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10 % First arg: original version
11 % Second arg: corrected version
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32 %\title{RELATIVITÄTSTHEORIE
33 %UND ERKENNTNIS APRIORI}
34 \title{Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori
}
38 %\author{HANS REICHENBACH}
39 \author{Hans Reichenbach
}
43 VERLAG VON JULIUS SPRINGER
}
54 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
55 in fremde Sprachen, vorbehalten.
59 Copyright
1920 by Julius Springer in Berlin.
74 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten
77 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten
80 %IV. Erkenntnis als Zuordnung 32
82 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung
85 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die
86 %Relativitätstheorie 59
88 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische
91 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der
92 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes 89
94 %Literarische Anmerkungen 104
100 \Chapter{I
}{Einleitung.
}
103 Die
\erratum{\name{Einsteinsche
}}{\name{Einstein
}sche
} Relativitätstheorie hat die philosophischen
104 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung
105 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu
106 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie
107 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als
108 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in
109 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie
110 nur Behauptungen über
\emph{physikalische
} Meßbarkeitsverhältnisse
111 und physikalische
\emph{Größenbeziehungen
} \erratum{auf
113 aber
}{auf, aber
} es muß durchaus zugegeben werden, daß diese
114 speziellen Behauptungen den allgemeinen
\emph{philosophischen
}
115 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen
116 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen
117 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen
118 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte
119 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;
120 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die
121 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer
122 physikalischen Annahmen gemacht.
124 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere
125 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.
126 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht
127 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse
128 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem
129 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist
130 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,
131 auch zu dem Zeitbegriff
\name{Kants
}. Man hat
133 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem
134 man die
\glqq{}physikalische Zeit
\grqq{} von der
\glqq{}phänomenologischen
135 Zeit
\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die
136 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis
} immer die irreversible
137 Folge blieb. Aber in
\name{Kants
} Sinne ist diese Trennung
138 sicherlich nicht. Denn für
\name{Kant
} ist es gerade das Wesentliche
139 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine
\emph{Bedingung
140 der Naturerkenntnis
} bildet, und nicht bloß
141 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er
142 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung
143 \glqq{}affizieren
\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,
144 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form
145 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente
146 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde
147 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische
148 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,
149 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts
150 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn
151 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände
152 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie
153 %sic: No name-markup on the next line - verified from scan
154 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.
156 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese
157 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde
158 nichts Geringeres behauptet, als
\emph{daß die euklidische
159 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden
160 dürfte
}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser
161 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit
162 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung
163 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung
164 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher
165 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich
166 evidenten Axiomen
\name{Euklids
} widersprechen.
168 \name{Riemann
} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in
169 analytischer Form begründet, in der der
\glqq{}ebene
\grqq{} Raum
170 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche
171 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen
172 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,
173 daß man sie als
\emph{anschaulich evident
} von den anderen
174 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen
175 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne
\name{Kants
} -- die
176 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung
177 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden
178 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie
179 auf einen Einwand gegen ihre rein
\emph{begriffliche
}
180 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der
181 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte
182 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die
183 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung
184 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden
185 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von
186 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der
187 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein
188 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über
189 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt
190 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches
191 Schema ersetzt werden könnte
\litref{1}. Gegenüber
192 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen
193 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken
194 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie
195 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen
196 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt
\emph{falsch
} wären.
197 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten
198 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,
199 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht
200 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung
202 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.
203 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie
204 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein
205 Zweifel, daß
\name{Kants
} transzendentale Ästhetik von der
206 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;
207 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer
208 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie
209 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität
210 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so
211 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der
\emph{Ungültigkeit
}
212 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.
214 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist
215 die Relativitätstheorie falsch, oder die
\name{Kant
}ische Philosophie
216 bedarf in ihren
\name{Einstein
} widersprechenden Teilen
217 einer Änderung
\litref{2}. Der Untersuchung dieser Frage ist die
218 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint
219 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,
220 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung
221 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung
222 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es
223 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos
224 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische
225 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir
226 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst
227 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,
228 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen
229 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen
230 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie
231 für ihre Behauptungen anführt
\litref{3}. Danach untersuchen
232 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,
233 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie
\name{Kants
} einschließt,
234 und indem wir diese den Resultaten unserer
235 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden
237 wir, in welchem Sinne die Theorie
\name{Kants
} durch
238 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann
239 eine solche Änderung des Begriffs
\glqq{}apriori
\grqq{} durchführen,
240 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr
241 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie
242 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine
243 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.
244 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische
250 \Chapter{II
}{Die von der speziellen Relativitätstheorie
251 behaupteten Widersprüche.
}
254 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt
255 das Wort apriori im Sinne
\name{Kants
} gebrauchen, also dasjenige
256 apriori nennen, was die Formen der Anschauung
257 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir
258 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche
259 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien
260 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche
261 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der
262 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die
\emph{Geltung
}
263 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori
264 nicht vorweggenommen sein
\litref{4}.
266 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese
267 Theorie auch heute noch als für
\emph{homogene
} Gravitationsfelder
268 gültig ansehen -- behauptet
\name{Einstein
}, daß das
269 \name{Newton-Galilei
}sche Relativitätsprinzip der Mechanik
270 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
271 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der
272 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen
273 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit
274 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.
275 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:
276 Auf welche Voraussetzungen stützen sich
\name{Einstein
}s
279 Das
\name{Galilei
}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein
281 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein
282 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen
283 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt
284 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil
285 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand
286 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende
287 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung
288 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische
289 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber
290 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits
\emph{änderungen
}
291 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung
292 kennen, an das Auftreten einer
\emph{Beschleunigung
} geknüpft
293 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren
294 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das
\name{Galilei
}sche
295 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
297 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form
298 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von
299 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig
300 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen
301 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik
302 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser
303 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form
304 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.
305 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,
306 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die
307 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte
308 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,
309 wie im alten, daß also der
\emph{Funktionalzusammenhang
}
310 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller
311 als die
\name{Galilei
}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung
312 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier
313 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen
314 an, bei welchen die Erhaltung des
316 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung
317 der Kraft
\emph{größen
} herbeigeführt wird. Daß es solche
318 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings
319 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische
320 \emph{Gesetz
}, und nicht nur die
\emph{Kraft
}, invariant gegen
321 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer
322 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen
323 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen
324 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist
325 durch die Verteilung und die Natur der
\emph{Dinge
}, und die
326 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang
327 haben kann. Für den
\name{Kant
}ischen Standpunkt, auf dem
328 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und
329 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die
330 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,
331 daß gegen die
\name{Galilei-Newton
}schen Gesetze
332 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von
333 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben
334 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs
335 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,
336 liegt für den Philosophen kein Grund vor;
337 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts
338 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch
339 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung
340 der Geschehnisse äquivalent sein.
\name{Mach
}
341 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken
342 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn
343 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand
344 hat
\name{Einstein
} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie
345 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal
346 genug sei. Erst
\name{Einstein
} selbst hat seiner Theorie diesen
347 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine
348 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die
\name{Kant
}ische
350 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend
351 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;
352 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht
353 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,
354 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik
355 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung
356 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern
357 lag, um von ihr erkannt werden zu können.
359 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische
360 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische
361 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als
362 \name{Einstein
} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung
\litref{5} zur
363 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,
364 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange
367 \name{Einstein
} ging davon aus, daß man, um in einem
368 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die
369 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter
370 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang
371 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu
372 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses
373 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann
374 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die
375 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an
376 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen
377 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung
378 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle
379 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition
380 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen
381 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,
382 also eine negative Auswahl treffen. In jeder
\glqq{}Koordinatenzeit
\grqq{}
383 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert
384 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die
386 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von
387 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme
390 Es ist keineswegs gesagt, daß diese
\emph{einfachste
} Annahme
391 auch
\emph{physikalisch zulässig
} ist. Sie führt z.\,B.,
392 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der
393 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),
394 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere
395 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens
396 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten
397 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition
398 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit
399 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit
400 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt
401 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit
402 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen
403 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.\,h. ob nicht
404 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden
405 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch
406 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als
407 Entscheidung darüber konnte der
\name{Michelson
}sche Versuch
408 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
409 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem
410 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen
411 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage
412 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit
413 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat
414 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung
415 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben
416 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete
417 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der
418 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste
419 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die
421 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall
422 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
424 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung
425 der speziellen Relativitätstheorie die empirische
426 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials
427 erhebt sich der tiefe Gedanke
\name{Einsteins
}:
\emph{daß
428 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese
429 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten
430 unmöglich ist
}. Auch die alte Definition einer
431 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:
432 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich
433 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung
436 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist
437 \name{Einstein
} eingewandt worden, daß seine Überlegungen
438 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln
439 niemals zu einer genauen
\glqq{}absoluten
\grqq{} Zeit kommen
440 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend
441 approximativen Messung müßte festgehalten
442 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die
\glqq{}absolute
\grqq{} Zeit
443 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit
444 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren
445 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung
446 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen
447 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht
448 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts
449 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei
450 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung
451 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,
452 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt
453 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei
454 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine
455 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip
457 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,
458 wie etwa
\name{Kant
} die Unzerstörbarkeit der Substanz
459 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten
460 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden
461 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige
462 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.
463 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten
464 eine obere Grenze nicht geben. Darüber
465 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist
466 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade
467 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur
468 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung
469 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie
470 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger
471 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar
472 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese
473 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht
474 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,
475 in denen z.\,B. die kinetische Energie eines Massenpunktes
476 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich
477 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,
478 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,
479 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere
480 Grenze der Temperatur zu unterschreiten
\Footnote{a
}
481 {Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur
482 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören
483 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen
484 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,
485 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.
486 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische
487 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.
}, kann auch
488 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch
489 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das
491 andere, aber es handelt sich hier gerade um das
\emph{physikalisch
492 Erreichbare
}. Wenn ein physikalisches Gesetz
493 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze
494 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die
\glqq{}absolute
\grqq{}
495 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des
496 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von
497 einer
\glqq{}idealen Zeit
\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe
498 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch
499 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch
500 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten
\litref{6}).
502 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip
503 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur
504 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten
505 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),
506 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute
507 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch
508 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide
509 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,
510 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der
511 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten
512 ist aber eine empirische Angelegenheit
513 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von
514 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem
515 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare
516 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip
517 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken
518 vollzieht dabei
\name{Einsteins
} Entdeckung, daß die
519 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung
520 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden
523 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls
524 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit
525 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die
527 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.
528 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert
529 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit
530 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.
531 Allerdings wird sich der experimentelle
532 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit
533 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen
534 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir
535 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze
536 ist, z.\,B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung
537 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische
538 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit
539 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;
540 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch
541 der
\name{Michelson
}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn
542 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des
543 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.
544 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine
545 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den
546 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste
547 Extrapolation verwendet, das
\emph{Prinzip der
548 normalen Induktion
} nennen. Allerdings verbirgt sich
549 hinter dem Begriff
\emph{\glqq{}wahrscheinlichste Extrapolation
\grqq{}}
550 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf
551 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die
552 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen
553 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl
554 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden
555 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches
556 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.
557 Denken wir uns z.\,B. die Werte der kinetischen Energie
558 des Elektrons für Geschwindigkeiten von
0--
99\% der
559 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und
561 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die
562 sich bei
100\% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.
563 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve
564 zwischen
99\% und
100\% noch einen Knick macht,
565 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins
566 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der
567 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,
568 den
\name{Michelson
}schen Versuch eingerechnet, nicht
569 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten
570 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer
571 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,
572 um seinen aprioren Charakter im Sinne des
573 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im
574 Abschnitt
\chapref{VI
} auf die erkenntnistheoretische Stellung
575 dieses Prinzips näher eingehen.
577 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,
580 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
581 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität
582 \item Prinzip der Nahewirkung
583 \item Prinzip des approximierbaren Ideals
584 \item Prinzip der normalen Induktion
585 \item Prinzip der absoluten Zeit
587 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar
588 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit
589 gleichem Recht
\emph{apriore
} Prinzipien nennen. Zwar sind
590 sie nicht alle von
\name{Kant
} selbst als apriori genannt. Aber
591 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem
592 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,
593 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir
594 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit
595 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen
597 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere
598 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige
599 dieser Prinzipien, z.\,B. das der Nahewirkung, bestritten
600 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen
601 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien
602 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das
603 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung
604 besonders aufführten, in ihnen nochmals
607 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen
608 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum
\emph{Kausalprinzip
}
609 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität
610 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale
611 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann
612 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema
613 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten
616 \name{Minkowski
} hat den
\name{Einstein
}schen Gedanken eine
617 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer
618 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_
{4}$-Koordinate
619 durch $x_
{4} = i c t$ und leitet die Lorentztransformation
620 aus der Forderung ab, daß das Linienelement
621 der
4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
623 \diff{s
}^
{2} =
\sum_{1}^
{4} \diff{x_
\nu}^
{2}
625 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen
626 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören
627 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip
628 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als
629 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
630 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen
633 \emph{Relativität aller orthogonalen
634 Transformationen in der Minkowski-Welt
}. Die
635 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam
636 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der
637 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene
638 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern
639 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird
640 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem
641 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen
642 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für
643 die einzelnen Systeme verschieden wäre.
645 Man muß jedoch beachten, daß das
\name{Minkowski
}sche
646 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare
647 Formulierung der
\name{Einstein
}schen Gedanken. An deren
648 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie
649 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,
650 denn die Einführung der vierten Koordinate
651 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet
652 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit
653 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind
654 raumartige und zeitartige Vektoren in der
\name{Minkowski
}-Welt
655 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch
656 mögliche Transformation ineinander überführen.
658 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine
659 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen
660 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen
661 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen
662 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.
663 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
664 das in unseren Überlegungen eine so
665 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben
668 Nach
\name{Einsteins
} zweiter Theorie gilt die spezielle
669 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen
671 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.\,B. die
672 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so
673 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
674 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle
675 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt
676 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall
677 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung
678 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die
679 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.
680 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,
681 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,
682 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß
683 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere
684 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn
685 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener
686 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier
687 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen
688 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch
689 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber
690 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten
691 als $c =
3 \cdot 10^
{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die
692 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit
693 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
695 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld
696 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,
697 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge
698 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.
699 Für jedes Volumelement des Raumes hat $c$ einen bestimmten
700 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang
701 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat
702 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten
703 $c =
3 \cdot 10^
{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem
704 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller
706 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,
707 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer
\emph{oberen
708 Grenze
}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein
709 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach
710 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt
711 also unsere vorher angewandte Betrachtung
712 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
714 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich
715 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht
716 von einer
\emph{allmählichen Annäherung
} an eine absolute
717 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht
718 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren
719 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom
720 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens
721 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl
722 $c >
3 \cdot 10^
{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die
723 absolute Zeit beliebig genau wird?
725 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl $c$ für das gewählte
726 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung
727 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,
728 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos
729 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,
730 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen
731 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß
732 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements
733 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und
734 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren
735 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht
736 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen
737 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung
738 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der
739 größeren Konstanten $c$ als eine Genauigkeitssteigerung
740 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die
742 Konstante $c$ einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur
743 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst
744 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit
745 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig
746 erschiene es allein, den Wert von $c$ festzuhalten, etwa (wie es
747 vielfach geschieht) $c =
1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,
748 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
750 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge
751 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn
752 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit
753 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung
754 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne
755 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine
756 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich
757 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit
758 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;
759 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des
760 Raumes. Die Größe $c$ ist aber nicht eine Funktion bestimmter
761 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines
762 \emph{universalen Zustands
}, und alle Meßmethoden sind
763 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,
764 daß innerhalb jedes Universalzustands eine
765 obere Grenze $c$ für jedes Volumelement existiert, bleibt
766 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch
767 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man
768 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die
769 allgemeine einordnet.
771 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um
772 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen
773 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die
774 \emph{Geltung
} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes
775 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.
780 \Chapter{III
}{Die von der allgemeinen Relativitätstheorie
781 behaupteten Widersprüche.
}
784 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie
785 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die
786 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.
787 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,
788 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum
789 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?
791 \name{Einstein
} sagt in seiner grundlegenden Schrift:
\glqq{}Es
792 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die
793 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches
794 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.
795 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie
796 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit
797 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß
798 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung
799 möglichst gesichert erscheinen
\litref{7}.
\grqq{}
801 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,
802 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung
803 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine
804 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an
805 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft
806 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,
807 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem
808 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden
809 wir finden, daß
\name{Einsteins
} Darstellung in Wahrheit eine
810 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden
814 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen
815 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität
816 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen
817 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher
818 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen
819 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen
822 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von
823 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.
824 In diesem Koordinatensystem ist dann das
825 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß
826 dann das vierdimensionale Linienelement
828 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 \diff{x_
\nu}^
2
830 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale
831 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch
832 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich
833 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird
834 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,
835 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:
837 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 g_
{\mu\nu} \diff{x_
\mu} \diff{x_
\nu}.
840 Dieser Ausdruck ist nach
\name{Gauß
} und
\name{Riemann
}
841 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie
\Footnote{b
}
842 {Wir gebrauchen hier das Wort
\glqq{}euklidisch
\grqq{} für die vierdimensionale
843 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen
844 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen
845 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen
846 Raum, denn wenn die erstere eine
\name{Riemann
}sche Krümmung aufweist,
847 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch
848 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die
849 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten
\name{Erwin Freundlich
},
\Anmerkung{%
852 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_
{\mu\nu}$ drücken sich
853 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems
854 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung
855 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld
856 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für
857 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang
858 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld
859 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten
860 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß
861 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat
\name{Einstein
} den
862 Schluß gezogen, daß
\emph{jedes
} Gravitationsfeld, nicht bloß
863 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung
864 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.
866 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine
867 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;
868 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der
869 \name{Einstein
}schen Extrapolation geführt haben.
871 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch
872 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen
873 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,
874 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen
875 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.
876 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit
877 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:
878 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß
879 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit
880 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine
881 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.\,B. daß
882 das
\name{Riemann
}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall
883 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar
884 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur
885 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale
886 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische
888 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche
889 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann
890 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen
891 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten
892 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme
893 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen
894 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige
895 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des
896 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum
897 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes
898 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen
899 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber
900 bleibt dabei gleich Null.
902 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung
903 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.
904 Wenn also die
\name{Einstein
}sche Theorie, indem sie von
905 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen
906 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer
907 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich
908 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet
909 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,
910 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir
911 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.
912 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch
913 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische
914 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte
915 Raum das Krümmungsmaß Null behält.
917 Auch das von
\name{Einstein
} angeführte Beispiel der rotierenden
918 Kreisscheibe
\litref{8} kann eine so weitgehende Verallgemeinerung
919 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings
920 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender
921 Beobachter für den Quotienten aus Umfang
922 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als $
\pi$
924 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem
925 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber
926 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate
927 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von
928 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das
929 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit
930 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --
931 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge
932 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine
933 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was
934 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).
935 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,
936 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des
937 Sonnensystems, das für die
\name{Newton
}schen Gleichungen
938 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe
939 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß
942 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie
943 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als
944 die
\name{Einstein
}sche. Wir wollen folgende Forderungen an
947 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in
948 die spezielle Relativitätstheorie;
950 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer
951 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.
953 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden
954 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.\,B.
955 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem
956 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des
957 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken
958 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem
959 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante
961 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich
962 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen
963 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;
964 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß
965 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen
966 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.
967 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das
968 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen
969 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung
970 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten
971 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen
972 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und
973 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene
974 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische
977 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von
\name{Einstein
}
978 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang
979 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a
980 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei
\emph{festgehaltenem
981 Raumgebiet
} die Feldstärken in den verschiedenen
982 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch
983 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß
984 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;
985 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir
986 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in
987 der Weise vollziehen, daß wir
\emph{bei festgehaltener Feldstärke
}
988 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.
989 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes
990 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende
\name{Einstein
}sche
991 Voraussetzung für die Extrapolation machen:
993 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich
994 kleine Gebiete übergehen in die spezielle
998 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b
1001 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld
1002 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend
1003 homogen betrachten dürfen. Dort können wir
1004 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die
1005 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem
1006 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar
1007 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme
1008 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.
1009 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes
1010 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen
1011 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen
1012 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören
1013 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit
1014 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch
1015 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$
1016 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c
1017 mit Forderung b nicht vereinbar.
1019 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen
1020 Relativitätstheorie nach der
\name{Einstein
}schen Forderung c
1021 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie
1022 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes
1023 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen
1024 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl
1025 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die
1026 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des
1027 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.
1029 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits
1030 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die
1031 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation
1032 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt
1033 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit
1035 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die
1036 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine
1037 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,
1038 daß also der
\emph{Raum homogen
} ist; denn nur unter dieser
1039 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine
1040 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn
1041 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.
1042 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,
1043 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung
1044 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten
1045 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,
1046 so daß doch keine Annäherung an die spezielle
1047 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den
1048 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens
1049 beruht die Forderung c auf dem
\name{Einstein
}schen Äquivalenzprinzip,
1050 denn sie besagt, daß
\emph{jedes
} homogene Gravitationsfeld,
1051 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,
1052 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier
1053 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.
1054 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die
1055 Gleichheit von schwerer und träger Masse für
\emph{jedes
}
1056 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch
1057 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment
1058 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.
1059 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche
1060 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.
1062 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und
1063 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien
1064 im
\name{Kant
}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,
1065 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden
1066 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c
1067 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse
1068 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß
1070 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf
1071 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da
1072 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität
1073 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,
1074 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die
1075 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch
1076 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen
1077 Fall in die spezielle übergeht, die
\emph{Stetigkeit der Gesetze
},
1078 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen
1079 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie
1080 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen
1081 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie
1082 folgende Prinzipien als
\emph{gemeinsam unvereinbar mit
1083 der Erfahrung
} nachgewiesen hat.
1086 \item Prinzip der speziellen Relativität
1087 \item Prinzip der normalen Induktion
1088 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz
1089 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze
1090 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen
1091 \item Prinzip der Homogenität des Raumes
1092 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.
1095 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar
1096 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und
1097 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,
1098 mit Ausnahme des ersten, apriori im
\name{Kant
}ischen
1099 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches
1100 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden
1101 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.
1103 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das
1104 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.
1105 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir
1106 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch
1107 der
\name{Einstein
}sche Raum noch besitzt.
1110 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der
\name{Einstein
}schen
1111 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr
1112 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,
1113 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen
1114 wird.
\name{Riemann
} nennt diese Eigenschaft:
1115 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen
\grqq{}. Sie drückt sich analytisch
1116 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements
1117 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl
1118 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das
1119 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.
1120 Man kann also ein Koordinatensystem immer so
1121 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet
1122 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß
1123 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld
1124 immer
\glqq{}wegtransformieren
\grqq{} kann, wie auch das Feld
1125 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied
1126 zwischen den durch Transformation erzeugten und
1127 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der
1128 Inhalt der
\name{Einstein
}schen Äquivalenzhypothese für die
1129 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese
1130 Hypothese der Grund für die quadratische Form des
1131 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen
1132 hat danach ihren
\emph{physikalischen
} Grund. Würden die
1133 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für
1134 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa
1135 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde
1136 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes
1139 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen
1140 Form für das Linienelement auch folgendermaßen
1141 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen
1142 $g_
{\mu\nu}$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der
1143 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig
1145 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,
1146 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen
1147 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der
1148 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die
1149 metrischen Funktionen $g_
{\mu\nu}$ gilt also
\emph{keine
} Relativität,
1150 d.\,h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man
1151 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn
1152 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem
1153 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in
1154 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen
1155 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie
1156 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese
1157 Eigenschaft
\glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten
\grqq{}
1158 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die
1159 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.
1160 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für
1161 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere
1162 Formen, z.\,B. den Differentialausdruck vierten Grades,
1163 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der
1164 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die
1165 \name{Einstein
}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in
1166 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb
1167 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische
1168 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer
1169 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.
1174 \Chapter{IV
}{Erkenntnis als Zuordnung.
}
1177 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie
1178 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie
1179 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,
1180 den Sinn des Apriori zu formulieren.
1182 Es ist das Kennzeichen der modernen
\emph{Physik,
} daß
1183 sie alle Vorgänge durch
\emph{mathematische
} Gleichungen
1184 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf
1185 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.
1186 Für den mathematischen Satz bedeutet
\emph{Wahrheit
}
1187 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen
1188 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas
1189 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.
1190 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der
1191 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute
1192 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur
1193 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese
1194 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der
1195 beiden Wissenschaften.
1197 Der
\emph{mathematische Gegenstand
} ist durch die
1198 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig
1199 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie
1200 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten
1201 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede
1202 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er
1203 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.
1204 Und durch die Axiome: denn sie geben die
1206 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen
1207 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe
1208 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen
1209 definiert. Wenn
\name{Hilbert
}\litref{9} unter seine Axiome der
1210 Geometrie den Satz aufnimmt:
\glqq{}unter irgend drei
1211 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,
1212 der zwischen den beiden andern liegt
\grqq{}, so ist dies ebensowohl
1213 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte
1214 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation
1215 \glqq{}zwischen
\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine
\emph{erschöpfende
}
1216 Definition. Aber die Definition wird vollständig
1217 durch die Gesamtheit der Axiome. Der
\name{Hilbert
}sche
1218 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was
1219 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.
1220 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c
\ldots{} an Stelle
1221 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,
1222 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten
1223 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,
1224 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die
1225 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch
1226 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,
1227 und obgleich unsere Anschauung mit beiden
1228 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und
1229 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,
1230 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache
1231 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz
1232 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich
1233 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche
1234 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,
1235 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß
1236 eine Beziehung auf
\glqq{}absolute Definitionen
\grqq{} nötig wäre,
1237 ist von
\name{Schlick
}\litref{10} in der Lehre von den impliziten Definitionen
1238 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese
1240 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit
1241 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.
1243 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,
1244 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.
1245 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung
1246 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich
1247 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,
1248 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten
1249 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.
1250 \name{Schlick
} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine
1251 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht
1252 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen
1253 empirischen Ungenauigkeiten ist.
1255 Für den
\emph{physikalischen Gegenstand
} aber ist eine
1256 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der
1257 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.
1258 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des
1259 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen
1260 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,
1261 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie
1262 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung
1263 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen
1264 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was
1265 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System
1266 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt
1267 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,
1268 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß
1269 dies System von Gleichungen
\emph{Geltung für die Wirklichkeit
}
1270 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als
1271 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir
1272 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen
1273 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die
1274 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des
1276 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die
\emph{einzelnen
}
1277 Dinge den
\emph{einzelnen
} Gleichungen. Dabei ist das
1278 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als
1279 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,
1280 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur
1281 \glqq{}Kugel
\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und
1282 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe
1283 der Zuordnung vollziehend, als
\glqq{}Wahrnehmungsbilder der
1284 Erde
\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem
\name{Boile
}schen
1285 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p
\cdot V = R
\cdot T$
1286 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte
1287 (z.\,B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte
1288 (z.\,B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen
1289 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung
1290 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist
1291 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine
1292 Metaphysik hinweg zu interpretieren.
1294 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen
1295 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet
1296 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.
1297 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie
1298 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen
1299 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.
1300 Dazu müssen aber die Elemente jeder der
1301 Mengen
\emph{definiert
} sein; d.\,h. es muß für jedes Element
1302 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die
1303 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese
1304 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen
1305 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,
1306 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber
1307 für das
\glqq{}Wirkliche
\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.
1308 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst
1309 durch die Zuordnung zu Gleichungen.
1312 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen
1313 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge
1314 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa
1315 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu
1316 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst
1317 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl
1318 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt
1319 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder
1320 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem
1321 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,
1322 welcher von ihnen
\glqq{}rechts
\grqq{}, welcher
\glqq{}links
\grqq{} liegt. Aber
1323 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden
1324 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen
1325 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der
1326 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst
1327 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem
1328 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er
1329 zu der zugeordneten Untermenge gehört; um das festzustellen,
1330 müssen wir erst nach einer Methode, die durch
1331 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine
1332 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung
1333 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge
1334 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das
1335 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn
1336 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene
1337 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die
1338 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung
1339 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen
1340 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.
1341 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer
1342 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem
1343 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte
1344 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen
1346 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben
1347 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die
1348 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb
1349 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man
1350 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der
1351 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt
1352 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende
1353 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen
1354 angegeben sind. So kann man fordern, daß
1355 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter
1356 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt
1357 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen
1358 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die
1359 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung
1360 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden
1361 worden sind, ist durch die diskrete Menge und
1362 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den
1363 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung
1364 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber
1365 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen
1366 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen
1367 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben
1370 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer
1371 noch von der Zuordnung, die im
\emph{Erkenntnisprozeß
}
1372 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die
\emph{Obermenge
}
1373 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.
1374 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft
1375 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,
1376 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;
1377 von letzterer z.\,B. in der Forderung, daß dem
1378 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden
1379 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für
1381 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben
1382 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber
1383 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist
1384 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,
1385 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal
1386 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was
1387 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst
1388 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,
1389 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten
1390 eine Größe
\glqq{}Länge
\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht
1391 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.
1392 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir
1393 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,
1394 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre
1395 Ordnung erhält, sondern
\emph{in ihren Elementen erst
1396 durch die Zuordnung definiert wird
}.
1398 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung
1399 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,
1400 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung
1401 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element
1402 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben
1403 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers
1404 als solches Element auf, so geraten wir deshalb
1405 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr
1406 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.\,B. auf dem Manometer
1407 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies
1408 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,
1409 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,
1410 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem
1411 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,
1412 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen,
\glqq{}das Wesentliche
1413 vom Unwesentlichen scheiden
\grqq{}; aber das ist bereits
1414 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen
1416 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn
1417 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.
1418 Man könnte vermuten, daß etwa die
\emph{zeitliche Aufeinanderfolge
}
1419 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite
1420 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.
1421 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil
1422 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung
1423 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen
1424 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge
1425 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über
1426 den
\glqq{}wirklichen
\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert
1427 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,
1428 z.\,B. muß die physikalische Natur der Uhren,
1429 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der
1430 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete
1431 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung
1432 brauchbaren Ordnungssinn.
1434 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes
1435 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge
1436 der wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen
1437 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein
1438 Erkenntnisurteil, d.\,i. aber ein Zuordnungsprozeß, kann
1439 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines
1440 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem
1441 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.
1442 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der
1443 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die
1444 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen
1445 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was
1446 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine
\emph{Definition
}
1447 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.
1449 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten
1450 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die
1452 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge
1453 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte
1454 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß
1455 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre
1456 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst
1457 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.
1459 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem
1460 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man
1461 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen
\glqq{}wirklich
\grqq{}
1462 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein
1463 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so
1464 die Auffassung des
\name{Berkeley
}schen Solipsismus und in
1465 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.
1466 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.
1467 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre
1468 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur
1469 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich
1470 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,
1471 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise
1472 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung
1473 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren
1474 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge
1475 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt
1476 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten
1477 Seite vorschreibt.
\emph{In dieser Wechselseitigkeit der
1478 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen
1479 aus
}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von
1480 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.
1481 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene
1482 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns
1483 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu
1486 Hier erhebt sich die Frage: Worin besteht denn die
1488 Auszeichnung der
\glqq{}richtigen
\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet
1489 sie sich von der
\glqq{}unrichtigen
\grqq{}? Nun, dadurch,
1490 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden
1491 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.
1492 Berechnet man etwa aus der
\name{Einstein
}schen Theorie
1493 eine Lichtablenkung von $
1,
7^
{\prime\prime}$ an der Sonne, und würde
1494 man an Stelle dessen $
10^
{\prime\prime}$ finden, so ist das ein Widerspruch,
1495 und solche Widersprüche sind es allemal, die über
1496 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun
1497 ist die Zahl $
1,
7^
{\prime\prime}$ auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen
1498 an anderem Material gewonnen; die Zahl $
10^
{\prime\prime}$
1499 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs
1500 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe
1501 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente
1502 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und
1503 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis
1504 die Zahl
1,
7 zuordnet, die andere die Zahl
10, und dies
1505 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend
1506 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen
1507 wir
\emph{wahr
}.
\name{Schlick
} hat deshalb ganz recht, wenn er
1508 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert
}\litref{11}.
1509 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe
1510 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine
1511 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;
1512 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten
1513 Erfahrungswissenschaft durch
\name{Galilei
} und
\name{Newton
} und
1514 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch
\name{Kant
} als unbedingter
1515 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß
1516 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im
1517 Erkenntnisprozeß zukommt.
\emph{Die Wahrnehmung liefert
1518 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung
}.
1519 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande
1520 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber
1522 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer
1523 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen
1524 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind
1525 nämlich gar keine Täuschung der
\emph{Sinne
}, sondern der
1526 \emph{Interpretation
}; daß auch in der Halluzination die
1527 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,
1528 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die
1529 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen
1530 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist
1531 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb
1532 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde
1533 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,
1534 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer
1535 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein
1536 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang
1537 zurückführen will, denn ich beobachte auf der
1538 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung
1539 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den
1540 einer physiologischen Theorie, so entsteht
\emph{kein
} Widerspruch,
1541 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr
1542 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage
1543 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung
1544 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung
1545 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also
1546 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft
1547 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist
1548 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.
1550 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte
1551 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von
1552 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen
1553 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort
1554 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der
1555 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte
1557 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe
1558 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu
1559 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls
1560 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene
1561 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für
1562 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,
1563 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen
1564 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,
1565 die dies leistet, immer dieselben Elemente der
1566 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.
1567 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit
1568 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt
1569 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit
1570 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren
1571 deshalb:
\emph{Eindeutigkeit
} heißt für die Erkenntniszuordnung,
1572 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung
1573 aus
\emph{verschiedenen Erfahrungsdaten
} durch
1574 \emph{dieselbe Messungszahl
} wiedergegeben wird.
1576 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße
1577 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an
1578 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die
1579 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen
1580 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine
1581 Behauptung der Kausalität
\Footnote{c
}
1582 {Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft
1583 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein
1584 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,
1585 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint
1586 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht
1587 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt
1588 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte
1589 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.
1590 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation
1591 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität
1592 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.
}. Auch wenn sie nicht
1594 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;
1595 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung
1596 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen
1597 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,
1598 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,
1599 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings
1600 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert
1601 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und
1602 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet
1603 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier
1604 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,
1605 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener
1606 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.
1608 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig
1609 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man
1610 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie
1611 bedeutet nichts anderes als die
\name{Kant
}ische Frage: Wie ist
1612 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe
1613 sein, die Antwort, die
\name{Kant
} auf diese Frage gab, mit den
1614 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu
1615 untersuchen, ob die
\name{Kant
}ische Antwort sich heute noch
1616 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,
1617 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort
1618 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie
1619 geben kann, die an ihr vorbeigeht.
1621 Was bedeutet das Wort
\glqq{}möglich
\grqq{} in dieser Frage?
1622 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch
1623 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er
1624 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht
1625 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen
1626 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier
1627 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet
1628 die Frage nach den logischen Bedingungen der
1630 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß
1631 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst
1632 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über
1633 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge
1634 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung
1635 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,
1636 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne
1637 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen
1638 Frage diese Form geben:
\emph{Mit welchen Prinzipien wird
1639 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
1642 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,
1643 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien
1644 charakterisieren. Denn sie bedeuten
1645 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori
\name{Kants
}.
1650 \Chapter{V
}{Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite
1651 Voraussetzung Kants.
}
1654 Der Begriff des Apriori hat bei
\name{Kant
} zwei verschiedene
1655 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie
\glqq{}apodiktisch
1656 gültig
\grqq{},
\glqq{}für alle Zeiten gültig
\grqq{}, und zweitens bedeutet
1657 er
\glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend
\grqq{}.
1659 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.
1660 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,
1661 ist nach
\name{Kant
} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung
1662 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den
1663 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch
1664 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,
1665 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt
1666 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in
1667 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der
1668 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter
1669 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in
1670 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls
1671 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche
1672 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand
1673 der Wissenschaft ist also nicht ein
\glqq{}Ding an sich
\grqq{},
1674 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung
1675 basiertes Bezugsgebilde.
1677 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den
1678 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,
1679 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß
1680 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element
1681 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,
1683 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der
1684 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht
1685 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart
1686 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe
1687 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren
1688 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.
1689 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der
1690 Erfahrung bezeichnen.
\name{Kant
} nennt als solche Schemata
1691 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen
1692 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen
1693 für die eindeutige Zuordnung sind.
1695 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls
1696 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die
1697 zentrale Stellung, die er seit
\name{Kant
} in der Erkenntnistheorie
1698 inne hat. Es war die große Entdeckung
\name{Kants
},
1699 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin
1700 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente
1701 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten
1702 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt
1703 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur
1704 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte
1705 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht
1706 \name{Kant
} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar
1707 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der
1708 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.
1710 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und
1711 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu
1712 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht
1713 unzweckmäßig, sich die
\name{Kant
}ische Lehre in mehr anschaulicher
1714 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit
1715 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken
1716 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß
1717 die
\name{Kant
}ischen Begriffsbildungen einer mehr von
1719 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten
1720 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser
1721 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.
1722 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe
1725 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in
1726 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen
1727 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie
1728 es vor uns steht; es hat keinen Sinn, dieses Sein noch
1729 näher definieren zu wollen, denn was
\glqq{}wirklich
\grqq{} bedeutet,
1730 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung
1731 bleiben Analogien oder sind Darstellungen für den
\emph{begrifflichen
1732 Ausdruck
} dieses Erlebnisses. Die Wirklichkeit
1733 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit
1734 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur
1735 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche
1736 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem
1737 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert
1738 wird, was in dem
\glqq{}Kontinuum
\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding
1739 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang
1740 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes
1741 Einzelding
\glqq{}in Wirklichkeit da ist
\grqq{}.
1743 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei
1744 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,
1745 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem
1746 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst
1747 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch
1748 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich
1749 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene
1750 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion
1751 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man
1752 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man
1753 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei
1755 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,
1756 die von der Definiertheit der Elemente auf
\emph{beiden
} Seiten
1757 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer
1758 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes
1759 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,
1760 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den
1761 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder
1762 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre
1763 z.\,B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) =
0$
1764 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies
1765 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen
1766 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung
1767 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,
1768 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und
1769 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.
1770 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter
1771 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.
1772 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,
1773 daß man für jeden Wert $z = p =
\mathrm{konst.
}$ eine Kurve
1774 $f(x, y, p) =
0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige
1775 Funktion $
\varphi (x, z) = p^
\prime =
\mathrm{konst.
}$ annehmen und $p^
\prime$ als Parameter
1776 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von
1777 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut
1778 ein Bild der Funktion $f(x, y, z)$ wie die erste. Man
1779 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser
1780 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser
1781 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen
1782 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also
1783 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der
1784 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu $f(x, y, z)$
1785 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters
1786 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine
1787 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei
1789 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,
1790 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur
1791 auf die
\emph{eine
} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem
1792 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem
1795 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente
1796 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und
1797 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien
1798 der ersten Art geben, sondern nur solche, die
1799 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen
1800 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen
1801 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art
1802 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große
1803 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen
1804 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber
1805 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses
1806 überhaupt, und hängt damit zusammen,
1807 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes
1808 bedeutet als eine Beziehung auf
\glqq{}dasselbe
\grqq{} Element der
1809 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung
1810 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert
1811 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für
1812 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für
1813 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung
1814 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der
1815 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie
1816 \emph{konstitutiv
} für den wirklichen Gegenstand; in
\name{Kants
}
1817 Worten:
\glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein
1818 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann
\grqq{}\litref{12}.
1820 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip
1821 genannt, welches definiert, wann
1822 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten
1823 anzusehen sind
\litref{13}. (Man denke etwa an eine
1825 Verteilung nach dem
\name{Gauß
}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip
1826 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,
1827 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch
1828 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen
1829 dient; es definiert die physikalische Konstante.
1830 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip
\litref{14},
1831 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen
1832 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in
1833 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch
1834 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn
1835 sie besagen z.\,B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt
1836 definieren. Für die alte Physik war auch
1837 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn
1838 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne
1839 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten
1840 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie
1841 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,
1842 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen
1843 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese
1844 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung
1845 sind und ihr als
\emph{Zuordnungsaxiome
} vorangestellt
1846 werden können, unterscheiden sie sich von den
1847 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man
1848 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives
1849 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen
1850 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen
1851 enthalten aber immer noch spezielle mathematische
1852 Operationen; so geben die
\name{Einstein
}schen Gravitationsgleichungen
1853 an, in welcher speziellen mathematischen
1854 Beziehung die physikalische Größe $R_
{ik
}$ zu den
1855 physikalischen Größen $T_
{ik
}$ und $g_
{ik
}$ steht. Wir wollen sie
1856 deshalb
\emph{Verknüpfungsaxiome
} nennen
\litref{15}. Die Zuordnungsaxiome
1857 unterscheiden sich von ihnen dadurch,
1859 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,
1860 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen
1861 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen
1862 die Axiome der Arithmetik als Regeln der
1863 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien
1866 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig
1867 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen
1868 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an
1869 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher
1870 Weise gebunden. Wenn wir z.\,B. ein bestimmtes
1871 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,
1872 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand
1873 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen
1874 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen
1875 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive
1876 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs
\Footnote{d
}
1877 {Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der
1878 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen
1879 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die
1880 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.
}.
1881 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,
1882 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch
1883 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als
1884 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang
1885 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis
1886 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber
1887 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,
1888 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche
1889 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der
1890 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch
1891 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so
1892 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte
1894 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten
1897 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,
1898 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.
1899 Definieren wir einmal
\glqq{}apriori
\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung
1900 als
\glqq{}Gegenstand konstituierend
\grqq{}. Wie folgt
1901 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,
1902 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?
1904 \name{Kant
} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die
1905 menschliche Vernunft, d.\,i. der Inbegriff von Verstand
1906 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.
1907 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach
1908 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit
1909 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist
1910 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande
1911 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis
1912 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese
1913 apodiktische Gültigkeit.
1915 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht
1916 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch
1917 \emph{Erfahrungen
} eine Änderung der menschlichen Vernunft
1918 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft
1919 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren
1920 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und
1921 für
\name{Kant
} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,
1922 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive
1923 Prinzipien benutzen als wir
\litref{16}; damit ist natürlich
1924 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische
1925 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,
1926 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft
1927 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet.
\name{Kant
}
1928 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie
1929 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine
1931 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft
1932 und ihrer Ordnungsprinzipien durch
\emph{Erfahrungen
}; in
1933 diesem Sinne ist das
\glqq{}apodiktisch gültig
\grqq{} zu verstehen.
1935 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen
1936 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:
1937 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,
1938 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung
1939 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien
1940 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den
1941 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,
1942 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die
1943 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die
1944 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert.
\name{Kants
}
1945 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht
1946 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den
1947 Abschnitten
\chapref{II
} und
\chapref{III
} eine Reihe von Prinzipien apriori
1948 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach
1949 dem
\name{Kant
}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben
1950 würden. Wir durften dafür das Kriterium der
1951 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von
\name{Kant
} als
1952 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch
1953 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die
1954 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen
1957 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien
1958 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige
1959 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns
1960 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht
1961 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft
1962 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das
1963 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von
1964 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein
1965 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen
1967 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur
1968 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich
1969 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit
1970 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,
1971 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien
1972 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.
1974 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer
1975 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es
1976 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die
1977 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,
1978 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise
1979 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der
1980 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht
1981 alle verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf
1982 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,
1983 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie
1984 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme
1985 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur
1986 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen
1987 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich
1988 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht
1989 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System
1990 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme
1991 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel
1992 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung
1993 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene
1994 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.
1995 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die
1996 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System
1997 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,
1998 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich
1999 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.
2001 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht
2003 so einfach schließen. Wäre z.\,B. das Prinzipiensystem
2004 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze
2005 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System
2006 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen
2007 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung
2008 \name{Kants
}) deuten, daß es sich in dem evidenten
2009 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.
2010 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,
2011 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System
2012 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann
2013 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen
2014 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch
2015 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,
2016 die Wahrnehmung, von dem System ganz
2017 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl
2018 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn
2019 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir
2020 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,
2021 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst
2022 das euklidische System übernommen wird; daß durch das
2023 so gewonnene System kein Widerspruch entsteht, läßt
2024 sich erst durch den
\emph{konsequenten Ausbau dieser
2025 Geometrie
} feststellen. Freilich ist gerade das System
2026 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann
2027 hier nur der
\emph{Ausbau einer experimentellen Physik
}
2028 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,
2029 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,
2030 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.
2032 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich
2033 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte
2034 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen
2035 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer
2036 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip
2038 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt
2039 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten
2040 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien
2041 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert
2042 ein
\emph{System
}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht
2043 auskommen; und auch die
\name{Kant
}ische Philosophie hat
2044 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen
2045 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,
2046 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip
2047 enthält unter Umständen einen
\emph{Komplex
} von Gedanken,
2048 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe
2049 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem
\emph{unvollständigen
}
2050 System äquivalent ist.
2052 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;
2053 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine
2054 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung
2055 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn
2056 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der
2057 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen
2058 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit
2059 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die
2062 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir
2063 die Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre von der
2064 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig
2065 machen können.
\name{Kants
} Theorie enthält die Hypothese,
2066 daß es
\emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme
2067 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der
2068 Wirklichkeit gibt
}. Da diese Hypothese gleichbedeutend
2069 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit
2070 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu
2071 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
2072 kommen kann, wollen wir sie als
\emph{Hypothese
}
2074 \emph{der Zuordnungswillkür
} bezeichnen. Nur wenn sie
2075 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes
2076 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die
2077 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung
2078 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt
2079 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die
2080 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.
2085 \Chapter{VI
}{Widerlegung der Kantischen Voraussetzung
2086 durch die Relativitätstheorie.
}
2089 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte
\chapref{II
} und
\chapref{III
}
2090 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie
2091 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung
2092 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?
2093 Schließt nicht der
\name{Kant
}ische Beweis für die unbeschränkte
2094 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch
2097 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit
2098 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet
2099 wird, auf
\pagelink{S.
}{15} zusammengestellt. Wir haben
2100 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit
2101 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten
2102 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials
2103 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen
2104 der Dehnbarkeit des Begriffs
\glqq{}normal
\grqq{} ist das in gewissen
2105 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch
2106 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch
2107 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält
2108 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale
2109 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne
2110 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet
2111 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im
2112 Sinne
\name{Kants
}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die
2113 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines
2114 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven
2115 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.
2118 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse
2119 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach
2120 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf
\pagelink{S.
}{29}
2121 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet
2122 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr
2123 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip
2124 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses
2125 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten
2126 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,
2127 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt
2128 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung
2129 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt
2130 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente
2131 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den
2132 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu
2133 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,
2134 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.
2136 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf
2137 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die
2138 Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,
2139 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.
2140 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips
2141 für die Erkenntnis untersucht werden.
2143 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem
2144 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß
2145 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit
2146 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der
2147 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;
2148 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß
2149 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der
2150 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist
2151 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im
2152 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über
2154 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie
2155 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur
2156 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium
2157 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die
2158 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.
2159 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,
2160 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,
2161 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem
2162 Gedanken beruht der
\name{Kant
}ische Beweis für die Unabhängigkeit
2163 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.
2164 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage
2165 unmittelbar an diesen Beweis.
2167 \name{Kants
} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung
2168 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien
2169 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze
2170 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der
2171 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,
2172 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine
2173 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr
2174 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein
2175 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.
2177 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung
2178 zweier Fragen zurückführen.
2180 Ist es logisch
\emph{widersinnig
}, solche induktiven Deutungen
2181 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen
2182 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?
2184 Ist es logisch
\emph{zulässig
}, vor der induktiven Deutung
2185 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,
2186 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?
2188 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,
2189 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen
2190 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang
2192 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren
2193 der Physik, wie wir es im Abschnitt
\chapref{II
} geschildert
2194 haben, verstehen werden.
2196 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn
2197 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man
2198 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines
2199 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen
2200 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das
2201 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren
2202 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr
2203 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit
2204 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man
2205 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien
2206 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,
2207 daß das zu prüfende Prinzip bereits in
\emph{sämtlichen
} zur
2208 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.
2209 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des
2210 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.
2212 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir
2213 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht
2214 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.
2216 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage
2217 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein
2218 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es
2219 seien etwa Messungen zum
\name{Boile
}schen Gesetz ausgeführt,
2220 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe
2221 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte
2222 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen
2223 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen
2224 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$
2225 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch
2226 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen
2227 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.\,B. die
2229 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört
\Footnote{e
}
2230 {Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente
2231 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen
2232 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten
2233 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der
2234 Bezeichnungsweise.
}.
2235 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb
2236 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler
2237 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich
2238 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen
2239 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren
2240 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre
2241 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler
2242 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß
2243 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch
2244 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe
2245 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist
2246 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel
2247 $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende
2248 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen
2249 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die
2250 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur
2251 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende
2252 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man
2253 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen
2254 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings
2255 \emph{möglich
}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen
2256 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer
2257 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig
2258 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden
2259 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte
2260 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß
2261 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen
2263 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der
2264 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede
2265 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion
2266 festgehalten werden
\litref{18}.
2268 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn
2269 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.
2270 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,
2271 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip
2272 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der
2273 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle
2274 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,
2275 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar
2276 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische
2277 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.
2278 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen
2279 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst
2280 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn
2281 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so
2282 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als
2283 das Induktionsprinzip.
2285 Der
\name{Kant
}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus
2286 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien
2287 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie
2288 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen
2289 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort
2290 auf die
\name{Kant
}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in
2291 folgenden Satz zusammenfassen:
\emph{Es gibt Systeme von
2292 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der
2293 Zuordnung unmöglich machen, also implizit
2294 widerspruchsvolle Systeme.
} Wir bemerken nochmals,
2295 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,
2296 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen
2297 Physik möglich wurde. Hat man kein solches
2299 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung
2300 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu
2301 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip
2302 gesprochen werden könnte.
2304 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine
2305 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich
2306 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches
2307 durch
\emph{Evidenz
} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;
2308 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht
2309 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch
2310 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch
2311 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr
2312 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der
2313 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir
2314 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß
2315 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie
2316 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen
2317 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur
2318 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses
2319 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß
2320 Zuordnungsprinzipien in
\emph{jedem
} Gesetz enthalten sind,
2321 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen
2322 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische
2323 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,
2324 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,
2325 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.
2326 Wollte man z.\,B. versuchsweise den Raum als vierdimensional
2327 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser
2328 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung
2329 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität
2330 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle
2331 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in
2332 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts
2334 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren
2335 wäre aber
\emph{technisch unmöglich
}. Denn wir können
2336 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.
2338 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß
2339 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt
2340 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch
2343 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie
2344 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem
2345 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;
2346 und das Verfahren, welches
\name{Einstein
} dabei benutzt hat,
2347 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.
2349 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem
2350 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit
2351 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter
2352 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine
2353 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden
2354 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze
2355 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt
2356 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit
2357 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.
2358 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,
2359 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem
2360 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung
2361 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.
}
2362 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil
2363 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte
2364 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit
2365 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses
2366 induktive Verfahren als
\emph{Verfahren der stetigen Erweiterung
2369 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie
2370 ging. Als
\name{Eötvös
} die Gleichheit von
2372 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte
2373 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung
2374 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner
2375 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat
2376 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der
2377 \name{Riemann
}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper
2378 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie
2379 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,
2380 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen
2381 vernachlässigt werden können. Wenn z.\,B.
2382 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen
2383 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so
2384 braucht er deswegen noch nicht die
\name{Einstein
}sche Zeitkorrektion
2385 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem
2386 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,
2387 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis
2388 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie
2389 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld
2390 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung
2391 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb
2392 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion
2393 nach der üblichen Methode berechnen.
2394 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf
2395 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie
2396 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung
2397 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich
2398 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,
2399 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen
2400 liegen und darum als euklidisch angenommen
2403 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung
2404 den Kernpunkt für die Widerlegung der
\name{Kant
}ischen
2405 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur
2407 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern
2408 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und
2409 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,
2410 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.
2412 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,
2413 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür
2414 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung
\name{Kants
}
2415 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen
2416 mag.
\name{Kant
} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit
2417 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl
2418 bewußt, daß er einen
\emph{Beweis für diese Möglichkeit
}
2419 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,
2420 daß
\emph{Erkenntnis unmöglich
} wäre, und sah es für einen
2421 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit
2422 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den
2423 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden
2424 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier
2425 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum
2426 Gegenstand der Untersuchung gemacht.
\glqq{}Der Verstand
2427 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,
2428 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein
2429 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer
2430 gewissen Ordnung der Natur
\ldots{} Diese Zusammenstimmung
2431 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird
2432 von der Urteilskraft
\ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie
2433 der
\emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt
}.
2434 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für
2435 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche
2436 Ordnung zu entdecken
\litref{19}.
\grqq{} Es erscheint befremdend,
2437 daß
\name{Kant
}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit
2438 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an
2439 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der
2441 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem
2442 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten
2443 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,
2444 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den
2445 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der
2446 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht
2447 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie
2448 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven
2449 Prinzipien ändern muß, glaubte
\name{Kant
}, daß damit jede
2450 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche
2451 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene
2452 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,
2453 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung
2454 fortkommen und Erkenntnis erwerben können
\grqq{}. Erst das
2455 \name{Kant
} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung
2456 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein
2457 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens
2458 durch die Physik widerlegt werden.
2460 Wir müssen dieser Auflösung der
\name{Kant
}ischen Aprioritätslehre
2461 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.
2462 Es scheint uns der Fehler
\name{Kants
} zu sein, daß er, der mit
2463 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie
2464 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten
2465 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen
2466 der Erkenntnis suchte, so mußte er die
\emph{Erkenntnis
}
2467 analysieren; aber was er analysierte, war die
\emph{Vernunft
}.
2468 Er mußte
\emph{Axiome
} suchen, anstatt
\emph{Kategorien
}. Es ist
2469 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft
2470 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,
2471 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,
2472 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine
2473 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft
2474 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das
2476 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar
2477 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf
2478 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner
2479 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft
2480 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch
2481 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen
2482 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig
2483 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade
2484 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann
2485 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem
2486 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch
2487 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die
2488 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel
2489 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem
2490 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein
2491 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft
2492 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen
2493 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren
2494 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung
2495 des
\glqq{}gesunden Menschenverstandes
\grqq{}, jener
2496 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich
2497 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.
2499 In diesem Verfahren
\name{Kants
} scheint uns sein methodischer
2500 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig
2501 angelegte System der kritischen Philosophie nicht
2502 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden
2503 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die
2504 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller
2505 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen
2506 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung
2507 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht
2513 \Chapter{VII
}{Beantwortung der kritischen Frage durch die
2514 wissenschaftsanalytische Methode.
}
2517 Die Widerlegung des positiven Teils der
\name{Kant
}ischen
2518 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,
2519 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen
2520 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,
2521 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig
2522 von der
\name{Kant
}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und
2523 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine
2524 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der
2525 \name{Kant
}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur
2526 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit
2527 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung
2528 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?
2530 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der
\emph{wissenschaftsanalytischen
2531 Methode
} in die Erkenntnistheorie.
2532 Die von den positiven Wissenschaften in stetem
2533 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate
2534 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische
2535 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau
2536 der Axiomatik, die seit
\name{Hilberts
} Axiomen der Geometrie
2537 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen
2538 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche
2539 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar
2540 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes
2541 Verfahren gibt,
\emph{als festzustellen, welches die in der
2542 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien
2544 sind
}. Der Versuch
\name{Kants
}, diese Prinzipien aus der Vernunft
2545 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet
2546 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine
2547 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als
2548 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial
2549 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich
2550 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um
2551 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den
2552 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.
2554 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,
2555 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser
2556 bereits durchgeführt werden
\litref{20}. Sie führte zur Aufdeckung
2557 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für
2558 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der
2559 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der
2560 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie
2561 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer
2562 geleistet worden. Denn
\name{Einstein
} hat bei allen seinen
2563 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen
2564 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,
2565 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,
2566 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.
2567 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen
2568 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will
2569 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und
2570 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.
2571 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine
2572 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte
2573 \chapref{II
} und
\chapref{III
} dieser Untersuchung aufgefaßt werden.
2575 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied
2576 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist
2577 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit
2578 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein
2580 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich
2581 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik
2582 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der
2583 \emph{Naturerkenntnis
}. Darum konnte auch die Axiomatik
2584 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische
2585 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie
2586 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,
2587 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge
2588 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.
2589 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie
2590 z.\,B.
\name{Weyl
} und auch
\name{Haas
}\litref{21}, wieder den Schluß ziehen
2591 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin
2592 zusammenwachsen. Die Frage der
\emph{Geltung
} von Axiomen
2593 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen
2594 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das
2595 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der
2596 \emph{Geltung
} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen
2597 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt
2598 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt
2599 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,
2600 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser
2601 Einwand muß der
\name{Weyl
}schen Verallgemeinerung der
2602 Relativitätstheorie
\litref{22} entgegengehalten werden, bei der
2603 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich
2604 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings
2605 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit
2606 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer
2607 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum
2608 muß die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt
2609 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre
2610 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik
2611 ist eben keine
\glqq{}geometrische Notwendigkeit
\grqq{}; wer das
2612 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt
2614 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.
2615 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine
2616 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die
2617 \name{Kant
}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern
2618 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.
2620 Der
\emph{Begriff des Apriori
} erfährt durch unsere
2621 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,
2622 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder
2623 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung
2624 der
\name{Kant
}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.
2625 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:
2626 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst
2627 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches
2628 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung
2629 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen
2630 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine
2631 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang
2632 mit anderen Gegenständen gemacht werden.
2633 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form
2634 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der
2635 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische
2636 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,
2637 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst
2638 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien
2639 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt
2640 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer
2641 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange
2642 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.
2644 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,
2645 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,
2646 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip
2647 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es
2648 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den
2650 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten
2651 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung
2652 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das
2653 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben
2654 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze
2655 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie
2656 leicht verfällt. Als man die dem
\name{Kant
}ischen
2657 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung
2658 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war
2659 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die
2660 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten
2661 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,
2662 denn
\name{Kant
} hatte gewiß mit der Substanz
2663 die Masse gemeint
\litref{23}. Aber man ist damit keineswegs
2664 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip
2665 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es
2666 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding
2667 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man
2668 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens
2669 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung
2670 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt
2671 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen
2672 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere
2673 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,
2674 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung
2675 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen
2676 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten
2677 \name{Kant
}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.
2678 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor
2679 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn
2680 wenn z.\,B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen
2681 der Koordinaten nicht invariant sind, muß
2682 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man
2684 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten
2685 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip
2686 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich
\emph{mit der
2687 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung
2688 begnügen
}. So wollen wir, nach der Niederlage der
\name{Kant
}ischen
2689 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht
2690 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und
2691 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung
2692 unter allen Umständen wenigstens die
\name{Riemann
}sche
2693 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß
2694 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts
2695 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags
2696 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom
2697 vierten Grade übergegangen ist. Die
\name{Weyl
}sche Theorie
2698 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der
\name{Einstein
}schen
2699 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch
2700 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.
2701 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar
2702 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge
2703 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der
2704 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer
2705 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß
2706 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung
2707 und gleiche Länge hat. In der
\name{Einstein-Riemann
}schen
2708 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche
2709 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der
\name{Weyl
}schen
2710 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.
2711 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert
2712 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich
2713 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die
2714 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch
2715 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge
2716 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.
2719 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige
2720 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen
2721 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten
2722 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,
2723 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt
2724 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese
2725 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter
2726 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten
2727 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen
2728 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie
2729 sie wieder aufgibt. Z.\,B. ist in der
\name{Weyl
}schen
2730 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche
2731 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem
2732 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit
2733 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.
2734 Nach der
\name{Weyl
}schen Theorie ist die Frequenz
2735 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man
2736 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß
2737 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen
2738 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.\,B. die
2739 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen
2740 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen
2741 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes
2742 solche Fälle nachweisen, wo die
\name{Weyl
}sche
2743 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.
2745 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der
2746 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung
2747 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.
2748 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen
2749 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen
2750 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,
2751 daß die Größenwerte sich einer
\emph{stetigen
} Häufigkeitsfunktion
2752 einfügen. Würde man aber z.\,B. die
2754 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische
2755 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches
2756 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese
2757 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte
2758 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer
2759 noch mit großer Näherung gelten
\litref{24}. Wir wollen uns aber
2760 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend
2761 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft
2762 wird allein zeigen können, in welcher
\emph{Richtung
} sich die
2763 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das
2764 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle
2765 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem
2766 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein
2767 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall
2768 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten
2769 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere
2770 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine
2771 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall
2772 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.
2774 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer
2775 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede
2776 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die
2777 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten
2778 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.
2779 Aber
\emph{daß
} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige
2780 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und
2781 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im
2782 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der
2783 \name{Kant
}ischen Philosophie?
2785 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder
2786 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen
2787 können: nämlich daß die
\emph{eindeutige
} Zuordnung immer
2788 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition
2790 der Erkenntnis als
\emph{eindeutiger
} Zuordnung? Aus einer
2791 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann
2792 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen
2793 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;
2794 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit
2795 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die
2796 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen
2797 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten
2798 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen
2799 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische
2800 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine
2801 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine
2802 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse
\litref{25}. Aber
2803 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es
2804 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse
2805 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und
2806 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der
2807 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem
2808 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,
2809 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede
2810 physikalische Konstante die Form hat: $C + k
\alpha$, wo $
\alpha$
2811 sehr klein und $k$ eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch
2812 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß $k$ meistens
2813 klein ist, vielleicht zwischen
1 und
10 liegt. Für Konstanten
2814 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied
2815 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine
2816 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.\,B.
2817 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die
2818 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe
2819 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem
2820 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte
2821 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der
2822 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen
2824 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen
2825 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit
2826 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer
2827 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch
2828 dadurch, daß man den neuen Ausdruck $C + k
\alpha$ einführt,
2829 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir
2830 hatten oben (Abschnitt
\chapref{IV
}) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung
2831 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen
2832 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben
2833 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit
2834 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der
2835 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck $C + k
\alpha$
2836 ist aber die Größe $k$ ganz unabhängig von physikalischen
2837 Faktoren. Darum können wir die Größe $C + k
\alpha$ niemals
2838 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten
2839 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden
2840 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.
2841 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten
2842 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.
2843 Wir hätten, da $k$ auch von den Koordinaten unabhängig
2844 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen
2845 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu
2846 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände
2847 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe
2848 $C + k
\alpha$ ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme
2849 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer
2850 \glqq{}individuellen Kausalität
\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben
2851 haben und wie sie z.\,B.
\name{Schlick
}\litref{26} als möglich annimmt,
2852 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt
2853 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen
2854 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem
2855 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt
2856 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des
2858 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu
2859 dieser etwa wie der
\name{Riemann
}sche Raum zum euklidischen;
2860 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff
2861 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung
2862 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr
2863 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie
2864 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn
2865 z.\,B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen
2866 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit
2867 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.
2868 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten
2869 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu
2870 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch
2871 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer
2872 praktischen Verwertung finden lassen.
2876 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar
2877 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon
2878 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar
2879 nicht
\emph{konstatiert
} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche
2880 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.
2881 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip
2882 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen
2883 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt
2884 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt
2885 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese
2886 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch
2887 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu
2888 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung
2889 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme
2890 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs
2891 die Bestimmtheit in die Definition
2892 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der
2894 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung
2895 des Zuordnungsbegriffs
\litref{27}.
2897 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der
2898 \name{Kant
}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,
2899 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.
2900 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren
2901 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.
2902 Denn vorläufig
\emph{gilt
} dieser Begriff, und wir können
2903 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis
2904 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der
2905 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,
2906 daß diese
\emph{stetig
} erfolgen muß, und darum wird der alte
2907 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden
2908 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem
2909 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den
2910 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit
2911 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist
2912 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell
2913 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.
2914 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich
2915 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise
2916 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --
2917 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,
2918 daß
\emph{unsere
} Resultate
\emph{nun ewig
} gelten sollen, nachdem
2919 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv
2922 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung
2923 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie
2924 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs
2925 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis
2926 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist
2927 nicht der Begriff der
\emph{Zuordnung
} überhaupt jenes allgemeinste
2928 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor
2929 aller Erkenntnis steht?
2932 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den
2933 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.
2934 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,
2935 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs
2936 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit
2937 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns
2938 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis
2939 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.
2940 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies
2941 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den
2942 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.
2943 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe
}.
2945 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische
2946 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn
2947 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle
2948 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.
2949 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung
2950 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die
2951 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist
2952 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das
2953 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.
2954 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.
2956 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu
2957 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,
2958 wenn wir die
\name{Kant
}ische Analyse der Vernunft ablehnen,
2959 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige
2960 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien
2961 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die
2962 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren
2963 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich
2964 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von
2965 der Erfahrung
\emph{erhält
}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten
2966 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft
2968 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche
2969 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von
2970 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das
2971 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen
2972 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt
2973 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,
2974 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.
2975 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt
2976 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,
2977 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während
2978 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung
2979 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet
2980 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien
2981 eine Entwicklung des
\emph{Gegenstandsbegriffs
}
2982 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung
2983 von der
\name{Kant
}ischen: während bei
\name{Kant
} nur die
2984 Bestimmung des
\emph{Einzelbegriffs
} eine unendliche Aufgabe
2985 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden,
\emph{daß auch
2986 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft
2987 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,
2988 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung
2989 entgegengehen können
}.
2991 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht
2992 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe
2993 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten
2994 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat
2995 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir
2996 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere
2997 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem
2998 in seinen begrifflichen Relationen durch
2999 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung
3000 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in
3001 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie
3003 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff
3004 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft
3005 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich
3006 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie
\name{Kant
}
3007 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,
3008 die von der Vernunft als notwendig hingestellt
3009 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet
3010 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen
3011 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur
3012 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten
3013 sind, für die
\emph{keine
} Auswahl vorgeschrieben ist,
3014 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in
3015 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich
3016 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff
3017 verdanken.
\emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der
3018 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des
3019 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche
3020 Elemente im System auftreten.
} Damit
3021 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils
3022 wesentlich gegenüber der
\name{Kant
}ischen; aber gerade
3023 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise
3026 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür
3027 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit
3028 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,
3029 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da
3030 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt
3031 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung
3032 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln
3033 aus, die den Übergang von einem System aufs
3034 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein
3035 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit
3036 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige
3038 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,
3039 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß
3040 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,
3041 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche
3042 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach
3043 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,
3044 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig
3045 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen
3046 $g_
{\mu\nu}$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,
3047 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte
3048 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven
3049 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver
3050 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien
3051 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den
3052 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit
3053 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen
3054 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist
3055 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,
3056 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,
3057 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft
3058 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.
3059 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der
3060 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen
3061 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was
\name{Kant
} in
3062 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch
3063 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert
3064 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel
3065 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung
3066 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu
3067 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive
3068 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische
3069 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn
3070 Funktionen $g_
{\mu\nu}$ beliebig wählbar sein. Aber die
3072 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie
3073 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und
3074 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft
3075 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv
3076 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten
3077 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die
3078 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger
3079 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der
\name{Kant
}ischen
3080 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik
3081 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft
3082 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die
3083 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die
3084 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als
3085 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen
3086 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.
3087 Wenn sich z.\,B. die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung
3088 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder
3089 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.
3090 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe
3091 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive
3092 Relation mehr, die er bei
\name{Einstein
} trotz der Abhängigkeit
3093 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl
3094 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive
3095 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten
3096 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend
3097 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs
3098 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft
3099 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise
3100 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung
3101 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen
3102 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,
3103 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.
3105 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den
3107 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven
3108 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem
3109 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle
3110 der
\name{Kant
}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist
3111 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als
\name{Kants
}
3112 Versuch einer direkten Formulierung, und die
\name{Kant
}ische
3113 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen
3114 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem
3115 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,
3116 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der
3117 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen
3123 \Chapter{VIII
}{Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie
3124 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.
}
3127 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren
3128 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege
3129 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt
3130 oder widerlegt werden können, so bedeutet das
3131 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.
3132 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung
3133 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,
3134 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei
3135 Weise mit der Bemerkung
\glqq{}alles ist Erfahrung
\grqq{} abtun
3136 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied
3137 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen
3138 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,
3139 daß die letzteren für den
\emph{logischen Aufbau
} der Erkenntnis
3140 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.
3141 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:
3142 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch
3143 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und
3144 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung
3145 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung
3146 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.
3148 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung
3149 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des
3150 \emph{Gegenstandsbegriffs
} beschreiben, die mit der Änderung
3151 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie
3155 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem
3156 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und
3157 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen
3158 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.
3159 So konstatiert sie das Auftreten von
3160 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender
3161 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,
3162 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte
3163 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert
3164 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die
3165 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die
3166 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten
3167 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte
3168 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß
3169 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die
3170 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß
3171 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den
3172 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu
3173 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die
3174 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in
3175 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.
3176 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt
3177 nach der
\name{Newton
}schen Theorie eine Abplattung. Der
3178 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,
3179 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen
3180 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln
3181 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch
3182 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis
3183 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.\,B. eines
3184 Breitenkreises) gleich $
\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender
3185 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen
3186 in der pythagoräischen Beziehung steht (und
3187 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten
3189 für
\emph{alle
} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen
3190 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen
3191 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige
3192 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er
3193 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser
3194 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding
3195 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,
3196 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die
3197 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen
3198 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum
\emph{Gegenstandsbegriff
3201 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,
3202 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese
3203 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten
3204 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles
3205 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und
3206 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine
3207 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch
3208 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache
3209 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor
3210 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung
3211 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten
3212 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat
\name{Helge
3213 Holst
}\litref{28} den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch
3214 zu retten, daß er entgegen der
\name{Einstein
}schen Relativität
3215 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die
3216 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben
3217 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch
3218 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die
3219 \name{Einstein
}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante
3220 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall
3223 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare
3225 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung
3226 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines
3227 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits
3228 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine
3229 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung
3230 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem
3231 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen
3232 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als
3233 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch
3234 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,
3235 welcher der Körper die Verkürzung
\glqq{}wirklich
\grqq{} erfährt,
3236 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute
3237 Eigenschaft des Körpers ist; aber
\name{Einstein
} hatte gerade
3238 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes
3239 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.
3240 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab
3241 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)
3242 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem
3243 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als
3244 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir
3245 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den
3246 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.
3247 Allerdings können wir sie
\emph{formulieren
} nur in
3248 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir
3249 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere
3250 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen
3251 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:
3252 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln
3253 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn
3254 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen
3255 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu
3256 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene
3257 Länge. Aber sie ist nur
\emph{ein
} Ausdruck der realen Relation.
3259 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,
3260 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam
3261 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft
3262 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.
3263 Das soll keine Versetzung des Realen in ein
3264 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale
3265 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in
3266 \emph{einem
} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln
3267 angeben; aber wir müssen uns daran
3268 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als
3269 eine Verhältniszahl formulieren kann.
3273 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:
3274 was früher eine Eigenschaft des
\emph{Dinges
} war,
3275 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;
3276 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,
3277 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,
3278 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung
3283 Bedeutet insofern der
\name{Einstein
}sche Längenbegriff
3284 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden
3285 realen Relation formuliert, so erhält er doch im
3286 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche
3287 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der
3288 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt
3289 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt
3290 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,
3291 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,
3292 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein
3293 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende
3294 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich
3295 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache
3296 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst
3298 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation
3299 ineinander hinreichend beschrieben wird.
3301 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur
3302 Charakterisierung eines
\emph{physikalischen Zustandes
}
3303 macht, ist in der
\emph{allgemeinen
} Relativitätstheorie in noch
3304 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie
3305 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte
3306 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,
3307 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand
3308 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen
3309 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,
3310 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.
3311 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten
3312 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird
3313 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer
3314 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der
3315 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische
3316 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz
3317 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite
3318 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle
3319 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen
3320 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische
3321 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die
3322 \name{Riemann
}sche analytische Metrik ist imstande, solchen
3323 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu
3324 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,
3325 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen
3326 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das
3327 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,
3328 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut
3329 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,
3330 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung
3331 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der
3333 \name{Einstein-Riemann
}schen Raumkrümmung, daß sie die
3334 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das
\glqq{}unmöglich
\grqq{}
3335 ist hier nicht
\emph{technisch
} aufzufassen, etwa so,
3336 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie
3337 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern
\emph{begrifflich
};
3338 auch die
\emph{gedachte
} gerade Linie ist im
\name{Riemann
}schen
3339 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf
3340 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach
3341 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische
3342 Stäbe zu suchen; auch die
\emph{Annäherung
} ist unmöglich.
3343 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein
3344 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine
3345 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie
3346 behauptet vielmehr: daß es
\emph{überhaupt keinen Sinn
}
3347 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu
3348 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten
3349 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der
\name{Einstein
}schen
3350 Theorie verhält sich zur
\name{Newton
}schen Bahn
3351 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die
\name{Einstein
}sche
3352 Krümmung ist von höherer Ordnung als die
\name{Newton
}sche.
3353 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen
3354 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,
3355 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands
3358 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse
3359 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,
3360 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen
3361 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig
3362 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese
3363 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten
3364 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein
3365 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine
3366 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in
3368 die Gesamtheit der Körper.
\emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom
3369 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom
3370 geworden.
} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung
3371 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle
3372 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die
3373 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit
3374 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff
3375 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen
3376 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer
3377 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß
3378 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.
3379 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,
3380 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.
3381 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,
3382 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.
3383 Darum kann sich auch nur in der Längen- und
3384 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.
3385 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich
3386 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser
3387 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was
3388 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir
3389 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:
3390 das Reale wird nicht mehr durch ein
\emph{Ding
} beschrieben,
3391 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den
3392 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik
3393 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des
3394 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten
3395 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch
3396 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen
3397 zwischen den metrischen Koeffizienten, und
3398 wenn man
4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig
3399 vorgibt, sind die anderen
6 durch Transformationsformeln
3400 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt
3402 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche
3403 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren
3404 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;
3405 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen
3406 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.
3407 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --
3408 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch
3409 der Zustand der Körper ausdrücken.
3413 Damit ist der alte auch noch von
\name{Kant
} benutzte
3414 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz
3415 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man
3416 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen
3417 dem Ausspruch des
\name{Thales von Milet
}, daß das Wasser
3418 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff
3419 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein
3420 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere
3421 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das
3422 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen
3423 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,
3424 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die
3425 \name{Einstein
}sche Änderung der
\emph{Zuordnungsprinzipien
}
3426 ging auf den
\emph{Begriff
} des Seienden. An diese Theorie
3427 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist
3428 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?
3429 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den
3430 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue
3431 Ausfüllung. Daß etwas
\emph{ist
}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen
3432 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;
3433 da wir diese durch Messung feststellen können -- und
\emph{nur
}
3434 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß
3435 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung
3436 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element
3438 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn
3439 der allgemeinen Relativitätstheorie
\Footnote{f
}
3440 {Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis
3441 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat
3442 \name{Rutherford
} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des
3443 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.
3444 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff
3445 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung
3446 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und
\name{Rutherfords
} Arbeiten
3447 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen
3448 im
\name{Einstein
}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die
3449 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie
3450 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im
3451 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes
3452 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen
3455 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn
3456 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung
3457 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von
3458 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen
3459 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
3460 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung
3461 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;
3462 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,
3463 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen
3464 werden muß
\Footnote{g
}
3465 {Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst
3466 umgekehrt den
\glqq{}scheinbaren
\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die
\glqq{}wirkliche
\grqq{}
3467 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne
3468 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese
3469 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr
3470 tiefgehenden Ausführungen bei
\name{Weyl
},
\Anmerkung{21}, S.~
162.
}.
3471 Der Begriff des Einzeldings verliert
3472 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete
3473 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht
3474 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte
3476 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie
3477 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im
3478 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den
3479 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert
3480 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man
3481 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne
3482 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst
3483 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit
3484 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an
3485 Stelle der
\emph{Physik der Kräfte und Dinge
} tritt die
3486 \emph{Physik der Feldzustände
}.
3488 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs
3489 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch
3490 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu
3491 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien
3492 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie
3493 nicht,
\emph{was
} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern
\emph{wie
}
3494 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,
3495 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.
3496 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie
3497 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was
3498 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen
3499 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die
3500 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen
3501 führt; in diesem logischen Sinne ist das
\glqq{}möglich
\grqq{} jener
3502 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen
3503 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein
3504 können wie bei
\name{Kant
}:
\emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis
3505 geändert hat, und der veränderte Gegenstand
3506 der physikalischen Erkenntnis auch andere
3507 logische Bedingungen voraussetzt
}. Diese Änderung
3508 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und
3509 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die
3511 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur
3512 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der
3513 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist
3514 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch
3515 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben
3516 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten
3517 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln
3518 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.
3519 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung
3520 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige
3521 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,
3522 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,
3523 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder
3524 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die
3525 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,
3526 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori
3527 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,
3528 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.
3534 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne
3535 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in
3536 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:
3537 die Vorstellbarkeit des
\name{Riemann
}schen Raums. Wir
3538 müssen allerdings betonen, daß die Frage der
\emph{Evidenz
}
3539 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist
3540 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische
3541 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu
3542 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
3543 Axiome führt. Mit dem Schlagwort
\glqq{}Gewöhnung
\grqq{}
3544 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar
3546 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um
3547 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil
3548 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen
3549 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns
3550 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte
3551 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch
3552 vollkommen unerklärt.
3554 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten
3555 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu
3556 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach
3557 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere
3558 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der
3559 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,
3560 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.
3561 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir
3562 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden
3563 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns
3564 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend
3565 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser
3566 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen
3567 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis
3568 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,
3569 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,
3570 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir
3571 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische
3572 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.
3574 Als im
15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,
3575 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen
3576 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht
3577 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte
3578 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,
3579 um festzustellen, daß die Erde
\emph{keine
} Kugel sei. Später
3581 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es
3582 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine
3583 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen
3584 richtig. Es ist auch gar nicht
\emph{vorstellbar
}, daß
3585 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,
3586 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich
3587 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,
3588 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber
3589 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung
3590 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel
3591 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene
3592 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten
3593 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht
3594 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der
3595 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.
3596 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr
3597 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.
3598 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel
3599 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran
3600 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,
3601 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.
3603 Genau so, glaube ich, steht es mit dem
\name{Riemann
}schen
3604 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht
3605 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der
3606 Dinge war, nun plötzlich im
\name{Riemann
}schen Sinne krumm
3607 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild
3608 \emph{nicht gibt
}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas
3609 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des
3610 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen
3611 Zustandes die in uns liegenden geometrischen
3612 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.
3613 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,
3615 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die
3616 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann
3617 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten
3618 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche
3619 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns
3620 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie
3621 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,
3622 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.
3624 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,
3625 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis
3626 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen
3627 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie
3628 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;
3629 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse
3630 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,
3631 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.
3636 \chapter{Literarische Anmerkungen.
}
3640 \pagelink{S.
}{3}.
\name{Poincaré
} hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und
3641 Hypothese, Teubner
1906, S.
49--
52. Es ist bezeichnend, daß er für
3642 seine Äquivalenzbeweise die
\name{Riemann
}sche Geometrie von vornherein
3643 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung
3644 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der
3645 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der
3646 Geometrie nicht behaupten können.
3649 \pagelink{S.
}{4}. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich
3650 auftauchenden Ansichten, daß die
\name{Einstein
}sche Raumlehre sich mit der
3651 \name{Kant
}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,
3652 ob man
\name{Kant
} oder
\name{Einstein
} recht gibt, läßt sich der
\emph{Widerspruch
}
3653 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,
3654 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft
3655 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die
3656 \name{Kant
}ische Raumlehre völlig unberührt. E.
\name{Sellien
} schreibt in
\glqq{}Die
3657 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
\grqq{}, Kantstudien,
3658 Ergänzungsheft
48,
1919:
\glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf
3659 die
\glqq{}reine
\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie
3660 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst
3661 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie
3662 die Berechtigung genommen zu behaupten, die
\glqq{}wahre
\grqq{} Geometrie ist
3663 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können
3664 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische
3665 Maßbestimmungen zugrunde legen.
\grqq{} Leider übersieht
\name{Sellien
}
3666 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im
\name{Einstein
}schen
3667 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,
3668 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie
3669 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen
3670 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und
\emph{eine
} Physik kann
3671 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man
3672 versteht nicht, warum
\name{Sellien
} nicht die Relativitätstheorie als
\emph{falsch
}
3673 bezeichnet, wenn er doch an
\name{Kant
} festhält. Befremdend erscheint auch
3674 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen
3675 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte
\name{Newton
}sche
3676 Theorie viel bequemer war. Wenn
\name{Sellien
} aber weiterhin
3677 behauptet, der
\name{Einstein
}sche Raum sei ein anderer als der von
\name{Kant
}
3678 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu
\name{Kant
}. Freilich läßt
3679 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als
3680 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber
3681 \name{Kants
} Raum ist gerade wie
\name{Einsteins
} Raum derjenige, in dem die
3682 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der
\emph{Physik
}, lokalisiert
3683 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der
\name{Kant
}ischen
3684 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation
3685 über anschauliche Hirngespinste.
3689 \pagelink{S.
}{4}. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,
3690 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;
3691 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,
3692 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer
3693 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit
3694 der Prinzipien, die Darstellung von
\name{Erwin Freundlich
} (Die Grundlagen
3695 der
\name{Einstein
}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer
3696 1920.
4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung
3697 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen
3698 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der
3699 Abschnitte
\chapref{II
} und
\chapref{III
} dieser Untersuchung auf die Schrift
\name{Freundlichs
},
3700 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.
3702 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der
3703 Theorie sei auch die Schrift von
\name{Moritz Schlick
}, Raum und Zeit in der
3704 gegenwärtigen Physik,
3.~Aufl., Verlag von Julius Springer
1920, genannt.
3707 \pagelink{S.
}{6}. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes
\Anmerkung{%
3711 \pagelink{S.
}{9}. A.
\name{Einstein
}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,
3712 Ann. d. Phys.
17,
1905, S.~
891.
3715 \pagelink{S.
}{13}. Wir müssen diesen Einwand auch der
\name{Natorp
}schen Deutung
3716 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den
\glqq{}Logischen Grundlagen
3717 der exakten Wissenschaften
\grqq{}, Teubner
1910, S.~
402, gibt. Er hat
3718 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als
3719 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit
3720 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch
3721 \name{Natorps
} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche
3722 auf die Unmöglichkeit ihrer
\glqq{}empirischen Erfüllung
\grqq{} zu schieben, nicht
3723 als gelungen betrachtet werden.
3727 \pagelink{S.
}{21}.
\name{A. Einstein
}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.
3728 Ann. d. Phys.
1916, S.~
777.
3731 \pagelink{S.
}{24}.
\name{Einstein
}, a.~a.~O. S.~
774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung
3732 dieses Beispiels bei
\name{Bloch
}, Einführung in die Relativitätstheorie,
3733 Teubner
1918, S.~
95.
3736 \pagelink{S.
}{33}.
\name{David Hilbert
}, Grundlagen der Geometrie, Teubner
1913, S.~
5.
3739 \pagelink{S.
}{33}.
\name{Moritz Schlick
}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer
3743 \pagelink{S.
}{41}.
\name{Schlick
}. a.~a.~O. S.~
55.
3746 \pagelink{S.
}{50}.
\name{Kant
}, Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. §~
14, S.~
126
3747 der Originalausgabe.
3750 \pagelink{S.
}{50}. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in
\Anmerkung{%
3751 20} genannten Arbeiten.
3754 \pagelink{S.
}{51}. Dieses Prinzip ist von
\name{Kurt Lewin
} analysiert worden.
3755 Vgl. seine in
\Anmerkung{20} genannten Arbeiten.
3758 \pagelink{S.
}{51}. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen
3759 Verknüpfungsaxiome gibt
\name{Haas
}, Naturwissenschaften
7,
1919, S.~
744.
3760 Freilich glaubt
\name{Haas
}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu
3761 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht
3765 \pagelink{S.
}{53}. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
43. Es ist nicht recht
3766 einzusehen, warum
\name{Kant
} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der
3767 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.
3768 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.
3771 \pagelink{S.
}{54}. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß
\name{Kant
} niemals
3772 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt
3773 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von
\name{Kant
} behauptete
\emph{Einsicht
3774 in die notwendige Geltung
} apriorer Sätze nichts anderes ist,
3775 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,
3776 daß das Verfahren
\name{Kants
}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze
3777 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff
3778 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden
3779 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der
3781 \name{Kant
}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt
3782 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung
3783 mit der Lehre
\name{Kants
} in ihrer ursprünglichen Form
3784 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter
3785 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem
3786 exakt ausgeführten System der
\name{Einstein
}schen Lehre äquivalent in dem
3787 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner
3788 Auffassung von
\name{Kants
} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus
3789 der Kritik der reinen Vernunft (
2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):
3790 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis
3791 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß
3792 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein
3793 könne. Findet sich also erstlich ein Satz,
\emph{der zugleich mit seiner
3794 Notwendigkeit gedacht wird
}, so ist er ein Urteil apriori (S.~
3). Wo
3795 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,
3796 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich
3797 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~
4). Daß es nun dergleichen
3798 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile
3799 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.
3800 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze
3801 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten
3802 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache
3803 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff
3804 einer Ursache so
\emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit
} der
3805 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der
3806 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn
\ldots{} von
3807 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte
\grqq{}
3810 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien
3811 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,
3812 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der
3813 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung
3814 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An
3815 beiden ist nicht allein die
\emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung
3816 apriori
}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar
\grqq{} (S.~
17).
3818 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,
3819 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es:
\glqq{}Von
3820 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl
3821 geziemend fragen,
\emph{wie
} sie möglich sind, denn
\emph{daß
} sie möglich sein
3822 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen
\grqq{} (S.~
20). Und Prolegomena,
3823 S.~
275 und
276 der Akademieausgabe:
\glqq{}Es trifft sich aber
3824 glücklicherweise,
\ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori
3825 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;
3826 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß
3827 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der
3828 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig
3829 anerkannt werden.
\ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher
3830 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.\,i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es
3831 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.
\grqq{}
3833 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht
3834 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise
3835 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik
3836 der reinen Vernunft.
3840 \pagelink{S.
}{64}. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen
3841 Hypothese muß auf die in
\Anmerkung{20} genannten Arbeiten
3842 des Verfassers hingewiesen werden.
3845 \pagelink{S.
}{68}. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~
\chapref{V
}.
3848 \pagelink{S.
}{72}.
\name{Reichenbach
}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die
3849 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen
1915
3850 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~
161,
3851 Barth
1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
3852 Naturwiss.
8,
3, S.~
46--
55. -- Philosophische Kritik der
3853 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss.
8,
8, S.~
146--
153, Springer
1920, --
3854 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
3855 Zeitschrift für Physik
1920, Bd.~
2. Heft
2, S.~
150--
171.
3857 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen
3858 Arbeiten von
\name{Kurt Lewin
}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und
3859 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,
3860 Berlin
1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,
3861 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin
3864 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
3865 liegt neuerdings eine Arbeit von
\name{Ernst Cassirer
} vor (Zur
\name{Einstein
}schen
3866 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin
1920,
3867 B.
\name{Cassirer
}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter
3868 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen
3869 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion
3871 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat
3872 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion
3873 berufener als
\name{Cassirer
}, dessen kritische Auflösung physikalischer
3874 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie
3875 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E.
\name{Cassirer
},
3876 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin
1910. B.
\name{Cassirer
}).
3877 Leider war es mir nicht möglich, auf
\name{Cassirers
} Arbeit einzugehen, da
3878 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.
3881 \pagelink{S.
}{73}.
\name{Hermann Weyl
}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius
3882 Springer
1918, S.~
227.
\name{Arthur Haas
}, Die Physik als geometrische
3883 Notwendigkeit. Naturwiss.
8,
7, S.~
121--
140. Springer
1920.
3886 \pagelink{S.
}{73} \name{Hermann Weyl
}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.
3887 der Berliner Akademie.
1918, S.~
465--
480.
3890 \pagelink{S.
}{75}. Vgl. z.\,B. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
228.
\glqq{}Ein
3891 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe
3892 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden
3893 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als
3894 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)
3895 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.
\grqq{}
3896 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret
3897 sich
\name{Kant
} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.
3900 \pagelink{S.
}{78}. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten
3901 (vgl.
\Anm{20}) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen
3902 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung
3903 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren
3904 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so
3905 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen
3906 gelegentlich versucht wird.
3909 \pagelink{S.
}{79}. Vgl. hierzu meine in
\Anmerkung{20} genannte erste Arbeit,
3913 \pagelink{S.
}{80}. Vgl. die in
\Anmerkung{10} genannte Arbeit, S.~
323.
3916 \pagelink{S.
}{82}. Es ist auffallend, daß
\name{Schlick
}, der den Begriff der eindeutigen
3917 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und
3918 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst
3919 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen
3920 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein
3921 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese
3922 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus
3923 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr
3924 weiter käme (
\Anmerkung{10}, S.~
344). Aber etwas anderes hatte
\name{Kant
}
3925 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend
3926 für
\name{Schlicks
} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der
3927 \name{Kant
}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,
3928 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften
3929 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis
3930 als eindeutige Zuordnung ist
\name{Schlicks
} Analyse der Vernunft,
3931 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.
3935 \pagelink{S.
}{91}.
\name{Helge Holst
}, Die kausale Relativitätsforderung und
3936 \name{Einsteins
} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab
3937 Math.-fys. Medd. II,
11, Kopenhagen,
1919.