1 \usepackage[utf8
]{inputenc}
2 \usepackage[german
]{babel
}
6 % \erratum - mark changes with respect to the original book
7 % First arg: original version
8 % Second arg: corrected version
9 \newcommand{\erratum}[2]{#2}
11 \newcommand*
{\tb}{\medskip}
12 \newcommand*
{\name}[1]{\textsc{#1}}
13 \newcommand*
{\page}[1]{\marginline{#1}}
15 \newcommand*
{\litref}[1]{[#1]}
16 \newcommand*
{\litanm}[1]{\medskip #1:
\quad}
18 \newcommand*
{\diff}[1]{\mathrm{d
}{#1}}
22 UND ERKENNTNIS APRIORI
30 VERLAG VON JULIUS SPRINGER
34 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
35 in fremde Sprachen, vorbehalten.
37 Copyright
1920 by Julius Springer in Berlin.
53 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten
56 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten
59 %IV. Erkenntnis als Zuordnung 32
61 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung
64 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die
65 %Relativitätstheorie 59
67 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische
70 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der
71 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes 89
73 %Literarische Anmerkungen 104
79 \chapter*
{I. Einleitung.
}
82 Die
\erratum{\name{Einsteinsche
}}{\name{Einstein
}sche
} Relativitätstheorie hat die philosophischen
83 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung
84 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu
85 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie
86 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als
87 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in
88 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie
89 nur Behauptungen über
\emph{physikalische
} Meßbarkeitsverhältnisse
90 und physikalische
\emph{Größenbeziehungen
} \erratum{auf
92 aber
}{auf, aber
} es muß durchaus zugegeben werden, daß diese
93 speziellen Behauptungen den allgemeinen
\emph{philosophischen
}
94 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen
95 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen
96 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen
97 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte
98 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;
99 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die
100 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer
101 physikalischen Annahmen gemacht.
103 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere
104 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.
105 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht
106 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse
107 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem
108 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist
109 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,
110 auch zu dem Zeitbegriff
\name{Kants
}. Man hat
112 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem
113 man die
\glqq{}physikalische Zeit
\grqq{} von der
\glqq{}phänomenologischen
114 Zeit
\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die
115 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis
} immer die irreversible
116 Folge blieb. Aber in
\name{Kants
} Sinne ist diese Trennung
117 sicherlich nicht. Denn für
\name{Kant
} ist es gerade das Wesentliche
118 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine
\emph{Bedingung
119 der Naturerkenntnis
} bildet, und nicht bloß
120 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er
121 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung
122 \glqq{}affizieren
\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,
123 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form
124 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente
125 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde
126 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische
127 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,
128 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts
129 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn
130 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände
131 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie
132 %sic: No name-markup on the next line - verified from scan
133 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.
135 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese
136 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde
137 nichts Geringeres behauptet, als
\emph{daß die euklidische
138 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden
139 dürfte
}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser
140 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit
141 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung
142 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung
143 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher
144 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich
145 evidenten Axiomen
\name{Euklids
} widersprechen.
147 \name{Riemann
} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in
148 analytischer Form begründet, in der der
\glqq{}ebene
\grqq{} Raum
149 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche
150 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen
151 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,
152 daß man sie als
\emph{anschaulich evident
} von den anderen
153 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen
154 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne
\name{Kants
} -- die
155 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung
156 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden
157 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie
158 auf einen Einwand gegen ihre rein
\emph{begriffliche
}
159 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der
160 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte
161 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die
162 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung
163 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden
164 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von
165 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der
166 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein
167 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über
168 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt
169 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches
170 Schema ersetzt werden könnte
\litref{1}. Gegenüber
171 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen
172 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken
173 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie
174 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen
175 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt
\emph{falsch
} wären.
176 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten
177 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,
178 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht
179 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung
181 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.
182 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie
183 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein
184 Zweifel, daß
\name{Kants
} transzendentale Ästhetik von der
185 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;
186 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer
187 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie
188 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität
189 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so
190 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der
\emph{Ungültigkeit
}
191 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.
193 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist
194 die Relativitätstheorie falsch, oder die
\name{Kant
}ische Philosophie
195 bedarf in ihren
\name{Einstein
} widersprechenden Teilen
196 einer Änderung
\litref{2}. Der Untersuchung dieser Frage ist die
197 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint
198 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,
199 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung
200 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung
201 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es
202 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos
203 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische
204 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir
205 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst
206 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,
207 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen
208 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen
209 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie
210 für ihre Behauptungen anführt
\litref{3}. Danach untersuchen
211 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,
212 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie
\name{Kants
} einschließt,
213 und indem wir diese den Resultaten unserer
214 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden
216 wir, in welchem Sinne die Theorie
\name{Kants
} durch
217 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann
218 eine solche Änderung des Begriffs
\glqq{}apriori
\grqq{} durchführen,
219 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr
220 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie
221 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine
222 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.
223 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische
229 \chapter*
{II. Die von der speziellen Relativitätstheorie
230 behaupteten Widersprüche.
}
233 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt
234 das Wort apriori im Sinne
\name{Kants
} gebrauchen, also dasjenige
235 apriori nennen, was die Formen der Anschauung
236 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir
237 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche
238 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien
239 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche
240 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der
241 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die
\emph{Geltung
}
242 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori
243 nicht vorweggenommen sein
\litref{4}.
245 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese
246 Theorie auch heute noch als für
\emph{homogene
} Gravitationsfelder
247 gültig ansehen -- behauptet
\name{Einstein
}, daß das
248 \name{Newton-Galilei
}sche Relativitätsprinzip der Mechanik
249 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
250 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der
251 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen
252 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit
253 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.
254 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:
255 Auf welche Voraussetzungen stützen sich
\name{Einstein
}s
258 Das
\name{Galilei
}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein
260 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein
261 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen
262 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt
263 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil
264 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand
265 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende
266 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung
267 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische
268 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber
269 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits
\emph{änderungen
}
270 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung
271 kennen, an das Auftreten einer
\emph{Beschleunigung
} geknüpft
272 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren
273 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das
\name{Galilei
}sche
274 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
276 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form
277 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von
278 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig
279 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen
280 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik
281 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser
282 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form
283 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.
284 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,
285 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die
286 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte
287 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,
288 wie im alten, daß also der
\emph{Funktionalzusammenhang
}
289 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller
290 als die
\name{Galilei
}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung
291 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier
292 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen
293 an, bei welchen die Erhaltung des
295 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung
296 der Kraft
\emph{größen
} herbeigeführt wird. Daß es solche
297 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings
298 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische
299 \emph{Gesetz
}, und nicht nur die
\emph{Kraft
}, invariant gegen
300 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer
301 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen
302 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen
303 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist
304 durch die Verteilung und die Natur der
\emph{Dinge
}, und die
305 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang
306 haben kann. Für den
\name{Kant
}ischen Standpunkt, auf dem
307 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und
308 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die
309 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,
310 daß gegen die
\name{Galilei-Newton
}schen Gesetze
311 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von
312 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben
313 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs
314 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,
315 liegt für den Philosophen kein Grund vor;
316 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts
317 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch
318 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung
319 der Geschehnisse äquivalent sein.
\name{Mach
}
320 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken
321 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn
322 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand
323 hat
\name{Einstein
} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie
324 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal
325 genug sei. Erst
\name{Einstein
} selbst hat seiner Theorie diesen
326 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine
327 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die
\name{Kant
}ische
329 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend
330 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;
331 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht
332 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,
333 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik
334 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung
335 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern
336 lag, um von ihr erkannt werden zu können.
338 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische
339 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische
340 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als
341 \name{Einstein
} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung
\litref{5} zur
342 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,
343 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange
346 \name{Einstein
} ging davon aus, daß man, um in einem
347 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die
348 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter
349 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang
350 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu
351 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses
352 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann
353 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die
354 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an
355 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen
356 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung
357 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle
358 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition
359 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen
360 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,
361 also eine negative Auswahl treffen. In jeder
\glqq{}Koordinatenzeit
\grqq{}
362 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert
363 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die
365 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von
366 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme
369 Es ist keineswegs gesagt, daß diese
\emph{einfachste
} Annahme
370 auch
\emph{physikalisch zulässig
} ist. Sie führt z.\,B.,
371 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der
372 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),
373 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere
374 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens
375 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten
376 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition
377 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit
378 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit
379 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt
380 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit
381 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen
382 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.\,h. ob nicht
383 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden
384 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch
385 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als
386 Entscheidung darüber konnte der
\name{Michelson
}sche Versuch
387 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
388 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem
389 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen
390 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage
391 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit
392 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat
393 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung
394 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben
395 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete
396 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der
397 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste
398 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die
400 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall
401 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
403 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung
404 der speziellen Relativitätstheorie die empirische
405 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials
406 erhebt sich der tiefe Gedanke
\name{Einsteins
}:
\emph{daß
407 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese
408 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten
409 unmöglich ist
}. Auch die alte Definition einer
410 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:
411 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich
412 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung
415 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist
416 \name{Einstein
} eingewandt worden, daß seine Überlegungen
417 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln
418 niemals zu einer genauen
\glqq{}absoluten
\grqq{} Zeit kommen
419 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend
420 approximativen Messung müßte festgehalten
421 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die
\glqq{}absolute
\grqq{} Zeit
422 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit
423 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren
424 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung
425 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen
426 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht
427 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts
428 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei
429 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung
430 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,
431 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt
432 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei
433 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine
434 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip
436 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,
437 wie etwa
\name{Kant
} die Unzerstörbarkeit der Substanz
438 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten
439 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden
440 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige
441 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.
442 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten
443 eine obere Grenze nicht geben. Darüber
444 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist
445 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade
446 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur
447 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung
448 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie
449 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger
450 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar
451 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese
452 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht
453 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,
454 in denen z.\,B. die kinetische Energie eines Massenpunktes
455 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich
456 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,
457 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,
458 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere
459 Grenze der Temperatur zu unterschreiten
\Footnote{a
}
460 {Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur
461 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören
462 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen
463 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,
464 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.
465 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische
466 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.
}, kann auch
467 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch
468 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das
470 andere, aber es handelt sich hier gerade um das
\emph{physikalisch
471 Erreichbare
}. Wenn ein physikalisches Gesetz
472 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze
473 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die
\glqq{}absolute
\grqq{}
474 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des
475 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von
476 einer
\glqq{}idealen Zeit
\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe
477 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch
478 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch
479 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten
\litref{6}).
481 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip
482 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur
483 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten
484 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),
485 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute
486 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch
487 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide
488 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,
489 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der
490 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten
491 ist aber eine empirische Angelegenheit
492 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von
493 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem
494 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare
495 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip
496 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken
497 vollzieht dabei
\name{Einsteins
} Entdeckung, daß die
498 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung
499 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden
502 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls
503 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit
504 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die
506 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.
507 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert
508 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit
509 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.
510 Allerdings wird sich der experimentelle
511 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit
512 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen
513 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir
514 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze
515 ist, z.\,B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung
516 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische
517 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit
518 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;
519 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch
520 der
\name{Michelson
}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn
521 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des
522 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.
523 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine
524 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den
525 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste
526 Extrapolation verwendet, das
\emph{Prinzip der
527 normalen Induktion
} nennen. Allerdings verbirgt sich
528 hinter dem Begriff
\emph{\glqq{}wahrscheinlichste Extrapolation
\grqq{}}
529 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf
530 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die
531 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen
532 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl
533 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden
534 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches
535 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.
536 Denken wir uns z.\,B. die Werte der kinetischen Energie
537 des Elektrons für Geschwindigkeiten von
0--
99\% der
538 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und
540 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die
541 sich bei
100\% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.
542 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve
543 zwischen
99\% und
100\% noch einen Knick macht,
544 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins
545 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der
546 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,
547 den
\name{Michelson
}schen Versuch eingerechnet, nicht
548 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten
549 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer
550 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,
551 um seinen aprioren Charakter im Sinne des
552 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im
553 Abschnitt VI auf die erkenntnistheoretische Stellung
554 dieses Prinzips näher eingehen.
556 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,
559 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
560 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität
561 \item Prinzip der Nahewirkung
562 \item Prinzip des approximierbaren Ideals
563 \item Prinzip der normalen Induktion
564 \item Prinzip der absoluten Zeit
566 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar
567 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit
568 gleichem Recht
\emph{apriore
} Prinzipien nennen. Zwar sind
569 sie nicht alle von
\name{Kant
} selbst als apriori genannt. Aber
570 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem
571 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,
572 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir
573 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit
574 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen
576 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere
577 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige
578 dieser Prinzipien, z.\,B. das der Nahewirkung, bestritten
579 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen
580 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien
581 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das
582 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung
583 besonders aufführten, in ihnen nochmals
586 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen
587 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum
\emph{Kausalprinzip
}
588 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität
589 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale
590 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann
591 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema
592 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten
595 \name{Minkowski
} hat den
\name{Einstein
}schen Gedanken eine
596 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer
597 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_
{4}$-Koordinate
598 durch $x_
{4} = i c t$ und leitet die Lorentztransformation
599 aus der Forderung ab, daß das Linienelement
600 der
4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
602 \diff{s
}^
{2} =
\sum_{1}^
{4} \diff{x_
\nu}^
{2}
604 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen
605 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören
606 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip
607 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als
608 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
609 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen
612 \emph{Relativität aller orthogonalen
613 Transformationen in der Minkowski-Welt
}. Die
614 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam
615 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der
616 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene
617 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern
618 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird
619 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem
620 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen
621 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für
622 die einzelnen Systeme verschieden wäre.
624 Man muß jedoch beachten, daß das
\name{Minkowski
}sche
625 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare
626 Formulierung der
\name{Einstein
}schen Gedanken. An deren
627 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie
628 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,
629 denn die Einführung der vierten Koordinate
630 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet
631 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit
632 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind
633 raumartige und zeitartige Vektoren in der
\name{Minkowski
}-Welt
634 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch
635 mögliche Transformation ineinander überführen.
637 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine
638 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen
639 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen
640 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen
641 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.
642 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
643 das in unseren Überlegungen eine so
644 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben
647 Nach
\name{Einsteins
} zweiter Theorie gilt die spezielle
648 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen
650 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.\,B. die
651 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so
652 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
653 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle
654 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt
655 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall
656 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung
657 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die
658 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.
659 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,
660 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,
661 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß
662 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere
663 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn
664 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener
665 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier
666 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen
667 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch
668 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber
669 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten
670 als $c =
3 \cdot 10^
{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die
671 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit
672 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
674 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld
675 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,
676 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge
677 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.
678 Für jedes Volumelement des Raumes hat $c$ einen bestimmten
679 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang
680 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat
681 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten
682 $c =
3 \cdot 10^
{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem
683 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller
685 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,
686 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer
\emph{oberen
687 Grenze
}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein
688 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach
689 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt
690 also unsere vorher angewandte Betrachtung
691 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
693 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich
694 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht
695 von einer
\emph{allmählichen Annäherung
} an eine absolute
696 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht
697 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren
698 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom
699 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens
700 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl
701 $c >
3 \cdot 10^
{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die
702 absolute Zeit beliebig genau wird?
704 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl $c$ für das gewählte
705 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung
706 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,
707 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos
708 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,
709 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen
710 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß
711 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements
712 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und
713 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren
714 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht
715 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen
716 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung
717 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der
718 größeren Konstanten $c$ als eine Genauigkeitssteigerung
719 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die
721 Konstante $c$ einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur
722 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst
723 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit
724 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig
725 erschiene es allein, den Wert von $c$ festzuhalten, etwa (wie es
726 vielfach geschieht) $c =
1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,
727 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
729 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge
730 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn
731 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit
732 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung
733 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne
734 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine
735 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich
736 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit
737 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;
738 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des
739 Raumes. Die Größe $c$ ist aber nicht eine Funktion bestimmter
740 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines
741 \emph{universalen Zustands
}, und alle Meßmethoden sind
742 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,
743 daß innerhalb jedes Universalzustands eine
744 obere Grenze $c$ für jedes Volumelement existiert, bleibt
745 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch
746 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man
747 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die
748 allgemeine einordnet.
750 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um
751 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen
752 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die
753 \emph{Geltung
} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes
754 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.
759 \chapter*
{III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie
760 behaupteten Widersprüche.
}
763 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie
764 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die
765 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.
766 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,
767 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum
768 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?
770 \name{Einstein
} sagt in seiner grundlegenden Schrift:
\glqq{}Es
771 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die
772 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches
773 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.
774 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie
775 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit
776 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß
777 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung
778 möglichst gesichert erscheinen
\litref{7}.
\grqq{}
780 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,
781 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung
782 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine
783 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an
784 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft
785 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,
786 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem
787 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden
788 wir finden, daß
\name{Einsteins
} Darstellung in Wahrheit eine
789 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden
793 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen
794 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität
795 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen
796 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher
797 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen
798 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen
801 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von
802 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.
803 In diesem Koordinatensystem ist dann das
804 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß
805 dann das vierdimensionale Linienelement
807 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 \diff{x_
\nu}^
2
809 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale
810 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch
811 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich
812 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird
813 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,
814 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:
816 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 g_
{\mu\nu} \diff{x_
\mu} \diff{x_
\nu}.
819 Dieser Ausdruck ist nach
\name{Gauß
} und
\name{Riemann
}
820 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie
\Footnote{b
}
821 {Wir gebrauchen hier das Wort
\glqq{}euklidisch
\grqq{} für die vierdimensionale
822 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen
823 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen
824 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen
825 Raum, denn wenn die erstere eine
\name{Riemann
}sche Krümmung aufweist,
826 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch
827 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die
828 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten
\name{Erwin Freundlich
}, Anmerkung
831 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_
{\mu\nu}$ drücken sich
832 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems
833 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung
834 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld
835 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für
836 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang
837 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld
838 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten
839 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß
840 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat
\name{Einstein
} den
841 Schluß gezogen, daß
\emph{jedes
} Gravitationsfeld, nicht bloß
842 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung
843 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.
845 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine
846 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;
847 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der
848 \name{Einstein
}schen Extrapolation geführt haben.
850 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch
851 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen
852 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,
853 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen
854 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.
855 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit
856 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:
857 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß
858 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit
859 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine
860 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.\,B. daß
861 das
\name{Riemann
}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall
862 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar
863 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur
864 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale
865 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische
867 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche
868 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann
869 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen
870 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten
871 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme
872 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen
873 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige
874 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des
875 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum
876 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes
877 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen
878 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber
879 bleibt dabei gleich Null.
881 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung
882 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.
883 Wenn also die
\name{Einstein
}sche Theorie, indem sie von
884 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen
885 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer
886 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich
887 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet
888 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,
889 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir
890 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.
891 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch
892 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische
893 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte
894 Raum das Krümmungsmaß Null behält.
896 Auch das von
\name{Einstein
} angeführte Beispiel der rotierenden
897 Kreisscheibe
\litref{8} kann eine so weitgehende Verallgemeinerung
898 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings
899 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender
900 Beobachter für den Quotienten aus Umfang
901 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als $
\pi$
903 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem
904 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber
905 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate
906 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von
907 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das
908 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit
909 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --
910 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge
911 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine
912 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was
913 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).
914 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,
915 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des
916 Sonnensystems, das für die
\name{Newton
}schen Gleichungen
917 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe
918 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß
921 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie
922 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als
923 die
\name{Einstein
}sche. Wir wollen folgende Forderungen an
926 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in
927 die spezielle Relativitätstheorie;
929 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer
930 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.
932 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden
933 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.\,B.
934 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem
935 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des
936 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken
937 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem
938 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante
940 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich
941 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen
942 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;
943 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß
944 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen
945 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.
946 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das
947 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen
948 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung
949 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten
950 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen
951 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und
952 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene
953 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische
956 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von
\name{Einstein
}
957 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang
958 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a
959 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei
\emph{festgehaltenem
960 Raumgebiet
} die Feldstärken in den verschiedenen
961 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch
962 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß
963 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;
964 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir
965 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in
966 der Weise vollziehen, daß wir
\emph{bei festgehaltener Feldstärke
}
967 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.
968 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes
969 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende
\name{Einstein
}sche
970 Voraussetzung für die Extrapolation machen:
972 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich
973 kleine Gebiete übergehen in die spezielle
977 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b
980 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld
981 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend
982 homogen betrachten dürfen. Dort können wir
983 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die
984 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem
985 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar
986 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme
987 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.
988 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes
989 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen
990 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen
991 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören
992 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit
993 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch
994 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$
995 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c
996 mit Forderung b nicht vereinbar.
998 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen
999 Relativitätstheorie nach der
\name{Einstein
}schen Forderung c
1000 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie
1001 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes
1002 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen
1003 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl
1004 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die
1005 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des
1006 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.
1008 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits
1009 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die
1010 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation
1011 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt
1012 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit
1014 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die
1015 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine
1016 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,
1017 daß also der
\emph{Raum homogen
} ist; denn nur unter dieser
1018 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine
1019 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn
1020 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.
1021 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,
1022 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung
1023 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten
1024 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,
1025 so daß doch keine Annäherung an die spezielle
1026 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den
1027 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens
1028 beruht die Forderung c auf dem
\name{Einstein
}schen Äquivalenzprinzip,
1029 denn sie besagt, daß
\emph{jedes
} homogene Gravitationsfeld,
1030 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,
1031 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier
1032 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.
1033 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die
1034 Gleichheit von schwerer und träger Masse für
\emph{jedes
}
1035 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch
1036 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment
1037 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.
1038 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche
1039 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.
1041 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und
1042 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien
1043 im
\name{Kant
}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,
1044 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden
1045 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c
1046 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse
1047 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß
1049 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf
1050 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da
1051 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität
1052 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,
1053 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die
1054 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch
1055 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen
1056 Fall in die spezielle übergeht, die
\emph{Stetigkeit der Gesetze
},
1057 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen
1058 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie
1059 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen
1060 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie
1061 folgende Prinzipien als
\emph{gemeinsam unvereinbar mit
1062 der Erfahrung
} nachgewiesen hat.
1065 \item Prinzip der speziellen Relativität
1066 \item Prinzip der normalen Induktion
1067 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz
1068 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze
1069 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen
1070 \item Prinzip der Homogenität des Raumes
1071 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.
1074 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar
1075 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und
1076 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,
1077 mit Ausnahme des ersten, apriori im
\name{Kant
}ischen
1078 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches
1079 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden
1080 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.
1082 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das
1083 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.
1084 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir
1085 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch
1086 der
\name{Einstein
}sche Raum noch besitzt.
1089 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der
\name{Einstein
}schen
1090 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr
1091 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,
1092 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen
1093 wird.
\name{Riemann
} nennt diese Eigenschaft:
1094 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen
\grqq{}. Sie drückt sich analytisch
1095 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements
1096 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl
1097 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das
1098 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.
1099 Man kann also ein Koordinatensystem immer so
1100 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet
1101 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß
1102 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld
1103 immer
\glqq{}wegtransformieren
\grqq{} kann, wie auch das Feld
1104 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied
1105 zwischen den durch Transformation erzeugten und
1106 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der
1107 Inhalt der
\name{Einstein
}schen Äquivalenzhypothese für die
1108 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese
1109 Hypothese der Grund für die quadratische Form des
1110 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen
1111 hat danach ihren
\emph{physikalischen
} Grund. Würden die
1112 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für
1113 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa
1114 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde
1115 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes
1118 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen
1119 Form für das Linienelement auch folgendermaßen
1120 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen
1121 $g_
{\mu\nu}$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der
1122 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig
1124 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,
1125 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen
1126 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der
1127 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die
1128 metrischen Funktionen $g_
{\mu\nu}$ gilt also
\emph{keine
} Relativität,
1129 d.\,h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man
1130 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn
1131 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem
1132 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in
1133 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen
1134 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie
1135 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese
1136 Eigenschaft
\glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten
\grqq{}
1137 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die
1138 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.
1139 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für
1140 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere
1141 Formen, z.\,B. den Differentialausdruck vierten Grades,
1142 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der
1143 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die
1144 \name{Einstein
}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in
1145 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb
1146 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische
1147 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer
1148 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.
1153 \chapter*
{IV. Erkenntnis als Zuordnung.
}
1156 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie
1157 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie
1158 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,
1159 den Sinn des Apriori zu formulieren.
1161 Es ist das Kennzeichen der modernen
\emph{Physik,
} daß
1162 sie alle Vorgänge durch
\emph{mathematische
} Gleichungen
1163 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf
1164 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.
1165 Für den mathematischen Satz bedeutet
\emph{Wahrheit
}
1166 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen
1167 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas
1168 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.
1169 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der
1170 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute
1171 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur
1172 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese
1173 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der
1174 beiden Wissenschaften.
1176 Der
\emph{mathematische Gegenstand
} ist durch die
1177 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig
1178 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie
1179 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten
1180 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede
1181 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er
1182 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.
1183 Und durch die Axiome: denn sie geben die
1185 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen
1186 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe
1187 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen
1188 definiert. Wenn
\name{Hilbert
}\litref{9} unter seine Axiome der
1189 Geometrie den Satz aufnimmt:
\glqq{}unter irgend drei
1190 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,
1191 der zwischen den beiden andern liegt
\grqq{}, so ist dies ebensowohl
1192 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte
1193 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation
1194 \glqq{}zwischen
\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine
\emph{erschöpfende
}
1195 Definition. Aber die Definition wird vollständig
1196 durch die Gesamtheit der Axiome. Der
\name{Hilbert
}sche
1197 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was
1198 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.
1199 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c
\ldots{} an Stelle
1200 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,
1201 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten
1202 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,
1203 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die
1204 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch
1205 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,
1206 und obgleich unsere Anschauung mit beiden
1207 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und
1208 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,
1209 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache
1210 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz
1211 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich
1212 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche
1213 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,
1214 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß
1215 eine Beziehung auf
\glqq{}absolute Definitionen
\grqq{} nötig wäre,
1216 ist von
\name{Schlick
}\litref{10} in der Lehre von den impliziten Definitionen
1217 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese
1219 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit
1220 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.
1222 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,
1223 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.
1224 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung
1225 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich
1226 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,
1227 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten
1228 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.
1229 \name{Schlick
} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine
1230 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht
1231 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen
1232 empirischen Ungenauigkeiten ist.
1234 Für den
\emph{physikalischen Gegenstand
} aber ist eine
1235 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der
1236 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.
1237 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des
1238 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen
1239 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,
1240 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie
1241 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung
1242 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen
1243 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was
1244 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System
1245 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt
1246 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,
1247 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß
1248 dies System von Gleichungen
\emph{Geltung für die Wirklichkeit
}
1249 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als
1250 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir
1251 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen
1252 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die
1253 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des
1255 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die
\emph{einzelnen
}
1256 Dinge den
\emph{einzelnen
} Gleichungen. Dabei ist das
1257 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als
1258 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,
1259 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur
1260 \glqq{}Kugel
\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und
1261 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe
1262 der Zuordnung vollziehend, als
\glqq{}Wahrnehmungsbilder der
1263 Erde
\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem
\name{Boile
}schen
1264 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p
\cdot V = R
\cdot T$
1265 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte
1266 (z.\,B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte
1267 (z.\,B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen
1268 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung
1269 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist
1270 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine
1271 Metaphysik hinweg zu interpretieren.
1273 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen
1274 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet
1275 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.
1276 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie
1277 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen
1278 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.
1279 Dazu müssen aber die Elemente jeder der
1280 Mengen
\emph{definiert
} sein; d.\,h. es muß für jedes Element
1281 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die
1282 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese
1283 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen
1284 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,
1285 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber
1286 für das
\glqq{}Wirkliche
\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.
1287 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst
1288 durch die Zuordnung zu Gleichungen.
1291 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen
1292 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge
1293 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa
1294 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu
1295 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst
1296 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl
1297 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt
1298 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder
1299 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem
1300 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,
1301 welcher von ihnen
\glqq{}rechts
\grqq{}, welcher
\glqq{}links
\grqq{} liegt. Aber
1302 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden
1303 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen
1304 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der
1305 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst
1306 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem
1307 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er
1308 zu der zugeordneten Untermenge gehört; um das festzustellen,
1309 müssen wir erst nach einer Methode, die durch
1310 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine
1311 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung
1312 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge
1313 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das
1314 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn
1315 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene
1316 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die
1317 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung
1318 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen
1319 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.
1320 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer
1321 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem
1322 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte
1323 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen
1325 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben
1326 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die
1327 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb
1328 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man
1329 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der
1330 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt
1331 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende
1332 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen
1333 angegeben sind. So kann man fordern, daß
1334 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter
1335 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt
1336 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen
1337 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die
1338 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung
1339 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden
1340 worden sind, ist durch die diskrete Menge und
1341 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den
1342 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung
1343 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber
1344 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen
1345 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen
1346 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben
1349 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer
1350 noch von der Zuordnung, die im
\emph{Erkenntnisprozeß
}
1351 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die
\emph{Obermenge
}
1352 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.
1353 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft
1354 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,
1355 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;
1356 von letzterer z.\,B. in der Forderung, daß dem
1357 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden
1358 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für
1360 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben
1361 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber
1362 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist
1363 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,
1364 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal
1365 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was
1366 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst
1367 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,
1368 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten
1369 eine Größe
\glqq{}Länge
\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht
1370 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.
1371 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir
1372 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,
1373 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre
1374 Ordnung erhält, sondern
\emph{in ihren Elementen erst
1375 durch die Zuordnung definiert wird
}.
1377 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung
1378 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,
1379 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung
1380 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element
1381 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben
1382 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers
1383 als solches Element auf, so geraten wir deshalb
1384 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr
1385 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.\,B. auf dem Manometer
1386 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies
1387 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,
1388 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,
1389 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem
1390 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,
1391 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen,
\glqq{}das Wesentliche
1392 vom Unwesentlichen scheiden
\grqq{}; aber das ist bereits
1393 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen
1395 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn
1396 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.
1397 Man könnte vermuten, daß etwa die
\emph{zeitliche Aufeinanderfolge
}
1398 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite
1399 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.
1400 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil
1401 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung
1402 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen
1403 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge
1404 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über
1405 den
\glqq{}wirklichen
\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert
1406 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,
1407 z.\,B. muß die physikalische Natur der Uhren,
1408 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der
1409 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete
1410 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung
1411 brauchbaren Ordnungssinn.
1413 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes
1414 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge
1415 der wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen
1416 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein
1417 Erkenntnisurteil, d.\,i. aber ein Zuordnungsprozeß, kann
1418 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines
1419 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem
1420 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.
1421 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der
1422 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die
1423 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen
1424 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was
1425 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine
\emph{Definition
}
1426 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.
1428 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten
1429 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die
1431 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge
1432 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte
1433 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß
1434 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre
1435 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst
1436 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.
1438 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem
1439 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man
1440 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen
\glqq{}wirklich
\grqq{}
1441 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein
1442 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so
1443 die Auffassung des
\name{Berkeley
}schen Solipsismus und in
1444 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.
1445 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.
1446 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre
1447 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur
1448 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich
1449 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,
1450 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise
1451 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung
1452 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren
1453 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge
1454 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt
1455 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten
1456 Seite vorschreibt.
\emph{In dieser Wechselseitigkeit der
1457 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen
1458 aus
}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von
1459 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.
1460 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene
1461 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns
1462 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu
1465 Hier erhebt sich die Frage: Worin besteht denn die
1467 Auszeichnung der
\glqq{}richtigen
\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet
1468 sie sich von der
\glqq{}unrichtigen
\grqq{}? Nun, dadurch,
1469 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden
1470 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.
1471 Berechnet man etwa aus der
\name{Einstein
}schen Theorie
1472 eine Lichtablenkung von $
1,
7^
{\prime\prime}$ an der Sonne, und würde
1473 man an Stelle dessen $
10^
{\prime\prime}$ finden, so ist das ein Widerspruch,
1474 und solche Widersprüche sind es allemal, die über
1475 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun
1476 ist die Zahl $
1,
7^
{\prime\prime}$ auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen
1477 an anderem Material gewonnen; die Zahl $
10^
{\prime\prime}$
1478 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs
1479 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe
1480 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente
1481 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und
1482 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis
1483 die Zahl
1,
7 zuordnet, die andere die Zahl
10, und dies
1484 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend
1485 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen
1486 wir
\emph{wahr
}.
\name{Schlick
} hat deshalb ganz recht, wenn er
1487 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert
}\litref{11}.
1488 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe
1489 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine
1490 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;
1491 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten
1492 Erfahrungswissenschaft durch
\name{Galilei
} und
\name{Newton
} und
1493 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch
\name{Kant
} als unbedingter
1494 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß
1495 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im
1496 Erkenntnisprozeß zukommt.
\emph{Die Wahrnehmung liefert
1497 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung
}.
1498 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande
1499 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber
1501 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer
1502 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen
1503 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind
1504 nämlich gar keine Täuschung der
\emph{Sinne
}, sondern der
1505 \emph{Interpretation
}; daß auch in der Halluzination die
1506 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,
1507 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die
1508 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen
1509 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist
1510 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb
1511 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde
1512 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,
1513 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer
1514 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein
1515 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang
1516 zurückführen will, denn ich beobachte auf der
1517 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung
1518 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den
1519 einer physiologischen Theorie, so entsteht
\emph{kein
} Widerspruch,
1520 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr
1521 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage
1522 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung
1523 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung
1524 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also
1525 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft
1526 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist
1527 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.
1529 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte
1530 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von
1531 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen
1532 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort
1533 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der
1534 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte
1536 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe
1537 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu
1538 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls
1539 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene
1540 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für
1541 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,
1542 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen
1543 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,
1544 die dies leistet, immer dieselben Elemente der
1545 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.
1546 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit
1547 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt
1548 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit
1549 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren
1550 deshalb:
\emph{Eindeutigkeit
} heißt für die Erkenntniszuordnung,
1551 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung
1552 aus
\emph{verschiedenen Erfahrungsdaten
} durch
1553 \emph{dieselbe Messungszahl
} wiedergegeben wird.
1555 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße
1556 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an
1557 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die
1558 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen
1559 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine
1560 Behauptung der Kausalität
\Footnote{c
}
1561 {Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft
1562 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein
1563 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,
1564 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint
1565 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht
1566 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt
1567 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte
1568 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.
1569 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation
1570 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität
1571 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.
}. Auch wenn sie nicht
1573 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;
1574 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung
1575 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen
1576 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,
1577 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,
1578 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings
1579 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert
1580 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und
1581 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet
1582 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier
1583 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,
1584 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener
1585 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.
1587 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig
1588 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man
1589 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie
1590 bedeutet nichts anderes als die
\name{Kant
}ische Frage: Wie ist
1591 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe
1592 sein, die Antwort, die
\name{Kant
} auf diese Frage gab, mit den
1593 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu
1594 untersuchen, ob die
\name{Kant
}ische Antwort sich heute noch
1595 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,
1596 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort
1597 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie
1598 geben kann, die an ihr vorbeigeht.
1600 Was bedeutet das Wort
\glqq{}möglich
\grqq{} in dieser Frage?
1601 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch
1602 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er
1603 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht
1604 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen
1605 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier
1606 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet
1607 die Frage nach den logischen Bedingungen der
1609 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß
1610 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst
1611 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über
1612 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge
1613 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung
1614 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,
1615 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne
1616 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen
1617 Frage diese Form geben:
\emph{Mit welchen Prinzipien wird
1618 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
1621 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,
1622 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien
1623 charakterisieren. Denn sie bedeuten
1624 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori
\name{Kants
}.
1629 \chapter*
{V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite
1630 Voraussetzung Kants.
}
1633 Der Begriff des Apriori hat bei
\name{Kant
} zwei verschiedene
1634 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie
\glqq{}apodiktisch
1635 gültig
\grqq{},
\glqq{}für alle Zeiten gültig
\grqq{}, und zweitens bedeutet
1636 er
\glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend
\grqq{}.
1638 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.
1639 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,
1640 ist nach
\name{Kant
} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung
1641 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den
1642 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch
1643 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,
1644 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt
1645 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in
1646 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der
1647 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter
1648 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in
1649 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls
1650 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche
1651 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand
1652 der Wissenschaft ist also nicht ein
\glqq{}Ding an sich
\grqq{},
1653 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung
1654 basiertes Bezugsgebilde.
1656 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den
1657 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,
1658 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß
1659 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element
1660 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,
1662 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der
1663 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht
1664 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart
1665 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe
1666 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren
1667 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.
1668 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der
1669 Erfahrung bezeichnen.
\name{Kant
} nennt als solche Schemata
1670 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen
1671 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen
1672 für die eindeutige Zuordnung sind.
1674 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls
1675 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die
1676 zentrale Stellung, die er seit
\name{Kant
} in der Erkenntnistheorie
1677 inne hat. Es war die große Entdeckung
\name{Kants
},
1678 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin
1679 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente
1680 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten
1681 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt
1682 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur
1683 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte
1684 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht
1685 \name{Kant
} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar
1686 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der
1687 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.
1689 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und
1690 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu
1691 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht
1692 unzweckmäßig, sich die
\name{Kant
}ische Lehre in mehr anschaulicher
1693 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit
1694 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken
1695 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß
1696 die
\name{Kant
}ischen Begriffsbildungen einer mehr von
1698 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten
1699 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser
1700 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.
1701 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe
1704 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in
1705 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen
1706 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie
1707 es vor uns steht; es hat keinen Sinn, dieses Sein noch
1708 näher definieren zu wollen, denn was
\glqq{}wirklich
\grqq{} bedeutet,
1709 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung
1710 bleiben Analogien oder sind Darstellungen für den
\emph{begrifflichen
1711 Ausdruck
} dieses Erlebnisses. Die Wirklichkeit
1712 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit
1713 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur
1714 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche
1715 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem
1716 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert
1717 wird, was in dem
\glqq{}Kontinuum
\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding
1718 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang
1719 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes
1720 Einzelding
\glqq{}in Wirklichkeit da ist
\grqq{}.
1722 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei
1723 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,
1724 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem
1725 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst
1726 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch
1727 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich
1728 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene
1729 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion
1730 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man
1731 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man
1732 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei
1734 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,
1735 die von der Definiertheit der Elemente auf
\emph{beiden
} Seiten
1736 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer
1737 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes
1738 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,
1739 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den
1740 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder
1741 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre
1742 z.\,B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) =
0$
1743 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies
1744 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen
1745 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung
1746 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,
1747 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und
1748 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.
1749 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter
1750 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.
1751 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,
1752 daß man für jeden Wert $z = p =
\mathrm{konst.
}$ eine Kurve
1753 $f(x, y, p) =
0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige
1754 Funktion $
\varphi (x, z) = p^
\prime =
\mathrm{konst.
}$ annehmen und $p^
\prime$ als Parameter
1755 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von
1756 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut
1757 ein Bild der Funktion $f(x, y, z)$ wie die erste. Man
1758 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser
1759 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser
1760 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen
1761 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also
1762 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der
1763 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu $f(x, y, z)$
1764 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters
1765 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine
1766 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei
1768 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,
1769 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur
1770 auf die
\emph{eine
} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem
1771 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem
1774 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente
1775 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und
1776 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien
1777 der ersten Art geben, sondern nur solche, die
1778 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen
1779 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen
1780 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art
1781 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große
1782 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen
1783 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber
1784 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses
1785 überhaupt, und hängt damit zusammen,
1786 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes
1787 bedeutet als eine Beziehung auf
\glqq{}dasselbe
\grqq{} Element der
1788 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung
1789 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert
1790 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für
1791 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für
1792 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung
1793 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der
1794 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie
1795 \emph{konstitutiv
} für den wirklichen Gegenstand; in
\name{Kants
}
1796 Worten:
\glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein
1797 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann
\grqq{}\litref{12}.
1799 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip
1800 genannt, welches definiert, wann
1801 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten
1802 anzusehen sind
\litref{13}. (Man denke etwa an eine
1804 Verteilung nach dem
\name{Gauß
}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip
1805 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,
1806 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch
1807 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen
1808 dient; es definiert die physikalische Konstante.
1809 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip
\litref{14},
1810 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen
1811 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in
1812 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch
1813 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn
1814 sie besagen z.\,B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt
1815 definieren. Für die alte Physik war auch
1816 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn
1817 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne
1818 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten
1819 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie
1820 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,
1821 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen
1822 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese
1823 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung
1824 sind und ihr als
\emph{Zuordnungsaxiome
} vorangestellt
1825 werden können, unterscheiden sie sich von den
1826 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man
1827 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives
1828 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen
1829 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen
1830 enthalten aber immer noch spezielle mathematische
1831 Operationen; so geben die
\name{Einstein
}schen Gravitationsgleichungen
1832 an, in welcher speziellen mathematischen
1833 Beziehung die physikalische Größe $R_
{ik
}$ zu den
1834 physikalischen Größen $T_
{ik
}$ und $g_
{ik
}$ steht. Wir wollen sie
1835 deshalb
\emph{Verknüpfungsaxiome
} nennen
\litref{15}. Die Zuordnungsaxiome
1836 unterscheiden sich von ihnen dadurch,
1838 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,
1839 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen
1840 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen
1841 die Axiome der Arithmetik als Regeln der
1842 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien
1845 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig
1846 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen
1847 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an
1848 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher
1849 Weise gebunden. Wenn wir z.\,B. ein bestimmtes
1850 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,
1851 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand
1852 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen
1853 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen
1854 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive
1855 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs
\Footnote{d
}
1856 {Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der
1857 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen
1858 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die
1859 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.
}.
1860 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,
1861 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch
1862 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als
1863 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang
1864 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis
1865 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber
1866 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,
1867 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche
1868 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der
1869 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch
1870 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so
1871 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte
1873 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten
1876 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,
1877 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.
1878 Definieren wir einmal
\glqq{}apriori
\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung
1879 als
\glqq{}Gegenstand konstituierend
\grqq{}. Wie folgt
1880 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,
1881 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?
1883 \name{Kant
} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die
1884 menschliche Vernunft, d.\,i. der Inbegriff von Verstand
1885 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.
1886 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach
1887 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit
1888 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist
1889 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande
1890 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis
1891 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese
1892 apodiktische Gültigkeit.
1894 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht
1895 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch
1896 \emph{Erfahrungen
} eine Änderung der menschlichen Vernunft
1897 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft
1898 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren
1899 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und
1900 für
\name{Kant
} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,
1901 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive
1902 Prinzipien benutzen als wir
\litref{16}; damit ist natürlich
1903 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische
1904 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,
1905 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft
1906 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet.
\name{Kant
}
1907 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie
1908 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine
1910 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft
1911 und ihrer Ordnungsprinzipien durch
\emph{Erfahrungen
}; in
1912 diesem Sinne ist das
\glqq{}apodiktisch gültig
\grqq{} zu verstehen.
1914 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen
1915 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:
1916 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,
1917 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung
1918 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien
1919 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den
1920 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,
1921 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die
1922 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die
1923 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert.
\name{Kants
}
1924 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht
1925 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den
1926 Abschnitten II und III eine Reihe von Prinzipien apriori
1927 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach
1928 dem
\name{Kant
}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben
1929 würden. Wir durften dafür das Kriterium der
1930 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von
\name{Kant
} als
1931 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch
1932 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die
1933 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen
1936 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien
1937 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige
1938 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns
1939 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht
1940 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft
1941 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das
1942 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von
1943 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein
1944 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen
1946 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur
1947 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich
1948 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit
1949 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,
1950 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien
1951 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.
1953 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer
1954 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es
1955 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die
1956 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,
1957 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise
1958 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der
1959 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht
1960 alle verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf
1961 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,
1962 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie
1963 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme
1964 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur
1965 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen
1966 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich
1967 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht
1968 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System
1969 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme
1970 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel
1971 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung
1972 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene
1973 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.
1974 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die
1975 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System
1976 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,
1977 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich
1978 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.
1980 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht
1982 so einfach schließen. Wäre z.\,B. das Prinzipiensystem
1983 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze
1984 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System
1985 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen
1986 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung
1987 \name{Kants
}) deuten, daß es sich in dem evidenten
1988 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.
1989 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,
1990 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System
1991 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann
1992 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen
1993 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch
1994 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,
1995 die Wahrnehmung, von dem System ganz
1996 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl
1997 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn
1998 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir
1999 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,
2000 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst
2001 das euklidische System übernommen wird; daß durch das
2002 so gewonnene System kein Widerspruch entsteht, läßt
2003 sich erst durch den
\emph{konsequenten Ausbau dieser
2004 Geometrie
} feststellen. Freilich ist gerade das System
2005 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann
2006 hier nur der
\emph{Ausbau einer experimentellen Physik
}
2007 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,
2008 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,
2009 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.
2011 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich
2012 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte
2013 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen
2014 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer
2015 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip
2017 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt
2018 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten
2019 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien
2020 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert
2021 ein
\emph{System
}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht
2022 auskommen; und auch die
\name{Kant
}ische Philosophie hat
2023 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen
2024 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,
2025 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip
2026 enthält unter Umständen einen
\emph{Komplex
} von Gedanken,
2027 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe
2028 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem
\emph{unvollständigen
}
2029 System äquivalent ist.
2031 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;
2032 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine
2033 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung
2034 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn
2035 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der
2036 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen
2037 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit
2038 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die
2041 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir
2042 die Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre von der
2043 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig
2044 machen können.
\name{Kants
} Theorie enthält die Hypothese,
2045 daß es
\emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme
2046 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der
2047 Wirklichkeit gibt
}. Da diese Hypothese gleichbedeutend
2048 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit
2049 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu
2050 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
2051 kommen kann, wollen wir sie als
\emph{Hypothese
}
2053 \emph{der Zuordnungswillkür
} bezeichnen. Nur wenn sie
2054 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes
2055 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die
2056 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung
2057 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt
2058 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die
2059 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.
2064 \chapter*
{VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung
2065 durch die Relativitätstheorie.
}
2068 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte II und III
2069 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie
2070 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung
2071 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?
2072 Schließt nicht der
\name{Kant
}ische Beweis für die unbeschränkte
2073 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch
2076 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit
2077 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet
2078 wird, auf S.~
15 zusammengestellt. Wir haben
2079 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit
2080 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten
2081 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials
2082 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen
2083 der Dehnbarkeit des Begriffs
\glqq{}normal
\grqq{} ist das in gewissen
2084 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch
2085 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch
2086 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält
2087 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale
2088 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne
2089 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet
2090 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im
2091 Sinne
\name{Kants
}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die
2092 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines
2093 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven
2094 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.
2097 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse
2098 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach
2099 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf S.~
29
2100 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet
2101 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr
2102 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip
2103 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses
2104 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten
2105 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,
2106 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt
2107 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung
2108 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt
2109 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente
2110 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den
2111 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu
2112 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,
2113 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.
2115 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf
2116 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die
2117 Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,
2118 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.
2119 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips
2120 für die Erkenntnis untersucht werden.
2122 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem
2123 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß
2124 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit
2125 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der
2126 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;
2127 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß
2128 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der
2129 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist
2130 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im
2131 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über
2133 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie
2134 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur
2135 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium
2136 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die
2137 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.
2138 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,
2139 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,
2140 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem
2141 Gedanken beruht der
\name{Kant
}ische Beweis für die Unabhängigkeit
2142 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.
2143 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage
2144 unmittelbar an diesen Beweis.
2146 \name{Kants
} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung
2147 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien
2148 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze
2149 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der
2150 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,
2151 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine
2152 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr
2153 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein
2154 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.
2156 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung
2157 zweier Fragen zurückführen.
2159 Ist es logisch
\emph{widersinnig
}, solche induktiven Deutungen
2160 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen
2161 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?
2163 Ist es logisch
\emph{zulässig
}, vor der induktiven Deutung
2164 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,
2165 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?
2167 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,
2168 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen
2169 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang
2171 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren
2172 der Physik, wie wir es im Abschnitt II geschildert
2173 haben, verstehen werden.
2175 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn
2176 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man
2177 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines
2178 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen
2179 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das
2180 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren
2181 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr
2182 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit
2183 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man
2184 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien
2185 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,
2186 daß das zu prüfende Prinzip bereits in
\emph{sämtlichen
} zur
2187 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.
2188 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des
2189 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.
2191 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir
2192 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht
2193 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.
2195 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage
2196 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein
2197 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es
2198 seien etwa Messungen zum
\name{Boile
}schen Gesetz ausgeführt,
2199 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe
2200 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte
2201 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen
2202 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen
2203 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$
2204 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch
2205 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen
2206 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.\,B. die
2208 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört
\Footnote{e
}
2209 {Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente
2210 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen
2211 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten
2212 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der
2213 Bezeichnungsweise.
}.
2214 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb
2215 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler
2216 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich
2217 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen
2218 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren
2219 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre
2220 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler
2221 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß
2222 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch
2223 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe
2224 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist
2225 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel
2226 $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende
2227 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen
2228 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die
2229 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur
2230 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende
2231 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man
2232 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen
2233 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings
2234 \emph{möglich
}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen
2235 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer
2236 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig
2237 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden
2238 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte
2239 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß
2240 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen
2242 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der
2243 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede
2244 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion
2245 festgehalten werden
\litref{18}.
2247 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn
2248 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.
2249 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,
2250 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip
2251 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der
2252 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle
2253 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,
2254 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar
2255 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische
2256 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.
2257 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen
2258 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst
2259 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn
2260 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so
2261 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als
2262 das Induktionsprinzip.
2264 Der
\name{Kant
}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus
2265 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien
2266 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie
2267 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen
2268 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort
2269 auf die
\name{Kant
}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in
2270 folgenden Satz zusammenfassen:
\emph{Es gibt Systeme von
2271 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der
2272 Zuordnung unmöglich machen, also implizit
2273 widerspruchsvolle Systeme.
} Wir bemerken nochmals,
2274 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,
2275 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen
2276 Physik möglich wurde. Hat man kein solches
2278 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung
2279 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu
2280 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip
2281 gesprochen werden könnte.
2283 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine
2284 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich
2285 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches
2286 durch
\emph{Evidenz
} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;
2287 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht
2288 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch
2289 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch
2290 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr
2291 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der
2292 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir
2293 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß
2294 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie
2295 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen
2296 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur
2297 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses
2298 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß
2299 Zuordnungsprinzipien in
\emph{jedem
} Gesetz enthalten sind,
2300 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen
2301 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische
2302 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,
2303 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,
2304 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.
2305 Wollte man z.\,B. versuchsweise den Raum als vierdimensional
2306 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser
2307 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung
2308 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität
2309 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle
2310 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in
2311 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts
2313 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren
2314 wäre aber
\emph{technisch unmöglich
}. Denn wir können
2315 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.
2317 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß
2318 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt
2319 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch
2322 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie
2323 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem
2324 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;
2325 und das Verfahren, welches
\name{Einstein
} dabei benutzt hat,
2326 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.
2328 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem
2329 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit
2330 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter
2331 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine
2332 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden
2333 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze
2334 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt
2335 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit
2336 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.
2337 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,
2338 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem
2339 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung
2340 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.
}
2341 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil
2342 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte
2343 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit
2344 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses
2345 induktive Verfahren als
\emph{Verfahren der stetigen Erweiterung
2348 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie
2349 ging. Als
\name{Eötvös
} die Gleichheit von
2351 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte
2352 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung
2353 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner
2354 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat
2355 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der
2356 \name{Riemann
}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper
2357 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie
2358 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,
2359 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen
2360 vernachlässigt werden können. Wenn z.\,B.
2361 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen
2362 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so
2363 braucht er deswegen noch nicht die
\name{Einstein
}sche Zeitkorrektion
2364 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem
2365 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,
2366 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis
2367 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie
2368 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld
2369 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung
2370 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb
2371 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion
2372 nach der üblichen Methode berechnen.
2373 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf
2374 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie
2375 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung
2376 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich
2377 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,
2378 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen
2379 liegen und darum als euklidisch angenommen
2382 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung
2383 den Kernpunkt für die Widerlegung der
\name{Kant
}ischen
2384 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur
2386 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern
2387 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und
2388 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,
2389 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.
2391 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,
2392 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür
2393 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung
\name{Kants
}
2394 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen
2395 mag.
\name{Kant
} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit
2396 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl
2397 bewußt, daß er einen
\emph{Beweis für diese Möglichkeit
}
2398 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,
2399 daß
\emph{Erkenntnis unmöglich
} wäre, und sah es für einen
2400 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit
2401 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den
2402 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden
2403 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier
2404 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum
2405 Gegenstand der Untersuchung gemacht.
\glqq{}Der Verstand
2406 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,
2407 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein
2408 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer
2409 gewissen Ordnung der Natur
\ldots{} Diese Zusammenstimmung
2410 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird
2411 von der Urteilskraft
\ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie
2412 der
\emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt
}.
2413 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für
2414 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche
2415 Ordnung zu entdecken
\litref{19}.
\grqq{} Es erscheint befremdend,
2416 daß
\name{Kant
}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit
2417 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an
2418 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der
2420 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem
2421 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten
2422 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,
2423 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den
2424 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der
2425 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht
2426 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie
2427 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven
2428 Prinzipien ändern muß, glaubte
\name{Kant
}, daß damit jede
2429 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche
2430 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene
2431 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,
2432 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung
2433 fortkommen und Erkenntnis erwerben können
\grqq{}. Erst das
2434 \name{Kant
} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung
2435 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein
2436 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens
2437 durch die Physik widerlegt werden.
2439 Wir müssen dieser Auflösung der
\name{Kant
}ischen Aprioritätslehre
2440 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.
2441 Es scheint uns der Fehler
\name{Kants
} zu sein, daß er, der mit
2442 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie
2443 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten
2444 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen
2445 der Erkenntnis suchte, so mußte er die
\emph{Erkenntnis
}
2446 analysieren; aber was er analysierte, war die
\emph{Vernunft
}.
2447 Er mußte
\emph{Axiome
} suchen, anstatt
\emph{Kategorien
}. Es ist
2448 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft
2449 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,
2450 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,
2451 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine
2452 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft
2453 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das
2455 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar
2456 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf
2457 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner
2458 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft
2459 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch
2460 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen
2461 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig
2462 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade
2463 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann
2464 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem
2465 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch
2466 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die
2467 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel
2468 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem
2469 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein
2470 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft
2471 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen
2472 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren
2473 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung
2474 des
\glqq{}gesunden Menschenverstandes
\grqq{}, jener
2475 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich
2476 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.
2478 In diesem Verfahren
\name{Kants
} scheint uns sein methodischer
2479 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig
2480 angelegte System der kritischen Philosophie nicht
2481 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden
2482 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die
2483 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller
2484 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen
2485 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung
2486 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht
2492 \chapter*
{VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die
2493 wissenschaftsanalytische Methode.
}
2496 Die Widerlegung des positiven Teils der
\name{Kant
}ischen
2497 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,
2498 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen
2499 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,
2500 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig
2501 von der
\name{Kant
}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und
2502 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine
2503 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der
2504 \name{Kant
}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur
2505 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit
2506 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung
2507 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?
2509 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der
\emph{wissenschaftsanalytischen
2510 Methode
} in die Erkenntnistheorie.
2511 Die von den positiven Wissenschaften in stetem
2512 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate
2513 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische
2514 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau
2515 der Axiomatik, die seit
\name{Hilberts
} Axiomen der Geometrie
2516 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen
2517 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche
2518 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar
2519 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes
2520 Verfahren gibt,
\emph{als festzustellen, welches die in der
2521 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien
2523 sind
}. Der Versuch
\name{Kants
}, diese Prinzipien aus der Vernunft
2524 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet
2525 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine
2526 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als
2527 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial
2528 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich
2529 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um
2530 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den
2531 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.
2533 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,
2534 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser
2535 bereits durchgeführt werden
\litref{20}. Sie führte zur Aufdeckung
2536 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für
2537 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der
2538 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der
2539 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie
2540 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer
2541 geleistet worden. Denn
\name{Einstein
} hat bei allen seinen
2542 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen
2543 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,
2544 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,
2545 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.
2546 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen
2547 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will
2548 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und
2549 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.
2550 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine
2551 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte
2552 II und III dieser Untersuchung aufgefaßt werden.
2554 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied
2555 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist
2556 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit
2557 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein
2559 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich
2560 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik
2561 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der
2562 \emph{Naturerkenntnis
}. Darum konnte auch die Axiomatik
2563 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische
2564 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie
2565 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,
2566 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge
2567 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.
2568 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie
2569 z.\,B.
\name{Weyl
} und auch
\name{Haas
}\litref{21}, wieder den Schluß ziehen
2570 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin
2571 zusammenwachsen. Die Frage der
\emph{Geltung
} von Axiomen
2572 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen
2573 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das
2574 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der
2575 \emph{Geltung
} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen
2576 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt
2577 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt
2578 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,
2579 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser
2580 Einwand muß der
\name{Weyl
}schen Verallgemeinerung der
2581 Relativitätstheorie
\litref{22} entgegengehalten werden, bei der
2582 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich
2583 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings
2584 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit
2585 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer
2586 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum
2587 muß die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt
2588 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre
2589 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik
2590 ist eben keine
\glqq{}geometrische Notwendigkeit
\grqq{}; wer das
2591 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt
2593 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.
2594 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine
2595 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die
2596 \name{Kant
}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern
2597 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.
2599 Der
\emph{Begriff des Apriori
} erfährt durch unsere
2600 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,
2601 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder
2602 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung
2603 der
\name{Kant
}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.
2604 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:
2605 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst
2606 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches
2607 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung
2608 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen
2609 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine
2610 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang
2611 mit anderen Gegenständen gemacht werden.
2612 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form
2613 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der
2614 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische
2615 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,
2616 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst
2617 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien
2618 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt
2619 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer
2620 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange
2621 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.
2623 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,
2624 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,
2625 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip
2626 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es
2627 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den
2629 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten
2630 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung
2631 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das
2632 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben
2633 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze
2634 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie
2635 leicht verfällt. Als man die dem
\name{Kant
}ischen
2636 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung
2637 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war
2638 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die
2639 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten
2640 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,
2641 denn
\name{Kant
} hatte gewiß mit der Substanz
2642 die Masse gemeint
\litref{23}. Aber man ist damit keineswegs
2643 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip
2644 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es
2645 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding
2646 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man
2647 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens
2648 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung
2649 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt
2650 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen
2651 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere
2652 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,
2653 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung
2654 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen
2655 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten
2656 \name{Kant
}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.
2657 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor
2658 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn
2659 wenn z.\,B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen
2660 der Koordinaten nicht invariant sind, muß
2661 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man
2663 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten
2664 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip
2665 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich
\emph{mit der
2666 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung
2667 begnügen
}. So wollen wir, nach der Niederlage der
\name{Kant
}ischen
2668 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht
2669 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und
2670 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung
2671 unter allen Umständen wenigstens die
\name{Riemann
}sche
2672 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß
2673 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts
2674 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags
2675 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom
2676 vierten Grade übergegangen ist. Die
\name{Weyl
}sche Theorie
2677 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der
\name{Einstein
}schen
2678 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch
2679 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.
2680 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar
2681 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge
2682 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der
2683 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer
2684 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß
2685 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung
2686 und gleiche Länge hat. In der
\name{Einstein-Riemann
}schen
2687 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche
2688 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der
\name{Weyl
}schen
2689 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.
2690 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert
2691 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich
2692 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die
2693 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch
2694 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge
2695 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.
2698 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige
2699 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen
2700 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten
2701 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,
2702 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt
2703 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese
2704 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter
2705 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten
2706 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen
2707 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie
2708 sie wieder aufgibt. Z.\,B. ist in der
\name{Weyl
}schen
2709 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche
2710 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem
2711 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit
2712 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.
2713 Nach der
\name{Weyl
}schen Theorie ist die Frequenz
2714 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man
2715 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß
2716 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen
2717 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.\,B. die
2718 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen
2719 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen
2720 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes
2721 solche Fälle nachweisen, wo die
\name{Weyl
}sche
2722 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.
2724 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der
2725 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung
2726 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.
2727 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen
2728 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen
2729 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,
2730 daß die Größenwerte sich einer
\emph{stetigen
} Häufigkeitsfunktion
2731 einfügen. Würde man aber z.\,B. die
2733 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische
2734 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches
2735 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese
2736 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte
2737 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer
2738 noch mit großer Näherung gelten
\litref{24}. Wir wollen uns aber
2739 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend
2740 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft
2741 wird allein zeigen können, in welcher
\emph{Richtung
} sich die
2742 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das
2743 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle
2744 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem
2745 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein
2746 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall
2747 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten
2748 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere
2749 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine
2750 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall
2751 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.
2753 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer
2754 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede
2755 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die
2756 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten
2757 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.
2758 Aber
\emph{daß
} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige
2759 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und
2760 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im
2761 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der
2762 \name{Kant
}ischen Philosophie?
2764 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder
2765 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen
2766 können: nämlich daß die
\emph{eindeutige
} Zuordnung immer
2767 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition
2769 der Erkenntnis als
\emph{eindeutiger
} Zuordnung? Aus einer
2770 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann
2771 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen
2772 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;
2773 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit
2774 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die
2775 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen
2776 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten
2777 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen
2778 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische
2779 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine
2780 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine
2781 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse
\litref{25}. Aber
2782 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es
2783 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse
2784 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und
2785 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der
2786 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem
2787 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,
2788 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede
2789 physikalische Konstante die Form hat: $C + k
\alpha$, wo $
\alpha$
2790 sehr klein und $k$ eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch
2791 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß $k$ meistens
2792 klein ist, vielleicht zwischen
1 und
10 liegt. Für Konstanten
2793 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied
2794 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine
2795 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.\,B.
2796 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die
2797 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe
2798 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem
2799 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte
2800 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der
2801 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen
2803 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen
2804 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit
2805 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer
2806 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch
2807 dadurch, daß man den neuen Ausdruck $C + k
\alpha$ einführt,
2808 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir
2809 hatten oben (Abschnitt IV) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung
2810 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen
2811 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben
2812 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit
2813 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der
2814 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck $C + k
\alpha$
2815 ist aber die Größe $k$ ganz unabhängig von physikalischen
2816 Faktoren. Darum können wir die Größe $C + k
\alpha$ niemals
2817 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten
2818 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden
2819 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.
2820 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten
2821 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.
2822 Wir hätten, da $k$ auch von den Koordinaten unabhängig
2823 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen
2824 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu
2825 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände
2826 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe
2827 $C + k
\alpha$ ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme
2828 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer
2829 \glqq{}individuellen Kausalität
\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben
2830 haben und wie sie z.\,B.
\name{Schlick
}\litref{26} als möglich annimmt,
2831 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt
2832 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen
2833 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem
2834 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt
2835 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des
2837 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu
2838 dieser etwa wie der
\name{Riemann
}sche Raum zum euklidischen;
2839 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff
2840 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung
2841 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr
2842 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie
2843 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn
2844 z.\,B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen
2845 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit
2846 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.
2847 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten
2848 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu
2849 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch
2850 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer
2851 praktischen Verwertung finden lassen.
2855 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar
2856 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon
2857 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar
2858 nicht
\emph{konstatiert
} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche
2859 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.
2860 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip
2861 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen
2862 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt
2863 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt
2864 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese
2865 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch
2866 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu
2867 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung
2868 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme
2869 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs
2870 die Bestimmtheit in die Definition
2871 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der
2873 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung
2874 des Zuordnungsbegriffs
\litref{27}.
2876 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der
2877 \name{Kant
}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,
2878 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.
2879 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren
2880 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.
2881 Denn vorläufig
\emph{gilt
} dieser Begriff, und wir können
2882 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis
2883 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der
2884 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,
2885 daß diese
\emph{stetig
} erfolgen muß, und darum wird der alte
2886 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden
2887 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem
2888 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den
2889 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit
2890 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist
2891 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell
2892 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.
2893 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich
2894 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise
2895 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --
2896 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,
2897 daß
\emph{unsere
} Resultate
\emph{nun ewig
} gelten sollen, nachdem
2898 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv
2901 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung
2902 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie
2903 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs
2904 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis
2905 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist
2906 nicht der Begriff der
\emph{Zuordnung
} überhaupt jenes allgemeinste
2907 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor
2908 aller Erkenntnis steht?
2911 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den
2912 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.
2913 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,
2914 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs
2915 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit
2916 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns
2917 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis
2918 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.
2919 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies
2920 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den
2921 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.
2922 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe
}.
2924 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische
2925 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn
2926 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle
2927 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.
2928 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung
2929 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die
2930 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist
2931 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das
2932 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.
2933 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.
2935 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu
2936 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,
2937 wenn wir die
\name{Kant
}ische Analyse der Vernunft ablehnen,
2938 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige
2939 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien
2940 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die
2941 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren
2942 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich
2943 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von
2944 der Erfahrung
\emph{erhält
}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten
2945 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft
2947 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche
2948 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von
2949 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das
2950 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen
2951 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt
2952 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,
2953 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.
2954 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt
2955 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,
2956 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während
2957 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung
2958 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet
2959 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien
2960 eine Entwicklung des
\emph{Gegenstandsbegriffs
}
2961 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung
2962 von der
\name{Kant
}ischen: während bei
\name{Kant
} nur die
2963 Bestimmung des
\emph{Einzelbegriffs
} eine unendliche Aufgabe
2964 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden,
\emph{daß auch
2965 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft
2966 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,
2967 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung
2968 entgegengehen können
}.
2970 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht
2971 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe
2972 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten
2973 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat
2974 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir
2975 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere
2976 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem
2977 in seinen begrifflichen Relationen durch
2978 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung
2979 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in
2980 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie
2982 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff
2983 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft
2984 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich
2985 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie
\name{Kant
}
2986 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,
2987 die von der Vernunft als notwendig hingestellt
2988 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet
2989 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen
2990 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur
2991 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten
2992 sind, für die
\emph{keine
} Auswahl vorgeschrieben ist,
2993 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in
2994 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich
2995 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff
2996 verdanken.
\emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der
2997 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des
2998 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche
2999 Elemente im System auftreten.
} Damit
3000 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils
3001 wesentlich gegenüber der
\name{Kant
}ischen; aber gerade
3002 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise
3005 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür
3006 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit
3007 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,
3008 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da
3009 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt
3010 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung
3011 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln
3012 aus, die den Übergang von einem System aufs
3013 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein
3014 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit
3015 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige
3017 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,
3018 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß
3019 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,
3020 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche
3021 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach
3022 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,
3023 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig
3024 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen
3025 $g_
{\mu\nu}$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,
3026 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte
3027 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven
3028 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver
3029 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien
3030 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den
3031 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit
3032 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen
3033 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist
3034 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,
3035 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,
3036 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft
3037 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.
3038 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der
3039 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen
3040 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was
\name{Kant
} in
3041 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch
3042 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert
3043 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel
3044 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung
3045 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu
3046 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive
3047 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische
3048 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn
3049 Funktionen $g_
{\mu\nu}$ beliebig wählbar sein. Aber die
3051 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie
3052 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und
3053 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft
3054 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv
3055 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten
3056 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die
3057 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger
3058 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der
\name{Kant
}ischen
3059 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik
3060 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft
3061 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die
3062 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die
3063 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als
3064 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen
3065 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.
3066 Wenn sich z.\,B. die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung
3067 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder
3068 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.
3069 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe
3070 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive
3071 Relation mehr, die er bei
\name{Einstein
} trotz der Abhängigkeit
3072 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl
3073 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive
3074 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten
3075 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend
3076 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs
3077 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft
3078 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise
3079 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung
3080 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen
3081 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,
3082 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.
3084 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den
3086 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven
3087 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem
3088 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle
3089 der
\name{Kant
}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist
3090 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als
\name{Kants
}
3091 Versuch einer direkten Formulierung, und die
\name{Kant
}ische
3092 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen
3093 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem
3094 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,
3095 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der
3096 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen
3102 \chapter*
{VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie
3103 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.
}
3106 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren
3107 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege
3108 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt
3109 oder widerlegt werden können, so bedeutet das
3110 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.
3111 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung
3112 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,
3113 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei
3114 Weise mit der Bemerkung
\glqq{}alles ist Erfahrung
\grqq{} abtun
3115 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied
3116 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen
3117 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,
3118 daß die letzteren für den
\emph{logischen Aufbau
} der Erkenntnis
3119 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.
3120 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:
3121 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch
3122 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und
3123 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung
3124 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung
3125 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.
3127 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung
3128 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des
3129 \emph{Gegenstandsbegriffs
} beschreiben, die mit der Änderung
3130 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie
3134 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem
3135 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und
3136 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen
3137 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.
3138 So konstatiert sie das Auftreten von
3139 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender
3140 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,
3141 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte
3142 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert
3143 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die
3144 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die
3145 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten
3146 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte
3147 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß
3148 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die
3149 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß
3150 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den
3151 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu
3152 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die
3153 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in
3154 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.
3155 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt
3156 nach der
\name{Newton
}schen Theorie eine Abplattung. Der
3157 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,
3158 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen
3159 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln
3160 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch
3161 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis
3162 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.\,B. eines
3163 Breitenkreises) gleich $
\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender
3164 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen
3165 in der pythagoräischen Beziehung steht (und
3166 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten
3168 für
\emph{alle
} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen
3169 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen
3170 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige
3171 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er
3172 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser
3173 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding
3174 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,
3175 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die
3176 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen
3177 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum
\emph{Gegenstandsbegriff
3180 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,
3181 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese
3182 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten
3183 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles
3184 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und
3185 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine
3186 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch
3187 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache
3188 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor
3189 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung
3190 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten
3191 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat
\name{Helge
3192 Holst
}\litref{28} den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch
3193 zu retten, daß er entgegen der
\name{Einstein
}schen Relativität
3194 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die
3195 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben
3196 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch
3197 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die
3198 \name{Einstein
}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante
3199 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall
3202 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare
3204 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung
3205 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines
3206 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits
3207 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine
3208 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung
3209 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem
3210 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen
3211 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als
3212 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch
3213 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,
3214 welcher der Körper die Verkürzung
\glqq{}wirklich
\grqq{} erfährt,
3215 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute
3216 Eigenschaft des Körpers ist; aber
\name{Einstein
} hatte gerade
3217 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes
3218 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.
3219 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab
3220 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)
3221 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem
3222 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als
3223 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir
3224 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den
3225 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.
3226 Allerdings können wir sie
\emph{formulieren
} nur in
3227 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir
3228 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere
3229 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen
3230 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:
3231 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln
3232 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn
3233 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen
3234 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu
3235 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene
3236 Länge. Aber sie ist nur
\emph{ein
} Ausdruck der realen Relation.
3238 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,
3239 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam
3240 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft
3241 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.
3242 Das soll keine Versetzung des Realen in ein
3243 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale
3244 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in
3245 \emph{einem
} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln
3246 angeben; aber wir müssen uns daran
3247 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als
3248 eine Verhältniszahl formulieren kann.
3252 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:
3253 was früher eine Eigenschaft des
\emph{Dinges
} war,
3254 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;
3255 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,
3256 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,
3257 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung
3262 Bedeutet insofern der
\name{Einstein
}sche Längenbegriff
3263 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden
3264 realen Relation formuliert, so erhält er doch im
3265 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche
3266 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der
3267 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt
3268 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt
3269 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,
3270 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,
3271 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein
3272 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende
3273 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich
3274 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache
3275 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst
3277 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation
3278 ineinander hinreichend beschrieben wird.
3280 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur
3281 Charakterisierung eines
\emph{physikalischen Zustandes
}
3282 macht, ist in der
\emph{allgemeinen
} Relativitätstheorie in noch
3283 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie
3284 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte
3285 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,
3286 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand
3287 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen
3288 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,
3289 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.
3290 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten
3291 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird
3292 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer
3293 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der
3294 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische
3295 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz
3296 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite
3297 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle
3298 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen
3299 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische
3300 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die
3301 \name{Riemann
}sche analytische Metrik ist imstande, solchen
3302 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu
3303 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,
3304 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen
3305 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das
3306 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,
3307 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut
3308 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,
3309 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung
3310 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der
3312 \name{Einstein-Riemann
}schen Raumkrümmung, daß sie die
3313 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das
\glqq{}unmöglich
\grqq{}
3314 ist hier nicht
\emph{technisch
} aufzufassen, etwa so,
3315 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie
3316 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern
\emph{begrifflich
};
3317 auch die
\emph{gedachte
} gerade Linie ist im
\name{Riemann
}schen
3318 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf
3319 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach
3320 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische
3321 Stäbe zu suchen; auch die
\emph{Annäherung
} ist unmöglich.
3322 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein
3323 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine
3324 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie
3325 behauptet vielmehr: daß es
\emph{überhaupt keinen Sinn
}
3326 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu
3327 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten
3328 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der
\name{Einstein
}schen
3329 Theorie verhält sich zur
\name{Newton
}schen Bahn
3330 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die
\name{Einstein
}sche
3331 Krümmung ist von höherer Ordnung als die
\name{Newton
}sche.
3332 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen
3333 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,
3334 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands
3337 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse
3338 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,
3339 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen
3340 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig
3341 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese
3342 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten
3343 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein
3344 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine
3345 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in
3347 die Gesamtheit der Körper.
\emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom
3348 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom
3349 geworden.
} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung
3350 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle
3351 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die
3352 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit
3353 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff
3354 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen
3355 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer
3356 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß
3357 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.
3358 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,
3359 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.
3360 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,
3361 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.
3362 Darum kann sich auch nur in der Längen- und
3363 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.
3364 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich
3365 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser
3366 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was
3367 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir
3368 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:
3369 das Reale wird nicht mehr durch ein
\emph{Ding
} beschrieben,
3370 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den
3371 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik
3372 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des
3373 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten
3374 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch
3375 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen
3376 zwischen den metrischen Koeffizienten, und
3377 wenn man
4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig
3378 vorgibt, sind die anderen
6 durch Transformationsformeln
3379 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt
3381 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche
3382 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren
3383 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;
3384 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen
3385 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.
3386 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --
3387 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch
3388 der Zustand der Körper ausdrücken.
3392 Damit ist der alte auch noch von
\name{Kant
} benutzte
3393 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz
3394 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man
3395 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen
3396 dem Ausspruch des
\name{Thales von Milet
}, daß das Wasser
3397 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff
3398 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein
3399 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere
3400 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das
3401 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen
3402 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,
3403 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die
3404 \name{Einstein
}sche Änderung der
\emph{Zuordnungsprinzipien
}
3405 ging auf den
\emph{Begriff
} des Seienden. An diese Theorie
3406 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist
3407 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?
3408 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den
3409 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue
3410 Ausfüllung. Daß etwas
\emph{ist
}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen
3411 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;
3412 da wir diese durch Messung feststellen können -- und
\emph{nur
}
3413 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß
3414 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung
3415 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element
3417 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn
3418 der allgemeinen Relativitätstheorie
\Footnote{f
}
3419 {Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis
3420 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat
3421 \name{Rutherford
} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des
3422 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.
3423 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff
3424 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung
3425 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und
\name{Rutherfords
} Arbeiten
3426 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen
3427 im
\name{Einstein
}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die
3428 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie
3429 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im
3430 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes
3431 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen
3434 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn
3435 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung
3436 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von
3437 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen
3438 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
3439 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung
3440 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;
3441 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,
3442 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen
3443 werden muß
\Footnote{g
}
3444 {Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst
3445 umgekehrt den
\glqq{}scheinbaren
\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die
\glqq{}wirkliche
\grqq{}
3446 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne
3447 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese
3448 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr
3449 tiefgehenden Ausführungen bei
\name{Weyl
}, Anmerkung
21, S.~
162.
}.
3450 Der Begriff des Einzeldings verliert
3451 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete
3452 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht
3453 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte
3455 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie
3456 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im
3457 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den
3458 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert
3459 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man
3460 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne
3461 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst
3462 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit
3463 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an
3464 Stelle der
\emph{Physik der Kräfte und Dinge
} tritt die
3465 \emph{Physik der Feldzustände
}.
3467 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs
3468 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch
3469 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu
3470 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien
3471 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie
3472 nicht,
\emph{was
} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern
\emph{wie
}
3473 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,
3474 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.
3475 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie
3476 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was
3477 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen
3478 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die
3479 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen
3480 führt; in diesem logischen Sinne ist das
\glqq{}möglich
\grqq{} jener
3481 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen
3482 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein
3483 können wie bei
\name{Kant
}:
\emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis
3484 geändert hat, und der veränderte Gegenstand
3485 der physikalischen Erkenntnis auch andere
3486 logische Bedingungen voraussetzt
}. Diese Änderung
3487 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und
3488 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die
3490 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur
3491 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der
3492 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist
3493 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch
3494 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben
3495 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten
3496 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln
3497 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.
3498 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung
3499 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige
3500 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,
3501 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,
3502 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder
3503 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die
3504 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,
3505 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori
3506 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,
3507 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.
3513 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne
3514 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in
3515 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:
3516 die Vorstellbarkeit des
\name{Riemann
}schen Raums. Wir
3517 müssen allerdings betonen, daß die Frage der
\emph{Evidenz
}
3518 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist
3519 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische
3520 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu
3521 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
3522 Axiome führt. Mit dem Schlagwort
\glqq{}Gewöhnung
\grqq{}
3523 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar
3525 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um
3526 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil
3527 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen
3528 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns
3529 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte
3530 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch
3531 vollkommen unerklärt.
3533 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten
3534 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu
3535 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach
3536 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere
3537 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der
3538 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,
3539 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.
3540 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir
3541 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden
3542 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns
3543 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend
3544 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser
3545 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen
3546 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis
3547 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,
3548 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,
3549 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir
3550 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische
3551 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.
3553 Als im
15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,
3554 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen
3555 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht
3556 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte
3557 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,
3558 um festzustellen, daß die Erde
\emph{keine
} Kugel sei. Später
3560 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es
3561 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine
3562 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen
3563 richtig. Es ist auch gar nicht
\emph{vorstellbar
}, daß
3564 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,
3565 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich
3566 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,
3567 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber
3568 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung
3569 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel
3570 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene
3571 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten
3572 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht
3573 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der
3574 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.
3575 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr
3576 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.
3577 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel
3578 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran
3579 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,
3580 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.
3582 Genau so, glaube ich, steht es mit dem
\name{Riemann
}schen
3583 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht
3584 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der
3585 Dinge war, nun plötzlich im
\name{Riemann
}schen Sinne krumm
3586 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild
3587 \emph{nicht gibt
}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas
3588 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des
3589 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen
3590 Zustandes die in uns liegenden geometrischen
3591 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.
3592 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,
3594 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die
3595 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann
3596 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten
3597 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche
3598 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns
3599 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie
3600 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,
3601 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.
3603 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,
3604 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis
3605 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen
3606 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie
3607 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;
3608 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse
3609 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,
3610 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.
3615 \chapter*
{Literarische Anmerkungen.
}
3619 S.
3.
\name{Poincaré
} hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und
3620 Hypothese, Teubner
1906, S.
49--
52. Es ist bezeichnend, daß er für
3621 seine Äquivalenzbeweise die
\name{Riemann
}sche Geometrie von vornherein
3622 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung
3623 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der
3624 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der
3625 Geometrie nicht behaupten können.
3628 S.
4. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich
3629 auftauchenden Ansichten, daß die
\name{Einstein
}sche Raumlehre sich mit der
3630 \name{Kant
}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,
3631 ob man
\name{Kant
} oder
\name{Einstein
} recht gibt, läßt sich der
\emph{Widerspruch
}
3632 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,
3633 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft
3634 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die
3635 \name{Kant
}ische Raumlehre völlig unberührt. E.
\name{Sellien
} schreibt in
\glqq{}Die
3636 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
\grqq{}, Kantstudien,
3637 Ergänzungsheft
48,
1919:
\glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf
3638 die
\glqq{}reine
\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie
3639 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst
3640 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie
3641 die Berechtigung genommen zu behaupten, die
\glqq{}wahre
\grqq{} Geometrie ist
3642 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können
3643 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische
3644 Maßbestimmungen zugrunde legen.
\grqq{} Leider übersieht
\name{Sellien
}
3645 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im
\name{Einstein
}schen
3646 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,
3647 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie
3648 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen
3649 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und
\emph{eine
} Physik kann
3650 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man
3651 versteht nicht, warum
\name{Sellien
} nicht die Relativitätstheorie als
\emph{falsch
}
3652 bezeichnet, wenn er doch an
\name{Kant
} festhält. Befremdend erscheint auch
3653 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen
3654 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte
\name{Newton
}sche
3655 Theorie viel bequemer war. Wenn
\name{Sellien
} aber weiterhin
3656 behauptet, der
\name{Einstein
}sche Raum sei ein anderer als der von
\name{Kant
}
3657 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu
\name{Kant
}. Freilich läßt
3658 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als
3659 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber
3660 \name{Kants
} Raum ist gerade wie
\name{Einsteins
} Raum derjenige, in dem die
3661 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der
\emph{Physik
}, lokalisiert
3662 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der
\name{Kant
}ischen
3663 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation
3664 über anschauliche Hirngespinste.
3668 S.
4. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,
3669 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;
3670 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,
3671 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer
3672 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit
3673 der Prinzipien, die Darstellung von
\name{Erwin Freundlich
} (Die Grundlagen
3674 der
\name{Einstein
}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer
3675 1920.
4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung
3676 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen
3677 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der
3678 Abschnitte II und III dieser Untersuchung auf die Schrift
\name{Freundlichs
},
3679 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.
3681 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der
3682 Theorie sei auch die Schrift von
\name{Moritz Schlick
}, Raum und Zeit in der
3683 gegenwärtigen Physik,
3.~Aufl., Verlag von Julius Springer
1920, genannt.
3686 S.
6. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes Anmerkung
3690 S.
9. A.
\name{Einstein
}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,
3691 Ann. d. Phys.
17,
1905, S.~
891.
3694 S.
13. Wir müssen diesen Einwand auch der
\name{Natorp
}schen Deutung
3695 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den
\glqq{}Logischen Grundlagen
3696 der exakten Wissenschaften
\grqq{}, Teubner
1910, S.~
402, gibt. Er hat
3697 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als
3698 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit
3699 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch
3700 \name{Natorps
} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche
3701 auf die Unmöglichkeit ihrer
\glqq{}empirischen Erfüllung
\grqq{} zu schieben, nicht
3702 als gelungen betrachtet werden.
3706 S.
21.
\name{A. Einstein
}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.
3707 Ann. d. Phys.
1916, S.~
777.
3710 S.
24.
\name{Einstein
}, a.~a.~O. S.~
774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung
3711 dieses Beispiels bei
\name{Bloch
}, Einführung in die Relativitätstheorie,
3712 Teubner
1918, S.~
95.
3715 S.
33.
\name{David Hilbert
}, Grundlagen der Geometrie, Teubner
1913, S.~
5.
3718 S.
33.
\name{Moritz Schlick
}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer
3722 S.
41.
\name{Schlick
}. a.~a.~O. S.~
55.
3725 S.
50.
\name{Kant
}, Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. §~
14, S.~
126
3726 der Originalausgabe.
3729 S.
50. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in Anmerkung
3730 20 genannten Arbeiten.
3733 S.
51. Dieses Prinzip ist von
\name{Kurt Lewin
} analysiert worden.
3734 Vgl. seine in Anmerkung
20 genannten Arbeiten.
3737 S.
51. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen
3738 Verknüpfungsaxiome gibt
\name{Haas
}, Naturwissenschaften
7,
1919, S.~
744.
3739 Freilich glaubt
\name{Haas
}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu
3740 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht
3744 S.
53. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
43. Es ist nicht recht
3745 einzusehen, warum
\name{Kant
} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der
3746 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.
3747 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.
3750 S.
54. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß
\name{Kant
} niemals
3751 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt
3752 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von
\name{Kant
} behauptete
\emph{Einsicht
3753 in die notwendige Geltung
} apriorer Sätze nichts anderes ist,
3754 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,
3755 daß das Verfahren
\name{Kants
}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze
3756 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff
3757 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden
3758 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der
3760 \name{Kant
}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt
3761 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung
3762 mit der Lehre
\name{Kants
} in ihrer ursprünglichen Form
3763 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter
3764 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem
3765 exakt ausgeführten System der
\name{Einstein
}schen Lehre äquivalent in dem
3766 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner
3767 Auffassung von
\name{Kants
} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus
3768 der Kritik der reinen Vernunft (
2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):
3769 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis
3770 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß
3771 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein
3772 könne. Findet sich also erstlich ein Satz,
\emph{der zugleich mit seiner
3773 Notwendigkeit gedacht wird
}, so ist er ein Urteil apriori (S.~
3). Wo
3774 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,
3775 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich
3776 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~
4). Daß es nun dergleichen
3777 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile
3778 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.
3779 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze
3780 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten
3781 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache
3782 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff
3783 einer Ursache so
\emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit
} der
3784 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der
3785 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn
\ldots{} von
3786 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte
\grqq{}
3789 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien
3790 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,
3791 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der
3792 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung
3793 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An
3794 beiden ist nicht allein die
\emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung
3795 apriori
}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar
\grqq{} (S.~
17).
3797 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,
3798 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es:
\glqq{}Von
3799 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl
3800 geziemend fragen,
\emph{wie
} sie möglich sind, denn
\emph{daß
} sie möglich sein
3801 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen
\grqq{} (S.~
20). Und Prolegomena,
3802 S.~
275 und
276 der Akademieausgabe:
\glqq{}Es trifft sich aber
3803 glücklicherweise,
\ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori
3804 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;
3805 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß
3806 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der
3807 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig
3808 anerkannt werden.
\ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher
3809 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.\,i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es
3810 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.
\grqq{}
3812 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht
3813 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise
3814 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik
3815 der reinen Vernunft.
3819 S.
64. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen
3820 Hypothese muß auf die in Anmerkung
20 genannten Arbeiten
3821 des Verfassers hingewiesen werden.
3824 S.
68. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~V.
3827 S.
72.
\name{Reichenbach
}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die
3828 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen
1915
3829 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~
161,
3830 Barth
1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
3831 Naturwiss.
8,
3, S.~
46--
55. -- Philosophische Kritik der
3832 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss.
8,
8, S.~
146--
153, Springer
1920, --
3833 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
3834 Zeitschrift für Physik
1920, Bd.~
2. Heft
2, S.~
150--
171.
3836 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen
3837 Arbeiten von
\name{Kurt Lewin
}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und
3838 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,
3839 Berlin
1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,
3840 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin
3843 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
3844 liegt neuerdings eine Arbeit von
\name{Ernst Cassirer
} vor (Zur
\name{Einstein
}schen
3845 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin
1920,
3846 B.
\name{Cassirer
}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter
3847 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen
3848 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion
3850 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat
3851 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion
3852 berufener als
\name{Cassirer
}, dessen kritische Auflösung physikalischer
3853 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie
3854 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E.
\name{Cassirer
},
3855 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin
1910. B.
\name{Cassirer
}).
3856 Leider war es mir nicht möglich, auf
\name{Cassirers
} Arbeit einzugehen, da
3857 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.
3860 S.
73.
\name{Hermann Weyl
}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius
3861 Springer
1918, S.~
227.
\name{Arthur Haas
}, Die Physik als geometrische
3862 Notwendigkeit. Naturwiss.
8,
7, S.~
121--
140. Springer
1920.
3865 S.
73 \name{Hermann Weyl
}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.
3866 der Berliner Akademie.
1918, S.~
465--
480.
3869 S.
75. Vgl. z.\,B. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
228.
\glqq{}Ein
3870 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe
3871 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden
3872 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als
3873 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)
3874 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.
\grqq{}
3875 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret
3876 sich
\name{Kant
} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.
3879 S.
78. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten
3880 (vgl. Anm.
20) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen
3881 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung
3882 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren
3883 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so
3884 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen
3885 gelegentlich versucht wird.
3888 S.
79. Vgl. hierzu meine in Anmerkung
20 genannte erste Arbeit,
3892 S.
80. Vgl. die in Anmerkung
10 genannte Arbeit, S.
323.
3895 S.
82. Es ist auffallend, daß
\name{Schlick
}, der den Begriff der eindeutigen
3896 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und
3897 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst
3898 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen
3899 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein
3900 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese
3901 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus
3902 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr
3903 weiter käme (Anmerkung
10, S.~
344). Aber etwas anderes hatte
\name{Kant
}
3904 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend
3905 für
\name{Schlicks
} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der
3906 \name{Kant
}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,
3907 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften
3908 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis
3909 als eindeutige Zuordnung ist
\name{Schlicks
} Analyse der Vernunft,
3910 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.
3914 S.
91.
\name{Helge Holst
}, Die kausale Relativitätsforderung und
3915 \name{Einsteins
} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab
3916 Math.-fys. Medd. II,
11, Kopenhagen,
1919.