
3358 macht, ist in der
\emph{allgemeinen
} Relativitätstheorie in noch
3359 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie
3360 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte
3361 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,
3362 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand
3363 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen
3364 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,
3365 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.
3366 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten
3367 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird
3368 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer
3369 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der
3370 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische
3371 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz
3372 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite
3373 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle
3374 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen
3375 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische
3376 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die
3377 \name{Riemann
}sche analytische Metrik ist imstande, solchen
3378 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu
3379 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,
3380 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen
3381 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das
3382 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,
3383 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut
3384 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,
3385 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung
3386 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der
3388 \name{Einstein-Riemann
}schen Raumkrümmung, daß sie die
3389 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das
\glqq{}unmöglich
\grqq{}
3390 ist hier nicht
\emph{technisch
} aufzufassen, etwa so,
3391 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie
3392 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern
\emph{begrifflich
};
3393 auch die
\emph{gedachte
} gerade Linie ist im
\name{Riemann
}schen
3394 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf
3395 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach
3396 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische
3397 Stäbe zu suchen; auch die
\emph{Annäherung
} ist unmöglich.
3398 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein
3399 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine
3400 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie
3401 behauptet vielmehr: daß es
\emph{überhaupt keinen Sinn
}
3402 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu
3403 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten
3404 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der
\name{Einstein
}schen
3405 Theorie verhält sich zur
\name{Newton
}schen Bahn
3406 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die
\name{Einstein
}sche
3407 Krümmung ist von höherer Ordnung als die
\name{Newton
}sche.
3408 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen
3409 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,
3410 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands
3413 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse
3414 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,
3415 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen
3416 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig
3417 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese
3418 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten
3419 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein
3420 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine
3421 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in
3423 die Gesamtheit der Körper.
\emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom
3424 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom
3425 geworden.
} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung
3426 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle
3427 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die
3428 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit
3429 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff
3430 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen
3431 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer
3432 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß
3433 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.
3434 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,
3435 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.
3436 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,
3437 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.
3438 Darum kann sich auch nur in der Längen- und
3439 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.
3440 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich
3441 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser
3442 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was
3443 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir
3444 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:
3445 das Reale wird nicht mehr durch ein
\emph{Ding
} beschrieben,
3446 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den
3447 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik
3448 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des
3449 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten
3450 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch
3451 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen
3452 zwischen den metrischen Koeffizienten, und
3453 wenn man
4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig
3454 vorgibt, sind die anderen
6 durch Transformationsformeln
3455 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt
3457 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche
3458 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren
3459 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;
3460 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen
3461 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.
3462 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --
3463 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch
3464 der Zustand der Körper ausdrücken.
3468 Damit ist der alte auch noch von
\name{Kant
} benutzte
3469 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz
3470 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man
3471 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen
3472 dem Ausspruch des
\name{Thales von Milet
}, daß das Wasser
3473 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff
3474 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein
3475 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere
3476 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das
3477 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen
3478 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,
3479 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die
3480 \name{Einstein
}sche Änderung der
\emph{Zuordnungsprinzipien
}
3481 ging auf den
\emph{Begriff
} des Seienden. An diese Theorie
3482 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist
3483 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?
3484 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den
3485 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue
3486 Ausfüllung. Daß etwas
\emph{ist
}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen
3487 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;
3488 da wir diese durch Messung feststellen können -- und
\emph{nur
}
3489 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß
3490 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung
3491 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element
3493 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn
3494 der allgemeinen Relativitätstheorie
\Footnote{f
}
3495 {Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis
3496 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat
3497 \name{Rutherford
} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des
3498 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.
3499 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff
3500 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung
3501 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und
\name{Rutherfords
} Arbeiten
3502 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen
3503 im
\name{Einstein
}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die
3504 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie
3505 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im
3506 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes
3507 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen
3510 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn
3511 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung
3512 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von
3513 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen
3514 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
3515 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung
3516 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;
3517 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,
3518 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen
3519 werden muß
\Footnote{g
}
3520 {Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst
3521 umgekehrt den
\glqq{}scheinbaren
\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die
\glqq{}wirkliche
\grqq{}
3522 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne
3523 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese
3524 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr
3525 tiefgehenden Ausführungen bei
\name{Weyl
},
\Anmerkung{21}, S.~
162.
}.
3526 Der Begriff des Einzeldings verliert
3527 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete
3528 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht
3529 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte
3531 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie
3532 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im
3533 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den
3534 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert
3535 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man
3536 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne
3537 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst
3538 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit
3539 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an
3540 Stelle der
\emph{Physik der Kräfte und Dinge
} tritt die
3541 \emph{Physik der Feldzustände
}.
3543 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs
3544 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch
3545 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu
3546 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien
3547 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie
3548 nicht,
\emph{was
} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern
\emph{wie
}
3549 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,
3550 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.
3551 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie
3552 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was
3553 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen
3554 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die
3555 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen
3556 führt; in diesem logischen Sinne ist das
\glqq{}möglich
\grqq{} jener
3557 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen
3558 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein
3559 können wie bei
\name{Kant
}:
\emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis
3560 geändert hat, und der veränderte Gegenstand
3561 der physikalischen Erkenntnis auch andere
3562 logische Bedingungen voraussetzt
}. Diese Änderung
3563 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und
3564 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die
3566 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur
3567 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der
3568 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist
3569 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch
3570 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben
3571 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten
3572 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln
3573 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.
3574 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung
3575 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige
3576 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,
3577 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,
3578 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder
3579 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die
3580 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,
3581 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori
3582 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,
3583 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.
3589 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne
3590 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in
3591 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:
3592 die Vorstellbarkeit des
\name{Riemann
}schen Raums. Wir
3593 müssen allerdings betonen, daß die Frage der
\emph{Evidenz
}
3594 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist
3595 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische
3596 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu
3597 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
3598 Axiome führt. Mit dem Schlagwort
\glqq{}Gewöhnung
\grqq{}
3599 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar
3601 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um
3602 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil
3603 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen
3604 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns
3605 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte
3606 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch
3607 vollkommen unerklärt.
3609 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten
3610 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu
3611 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach
3612 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere
3613 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der
3614 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,
3615 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.
3616 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir
3617 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden
3618 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns
3619 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend
3620 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser
3621 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen
3622 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis
3623 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,
3624 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,
3625 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir
3626 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische
3627 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.
3629 Als im
15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,
3630 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen
3631 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht
3632 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte
3633 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,
3634 um festzustellen, daß die Erde
\emph{keine
} Kugel sei. Später
3636 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es
3637 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine
3638 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen
3639 richtig. Es ist auch gar nicht
\emph{vorstellbar
}, daß
3640 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,
3641 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich
3642 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,
3643 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber
3644 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung
3645 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel
3646 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene
3647 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten
3648 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht
3649 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der
3650 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.
3651 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr
3652 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.
3653 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel
3654 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran
3655 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,
3656 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.
3658 Genau so, glaube ich, steht es mit dem
\name{Riemann
}schen
3659 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht
3660 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der
3661 Dinge war, nun plötzlich im
\name{Riemann
}schen Sinne krumm
3662 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild
3663 \emph{nicht gibt
}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas
3664 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des
3665 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen
3666 Zustandes die in uns liegenden geometrischen
3667 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.
3668 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,
3670 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die
3671 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann
3672 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten
3673 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche
3674 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns
3675 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie
3676 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,
3677 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.
3679 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,
3680 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis
3681 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen
3682 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie
3683 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;
3684 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse
3685 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,
3686 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.
3691 \chapter{Literarische Anmerkungen.
}
3695 \pagelink{S.
}{3}.
\name{Poincaré
} hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und
3696 Hypothese, Teubner
1906, S.
49--
52. Es ist bezeichnend, daß er für
3697 seine Äquivalenzbeweise die
\name{Riemann
}sche Geometrie von vornherein
3698 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung
3699 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der
3700 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der
3701 Geometrie nicht behaupten können.
3704 \pagelink{S.
}{4}. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich
3705 auftauchenden Ansichten, daß die
\name{Einstein
}sche Raumlehre sich mit der
3706 \name{Kant
}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,
3707 ob man
\name{Kant
} oder
\name{Einstein
} recht gibt, läßt sich der
\emph{Widerspruch
}
3708 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,
3709 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft
3710 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die
3711 \name{Kant
}ische Raumlehre völlig unberührt. E.
\name{Sellien
} schreibt in
\glqq{}Die
3712 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
\grqq{}, Kantstudien,
3713 Ergänzungsheft
48,
1919:
\glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf
3714 die
\glqq{}reine
\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie
3715 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst
3716 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie
3717 die Berechtigung genommen zu behaupten, die
\glqq{}wahre
\grqq{} Geometrie ist
3718 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können
3719 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische
3720 Maßbestimmungen zugrunde legen.
\grqq{} Leider übersieht
\name{Sellien
}
3721 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im
\name{Einstein
}schen
3722 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,
3723 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie
3724 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen
3725 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und
\emph{eine
} Physik kann
3726 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man
3727 versteht nicht, warum
\name{Sellien
} nicht die Relativitätstheorie als
\emph{falsch
}
3728 bezeichnet, wenn er doch an
\name{Kant
} festhält. Befremdend erscheint auch
3729 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen
3730 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte
\name{Newton
}sche
3731 Theorie viel bequemer war. Wenn
\name{Sellien
} aber weiterhin
3732 behauptet, der
\name{Einstein
}sche Raum sei ein anderer als der von
\name{Kant
}
3733 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu
\name{Kant
}. Freilich läßt
3734 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als
3735 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber
3736 \name{Kants
} Raum ist gerade wie
\name{Einsteins
} Raum derjenige, in dem die
3737 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der
\emph{Physik
}, lokalisiert
3738 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der
\name{Kant
}ischen
3739 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation
3740 über anschauliche Hirngespinste.
3744 \pagelink{S.
}{4}. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,
3745 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;
3746 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,
3747 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer
3748 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit
3749 der Prinzipien, die Darstellung von
\name{Erwin Freundlich
} (Die Grundlagen
3750 der
\name{Einstein
}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer
3751 1920.
4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung
3752 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen
3753 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der
3754 Abschnitte
\chapref{II
} und
\chapref{III
} dieser Untersuchung auf die Schrift
\name{Freundlichs
},
3755 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.
3757 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der
3758 Theorie sei auch die Schrift von
\name{Moritz Schlick
}, Raum und Zeit in der
3759 gegenwärtigen Physik,
3.~Aufl., Verlag von Julius Springer
1920, genannt.
3762 \pagelink{S.
}{6}. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes
\Anmerkung{%
3766 \pagelink{S.
}{9}. A.
\name{Einstein
}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,
3767 Ann. d. Phys.
17,
1905, S.~
891.
3770 \pagelink{S.
}{13}. Wir müssen diesen Einwand auch der
\name{Natorp
}schen Deutung
3771 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den
\glqq{}Logischen Grundlagen
3772 der exakten Wissenschaften
\grqq{}, Teubner
1910, S.~
402, gibt. Er hat
3773 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als
3774 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit
3775 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch
3776 \name{Natorps
} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche
3777 auf die Unmöglichkeit ihrer
\glqq{}empirischen Erfüllung
\grqq{} zu schieben, nicht
3778 als gelungen betrachtet werden.
3782 \pagelink{S.
}{21}.
\name{A. Einstein
}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.
3783 Ann. d. Phys.
1916, S.~
777.
3786 \pagelink{S.
}{24}.
\name{Einstein
}, a.~a.~O. S.~
774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung
3787 dieses Beispiels bei
\name{Bloch
}, Einführung in die Relativitätstheorie,
3788 Teubner
1918, S.~
95.
3791 \pagelink{S.
}{33}.
\name{David Hilbert
}, Grundlagen der Geometrie, Teubner
1913, S.~
5.
3794 \pagelink{S.
}{33}.
\name{Moritz Schlick
}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer
3798 \pagelink{S.
}{41}.
\name{Schlick
}. a.~a.~O. S.~
55.
3801 \pagelink{S.
}{50}.
\name{Kant
}, Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. §~
14, S.~
126
3802 der Originalausgabe.
3805 \pagelink{S.
}{50}. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in
\Anmerkung{%
3806 20} genannten Arbeiten.
3809 \pagelink{S.
}{51}. Dieses Prinzip ist von
\name{Kurt Lewin
} analysiert worden.
3810 Vgl. seine in
\Anmerkung{20} genannten Arbeiten.
3813 \pagelink{S.
}{51}. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen
3814 Verknüpfungsaxiome gibt
\name{Haas
}, Naturwissenschaften
7,
1919, S.~
744.
3815 Freilich glaubt
\name{Haas
}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu
3816 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht
3820 \pagelink{S.
}{53}. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
43. Es ist nicht recht
3821 einzusehen, warum
\name{Kant
} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der
3822 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.
3823 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.
3826 \pagelink{S.
}{54}. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß
\name{Kant
} niemals
3827 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt
3828 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von
\name{Kant
} behauptete
\emph{Einsicht
3829 in die notwendige Geltung
} apriorer Sätze nichts anderes ist,
3830 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,
3831 daß das Verfahren
\name{Kants
}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze
3832 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff
3833 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden
3834 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der
3836 \name{Kant
}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt
3837 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung
3838 mit der Lehre
\name{Kants
} in ihrer ursprünglichen Form
3839 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter
3840 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem
3841 exakt ausgeführten System der
\name{Einstein
}schen Lehre äquivalent in dem
3842 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner
3843 Auffassung von
\name{Kants
} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus
3844 der Kritik der reinen Vernunft (
2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):
3845 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis
3846 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß
3847 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein
3848 könne. Findet sich also erstlich ein Satz,
\emph{der zugleich mit seiner
3849 Notwendigkeit gedacht wird
}, so ist er ein Urteil apriori (S.~
3). Wo
3850 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,
3851 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich
3852 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~
4). Daß es nun dergleichen
3853 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile
3854 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.
3855 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze
3856 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten
3857 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache
3858 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff
3859 einer Ursache so
\emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit
} der
3860 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der
3861 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn
\ldots{} von
3862 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte
\grqq{}
3865 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien
3866 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,
3867 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der
3868 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung
3869 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An
3870 beiden ist nicht allein die
\emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung
3871 apriori
}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar
\grqq{} (S.~
17).
3873 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,
3874 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es:
\glqq{}Von
3875 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl
3876 geziemend fragen,
\emph{wie
} sie möglich sind, denn
\emph{daß
} sie möglich sein
3877 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen
\grqq{} (S.~
20). Und Prolegomena,
3878 S.~
275 und
276 der Akademieausgabe:
\glqq{}Es trifft sich aber
3879 glücklicherweise,
\ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori
3880 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;
3881 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß
3882 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der
3883 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig
3884 anerkannt werden.
\ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher
3885 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.\,i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es
3886 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.
\grqq{}
3888 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht
3889 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise
3890 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik
3891 der reinen Vernunft.
3895 \pagelink{S.
}{64}. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen
3896 Hypothese muß auf die in
\Anmerkung{20} genannten Arbeiten
3897 des Verfassers hingewiesen werden.
3900 \pagelink{S.
}{68}. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~
\chapref{V
}.
3903 \pagelink{S.
}{72}.
\name{Reichenbach
}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die
3904 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen
1915
3905 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~
161,
3906 Barth
1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
3907 Naturwiss.
8,
3, S.~
46--
55. -- Philosophische Kritik der
3908 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss.
8,
8, S.~
146--
153, Springer
1920, --
3909 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
3910 Zeitschrift für Physik
1920, Bd.~
2. Heft
2, S.~
150--
171.
3912 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen
3913 Arbeiten von
\name{Kurt Lewin
}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und
3914 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,
3915 Berlin
1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,
3916 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin
3919 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
3920 liegt neuerdings eine Arbeit von
\name{Ernst Cassirer
} vor (Zur
\name{Einstein
}schen
3921 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin
1920,
3922 B.
\name{Cassirer
}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter
3923 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen
3924 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion
3926 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat
3927 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion
3928 berufener als
\name{Cassirer
}, dessen kritische Auflösung physikalischer
3929 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie
3930 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E.
\name{Cassirer
},
3931 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin
1910. B.
\name{Cassirer
}).
3932 Leider war es mir nicht möglich, auf
\name{Cassirers
} Arbeit einzugehen, da
3933 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.
3936 \pagelink{S.
}{73}.
\name{Hermann Weyl
}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius
3937 Springer
1918, S.~
227.
\name{Arthur Haas
}, Die Physik als geometrische
3938 Notwendigkeit. Naturwiss.
8,
7, S.~
121--
140. Springer
1920.
3941 \pagelink{S.
}{73} \name{Hermann Weyl
}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.
3942 der Berliner Akademie.
1918, S.~
465--
480.
3945 \pagelink{S.
}{75}. Vgl. z.\,B. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
228.
\glqq{}Ein
3946 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe
3947 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden
3948 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als
3949 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)
3950 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.
\grqq{}
3951 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret
3952 sich
\name{Kant
} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.
3955 \pagelink{S.
}{78}. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten
3956 (vgl.
\Anm{20}) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen
3957 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung
3958 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren
3959 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so
3960 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen
3961 gelegentlich versucht wird.
3964 \pagelink{S.
}{79}. Vgl. hierzu meine in
\Anmerkung{20} genannte erste Arbeit,
3968 \pagelink{S.
}{80}. Vgl. die in
\Anmerkung{10} genannte Arbeit, S.~
323.
3971 \pagelink{S.
}{82}. Es ist auffallend, daß
\name{Schlick
}, der den Begriff der eindeutigen
3972 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und
3973 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst
3974 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen
3975 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein
3976 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese
3977 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus
3978 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr
3979 weiter käme (
\Anmerkung{10}, S.~
344). Aber etwas anderes hatte
\name{Kant
}
3980 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend
3981 für
\name{Schlicks
} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der
3982 \name{Kant
}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,
3983 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften
3984 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis
3985 als eindeutige Zuordnung ist
\name{Schlicks
} Analyse der Vernunft,
3986 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.
3990 \pagelink{S.
}{91}.
\name{Helge Holst
}, Die kausale Relativitätsforderung und
3991 \name{Einsteins
} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab
3992 Math.-fys. Medd. II,
11, Kopenhagen,
1919.
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