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30 %\title{RELATIVITÄTSTHEORIE
31 %UND ERKENNTNIS APRIORI}
32 \title{Relativitätstheorie und Erkenntnis Apriori
}
36 %\author{HANS REICHENBACH}
37 \author{Hans Reichenbach
}
41 VERLAG VON JULIUS SPRINGER
}
52 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung
53 in fremde Sprachen, vorbehalten.
57 Copyright
1920 by Julius Springer in Berlin.
70 %II. Die von der speziellen Relativitätstheorie behaupteten
73 %III. Die von der allgemeinen Relativitätstheorie behaupteten
76 %IV. Erkenntnis als Zuordnung 32
78 %V. Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite Voraussetzung
81 %VI. Widerlegung der Kantischen Voraussetzung durch die
82 %Relativitätstheorie 59
84 %VII. Beantwortung der kritischen Frage durch die wissenschaftsanalytische
87 %VIII. Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie als Beispiel der
88 %Entwicklung des Gegenstandsbegriffes 89
90 %Literarische Anmerkungen 104
96 \Chapter{I
}{Einleitung.
}
99 Die
\erratum{\name{Einsteinsche
}}{\name{Einstein
}sche
} Relativitätstheorie hat die philosophischen
100 Grundlagen der Erkenntnis in schwere Erschütterung
101 versetzt. Es hat gar keinen Zweck, das zu
102 leugnen, so zu tun, als ob diese physikalische Theorie
103 nur physikalische Auffassungen ändern konnte, und als
104 ob die philosophischen Wahrheiten von ihr unberührt in
105 alter Höhe thronten. Zwar stellt die Relativitätstheorie
106 nur Behauptungen über
\emph{physikalische
} Meßbarkeitsverhältnisse
107 und physikalische
\emph{Größenbeziehungen
} \erratum{auf
109 aber
}{auf, aber
} es muß durchaus zugegeben werden, daß diese
110 speziellen Behauptungen den allgemeinen
\emph{philosophischen
}
111 Grundbegriffen widerstreiten. Die philosophischen
112 Axiome waren von jeher, und auch in ihrer kritischen
113 Form, so gefaßt, daß sie zwar speziellen Ausdeutungen
114 gegenüber invariant blieben, aber immer eine bestimmte
115 Gruppe von physikalischen Aussagen definitiv ausschlossen;
116 und gerade solche ausgeschlossenen Möglichkeiten hat die
117 Relativitätstheorie hervorgesucht und zum Leitfaden ihrer
118 physikalischen Annahmen gemacht.
120 Schon die spezielle Relativitätstheorie stellte schwere
121 Anforderungen an die Toleranz eines kritischen Philosophen.
122 Sie nahm der Zeit den Charakter eines nicht
123 umkehrbaren Ablaufs und behauptete, daß es Geschehnisse
124 gäbe, deren zeitliche Aufeinanderfolge mit gleichem
125 Recht umgekehrt angenommen werden dürfte. Das ist
126 zweifellos ein Widerspruch zu der vorher geltenden Anschauung,
127 auch zu dem Zeitbegriff
\name{Kants
}. Man hat
129 diese Schwierigkeit gelegentlich beseitigen wollen, indem
130 man die
\glqq{}physikalische Zeit
\grqq{} von der
\glqq{}phänomenologischen
131 Zeit
\grqq{} unterschied und sich darauf bezog, daß die
132 \emph{Zeit als subjektives Erlebnis
} immer die irreversible
133 Folge blieb. Aber in
\name{Kants
} Sinne ist diese Trennung
134 sicherlich nicht. Denn für
\name{Kant
} ist es gerade das Wesentliche
135 einer aprioren Erkenntnisform, daß sie eine
\emph{Bedingung
136 der Naturerkenntnis
} bildet, und nicht bloß
137 eine subjektive Qualität unserer Empfindungen. Wenn er
138 auch gelegentlich von der Art, wie die Dinge unsere Wahrnehmung
139 \glqq{}affizieren
\grqq{}, spricht, so meint er doch immer,
140 daß diese subjektive Form gleichzeitig eine objektive Form
141 für die Erkenntnis ist, weil die subjektive Komponente
142 notwendig im Objektsbegriff enthalten ist; und er würde
143 nicht zugegeben haben, daß man für das physikalische
144 Geschehen mit einer anderen Zeitordnung arbeiten dürfte,
145 als eben dieser in der Natur des erkennenden Subjekts
146 angelegten Form. Darum war es nur folgerichtig, wenn
147 bereits gegen die spezielle Relativitätstheorie Einwände
148 aus philosophischen Kreisen erhoben wurden, sofern sie
149 %sic: No name-markup on the next line - verified from scan
150 aus dem Begriffskreis der Kantischen Philosophie herrührten.
152 Durch die allgemeine Relativitätstheorie hat sich diese
153 Lage aber noch vielfach verschärft. Denn in ihr wurde
154 nichts Geringeres behauptet, als
\emph{daß die euklidische
155 Geometrie für die Physik nicht verwandt werden
156 dürfte
}. Man mache sich den weitgehenden Inhalt dieser
157 Behauptung einmal ganz klar. Zwar waren schon seit
158 fast einem Jahrhundert Zweifel an der aprioren Stellung
159 der euklidischen Geometrie aufgetaucht. Die Aufstellung
160 nichteuklidischer Geometrieen hatte die Möglichkeit begrifflicher
161 Konstruktionen gezeigt, die den bekannten anschaulich
162 evidenten Axiomen
\name{Euklids
} widersprechen.
164 \name{Riemann
} hatte eine allgemeine Mannigfaltigkeitslehre in
165 analytischer Form begründet, in der der
\glqq{}ebene
\grqq{} Raum
166 als Spezialfall erscheint. Man konnte, nachdem die begriffliche
167 Notwendigkeit der euklidischen Geometrie gefallen
168 war, ihre Sonderstellung nur dadurch begründen,
169 daß man sie als
\emph{anschaulich evident
} von den anderen
170 Mannigfaltigkeiten unterschied, und basierte auf diesen
171 Vorzug allein -- übrigens ganz im Sinne
\name{Kants
} -- die
172 Forderung, daß gerade diese Geometrie zur Beschreibung
173 der Wirklichkeit, also für die Physik, verwandt werden
174 müßte. So war der Widerspruch gegen die euklidische Geometrie
175 auf einen Einwand gegen ihre rein
\emph{begriffliche
}
176 Begründung zurückgeführt. Gleichzeitig tauchte von der
177 Seite der Empiristen erneuter Zweifel auf; man wollte
178 aus der Möglichkeit anderer Geometrieen folgern, daß die
179 Sätze der euklidischen Geometrie nur durch Erfahrung
180 und Gewöhnung ihren für unsere Anschauung zwingenden
181 Charakter erhalten hätten. Und drittens wurde von
182 mathematischer Seite geltend gemacht, daß es sich in der
183 Geometrie nur um konventionelle Festsetzungen, um ein
184 leeres Schema handelte, das selbst keine Aussagen über
185 die Wirklichkeit enthielte, sondern nur als ihre Form gewählt
186 sei, und das mit gleichem Recht durch ein nichteuklidisches
187 Schema ersetzt werden könnte
\litref{1}. Gegenüber
188 diesen Einwänden stellt aber der Einspruch der allgemeinen
189 Relativitätstheorie einen ganz neuen Gedanken
190 dar. Diese Theorie stellt nämlich die ebenso einfache wie
191 klare Behauptung auf, daß die Sätze der euklidischen
192 Geometrie für die Wirklichkeit überhaupt
\emph{falsch
} wären.
193 Das ist in der Tat etwas wesentlich anderes als die genannten
194 drei Standpunkte, denen allen gemeinsam ist,
195 daß sie an der Geltung der euklidischen Axiome nicht
196 zweifeln, und die nur in der Begründung dieser Geltung
198 und ihrer erkenntnistheoretischen Deutung differieren.
199 Man erkennt, daß damit auch die kritische Philosophie
200 vor eine ganz neue Frage gestellt ist. Es ist gar kein
201 Zweifel, daß
\name{Kants
} transzendentale Ästhetik von der
202 unbedingten Geltung der euklidischen Axiome ausgeht;
203 und wenn man auch darüber streiten kann, ob er in ihrer
204 anschaulichen Evidenz den Beweisgrund seiner Theorie
205 des aprioren Raums, oder umgekehrt in der Apriorität
206 des Raumes den Beweisgrund ihrer Evidenz sieht, so
207 bleibt es doch ganz sicher, daß mit der
\emph{Ungültigkeit
}
208 dieser Axiome seine Theorie unvereinbar ist.
210 Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ist
211 die Relativitätstheorie falsch, oder die
\name{Kant
}ische Philosophie
212 bedarf in ihren
\name{Einstein
} widersprechenden Teilen
213 einer Änderung
\litref{2}. Der Untersuchung dieser Frage ist die
214 vorliegende Arbeit gewidmet. Die erste Möglichkeit erscheint
215 nach den glänzenden Erfolgen der Relativitätstheorie,
216 ihrer wiederholten Bestätigung durch die Erfahrung
217 und ihrer Fruchtbarkeit für die theoretische Begriffsbildung
218 von vornherein unwahrscheinlich. Aber es
219 soll hier nicht eine physikalische Theorie bedingungslos
220 übernommen werden, zumal, da die erkenntnistheoretische
221 Deutung ihrer Aussagen noch so umstritten ist. Wir
222 wählen deshalb folgendes Arbeitsverfahren. Es muß zunächst
223 festgestellt werden, welches die Widersprüche sind,
224 die zwischen der Relativitätstheorie und der kritischen
225 Philosophie bestehen, und welches die Voraussetzungen
226 und Erfahrungsresultate sind, die die Relativitätstheorie
227 für ihre Behauptungen anführt
\litref{3}. Danach untersuchen
228 wir, von einer Analyse des Erkenntnisbegriffs ausgehend,
229 welche Voraussetzungen die Erkenntnistheorie
\name{Kants
} einschließt,
230 und indem wir diese den Resultaten unserer
231 Analyse der Relativitätstheorie gegenüberstellen, entscheiden
233 wir, in welchem Sinne die Theorie
\name{Kants
} durch
234 die Erfahrung widerlegt worden ist. Wir werden sodann
235 eine solche Änderung des Begriffs
\glqq{}apriori
\grqq{} durchführen,
236 daß dieser Begriff mit der Relativitätstheorie nicht mehr
237 in Widerspruch tritt, daß vielmehr die Relativitätstheorie
238 durch die Gestaltung ihres Erkenntnisbegriffs als eine
239 Bestätigung seiner Bedeutung angesehen werden muß.
240 Die Methode dieser Untersuchung nennen wir die wissenschaftsanalytische
246 \Chapter{II
}{Die von der speziellen Relativitätstheorie
247 behaupteten Widersprüche.
}
250 Wir werden in diesem und dem folgenden Abschnitt
251 das Wort apriori im Sinne
\name{Kants
} gebrauchen, also dasjenige
252 apriori nennen, was die Formen der Anschauung
253 oder der Begriff der Erkenntnis als evident fordern. Wir
254 tun dies nur in der Absicht, gerade auf diejenigen Widersprüche
255 geführt zu werden, die zu aprioren Prinzipien
256 eintreten, denn es treten natürlich auch Widersprüche
257 der Relativitätstheorie zu vielen anderen Prinzipien der
258 Physik auf. Irgendein Beweisgrund für die
\emph{Geltung
}
259 der Prinzipien soll aber mit der Kennzeichnung als apriori
260 nicht vorweggenommen sein
\litref{4}.
262 In der speziellen Relativitätstheorie -- wir dürfen diese
263 Theorie auch heute noch als für
\emph{homogene
} Gravitationsfelder
264 gültig ansehen -- behauptet
\name{Einstein
}, daß das
265 \name{Newton-Galilei
}sche Relativitätsprinzip der Mechanik
266 mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
267 unvereinbar sei, wenn nicht neben der Transformation der
268 räumlichen Koordinaten auch eine Zeittransformation vorgenommen
269 wird, die dann zur Relativierung der Gleichzeitigkeit
270 und zur teilweisen Umkehrbarkeit der Zeit führt.
271 Dieser Widerspruch ist sicherlich richtig. Wir fragen:
272 Auf welche Voraussetzungen stützen sich
\name{Einstein
}s
275 Das
\name{Galilei
}sche Trägheitsprinzip ist gewiß ein
277 Erfahrungssatz. Es ist gar nicht einzusehen, warum ein
278 Körper, auf den keine Kraft wirkt, sich ständig bewegen
279 soll; würden wir uns nicht so an diesen Gedanken gewöhnt
280 haben, so würden wir wahrscheinlich zunächst das Gegenteil
281 behaupten. Allerdings läßt Galilei auch den Ruhezustand
282 als kräftefrei zu. Aber darin liegt seine weitgehende
283 Behauptung, daß die gleichförmige Bewegung
284 der Ruhe mechanisch völlig äquivalent sei. Durch physikalische
285 Relationen ist definiert, was eine Kraft ist. Aber
286 daß die Kraft nur bei Geschwindigkeits
\emph{änderungen
}
287 auftritt, daß also die Phänomene, die wir als Kraftwirkung
288 kennen, an das Auftreten einer
\emph{Beschleunigung
} geknüpft
289 sind, ist gewiß nicht evident im Sinne einer aprioren
290 Einsicht. In dieser Auffassung ist also das
\name{Galilei
}sche
291 Trägheitsprinzip zweifellos ein Erfahrungssatz.
293 Jedoch läßt sich diesem Prinzip eine andere Form
294 geben. Es besagt dann, daß eine gewisse Gruppe von
295 Koordinatensystemen, nämlich alle gegeneinander gleichförmig
296 bewegten, für die Beschreibung des mechanischen
297 Vorgangs äquivalent seien. Die Gesetze der Mechanik
298 ändern ihre Form nicht, wenn man von einem dieser
299 Systeme auf ein anderes transformiert. In dieser Form
300 ist die Aussage aber viel allgemeiner als in der ersten Form.
301 Das mechanische Gesetz kann seine Form auch dann behalten,
302 wenn sich die Größen der Kräfte ändern; für die
303 Erhaltung der Form wird nur verlangt, daß sich die Kräfte
304 im neuen System ebenso aus den Koordinaten ableiten,
305 wie im alten, daß also der
\emph{Funktionalzusammenhang
}
306 ungeändert bleibt. Diese Aussage ist aber viel prinzipieller
307 als die
\name{Galilei
}sche. Das Trägheitsprinzip, die Gleichberechtigung
308 gleichförmig bewegter Systeme, erscheint hier
309 nur als besonderer Fall, es gibt nämlich diejenigen Koordinatentransformationen
310 an, bei welchen die Erhaltung des
312 Funktionalzusammenhangs speziell durch die Erhaltung
313 der Kraft
\emph{größen
} herbeigeführt wird. Daß es solche
314 Transformationen gibt, und welche dies sind, kann allerdings
315 nur die Erfahrung lehren. Aber daß das physikalische
316 \emph{Gesetz
}, und nicht nur die
\emph{Kraft
}, invariant gegen
317 Koordinatentransformationen sein soll, liegt viel tiefer
318 begründet. Dieses Prinzip verlangt nämlich, in anderen
319 Worten ausgedrückt, daß der Raum keine physikalischen
320 Eigenschaften haben soll, daß das Gesetz bestimmt ist
321 durch die Verteilung und die Natur der
\emph{Dinge
}, und die
322 Wahl des Bezugssystems keinen Einfluß auf den Vorgang
323 haben kann. Für den
\name{Kant
}ischen Standpunkt, auf dem
324 Raum und Zeit nur Formen der Einordnung sind, und
325 nicht Glieder der Wirklichkeit wie die Materie und die
326 Kräfte, ist das eigentlich selbstverständlich. Es muß befremden,
327 daß gegen die
\name{Galilei-Newton
}schen Gesetze
328 und auch gegen die spezielle Relativitätstheorie nicht von
329 philosophischer Seite schon lange der Einwand erhoben
330 wurde, daß die postulierte Invarianz noch keineswegs
331 ausreicht. Denn gerade die gleichförmige Translation auszuzeichnen,
332 liegt für den Philosophen kein Grund vor;
333 wenn einmal der Raum als Ordnungsschema und nichts
334 physikalisch Gegenständliches erkannt war, mußten auch
335 alle beliebig bewegten Koordinatensysteme für die Beschreibung
336 der Geschehnisse äquivalent sein.
\name{Mach
}
337 scheint der einzige gewesen zu sein, der diesen Gedanken
338 in aller Schärfe aussprach; aber er vermochte nicht, ihn
339 in eine physikalische Theorie umzusetzen. Und niemand
340 hat
\name{Einstein
} bei seiner Aufstellung der speziellen Relativitätstheorie
341 entgegengehalten, daß sie noch nicht radikal
342 genug sei. Erst
\name{Einstein
} selbst hat seiner Theorie diesen
343 Einwand gemacht, und hat dann den Weg gezeigt, eine
344 wirklich allgemeine Kovarianz durchzuführen. Die
\name{Kant
}ische
346 Philosophie mußte ihren Grundbegriffen entsprechend
347 schon immer die Relativität der Koordinaten fordern;
348 daß sie es nicht getan hat und die Konsequenzen nicht
349 ahnte, die in dieser Forderung implizit enthalten waren,
350 liegt darin begründet, daß erst die experimentelle Physik
351 zur Aufdeckung einer zweiten grundsätzlichen Forderung
352 führen mußte, die der spekulativen Betrachtung zu fern
353 lag, um von ihr erkannt werden zu können.
355 Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist die physikalische
356 Form dieser zweiten Forderung. Durch empirische
357 Beobachtung hatten die Physiker sie entdeckt; aber als
358 \name{Einstein
} sie in seiner berühmten ersten Abhandlung
\litref{5} zur
359 Grundlage seiner speziellen Relativitätstheorie machte,
360 konnte er ihre Bedeutung schon in viel tieferem Zusammenhange
363 \name{Einstein
} ging davon aus, daß man, um in einem
364 gewählten Koordinatensystem an jedem Punkt die
365 synchrone Zeit zu definieren, einen mit bestimmter
366 Geschwindigkeit sich ausbreitenden physikalischen Vorgang
367 braucht, der Uhren an verschiedenen Punkten zu
368 vergleichen gestattet. Über den Bewegungszustand dieses
369 Vorgangs gegen das Koordinatensystem muß man dann
370 eine Hypothese machen; von dieser Hypothese hängt die
371 Zeit des Koordinatensystems und die Gleichzeitigkeit an
372 getrennten Punkten ab. Darum ist es unmöglich, diesen
373 Bewegungszustand zu bestimmen; denn für die Bestimmung
374 müßte eine Zeitdefinition vorausgesetzt sein. Alle
375 Experimente darüber würden nur lehren, welche Zeitdefinition
376 man angewandt hat, oder sie würden zu Widersprüchen
377 mit den Konsequenzen der Hypothese führen,
378 also eine negative Auswahl treffen. In jeder
\glqq{}Koordinatenzeit
\grqq{}
379 ist daher eine gewisse Willkür enthalten. Man reduziert
380 diese Willkür auf ein Minimum, wenn man die
382 Ausbreitungsgeschwindigkeit des Vorgangs als konstant, von
383 der Richtung unabhängig und gleich für alle Koordinatensysteme
386 Es ist keineswegs gesagt, daß diese
\emph{einfachste
} Annahme
387 auch
\emph{physikalisch zulässig
} ist. Sie führt z.\,B.,
388 wenn man an der zeitlichen Nichtumkehrbarkeit der
389 kausalen Abläufe festhält (Prinzip der irreversiblen Kausalität),
390 in ihren Konsequenzen dazu, daß es keine größere
391 Geschwindigkeit als die ausgewählte gibt; und mindestens
392 muß man deshalb unter allen bekannten Geschwindigkeiten
393 die größte auswählen, wenn sie zur Zeitdefinition
394 geeignet sein soll. Darum war die Lichtgeschwindigkeit
395 geeignet, die Rolle dieser ausgezeichneten Geschwindigkeit
396 zu übernehmen. Es mußte dann noch festgestellt
397 werden, ob die durch diese Geschwindigkeit definierte Zeit
398 zusammenfällt mit der bisher durch die mechanischen
399 Gesetze der Himmelskörper definierten Zeit, d.\,h. ob nicht
400 die in ihrer Einfachheit sicherlich tiefe Gesetze darstellenden
401 Formeln der Mechanik auf die Existenz einer noch
402 größeren unbekannten Geschwindigkeit hindeuteten. Als
403 Entscheidung darüber konnte der
\name{Michelson
}sche Versuch
404 betrachtet werden, der die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
405 für alle Systeme bewiesen hatte. Trotzdem
406 blieb es noch offen, ob nicht eines Tages Erfahrungen auftauchen
407 würden, die eine so einfache Annahme als Grundlage
408 der Zeitdefinition wie die Konstanz einer Geschwindigkeit
409 unmöglich machten. Diese Erfahrungen sind in der Tat
410 aufgetaucht, allerdings erst nachdem die theoretische Überlegung
411 bereits die spezielle Relativitätstheorie wieder aufgegeben
412 hatte: die bei der letzten Sonnenfinsternis beobachtete
413 Lichtablenkung durch das Gravitationsfeld der
414 Sonne ist ein Beweis dafür, daß die genannte einfachste
415 Zeitdefinition allgemein nicht durchführbar ist. Die
417 spezielle Relativitätstheorie wurde damit auf den Spezialfall
418 eines homogenen Gravitationsfeldes zurückgeführt.
420 Man erkennt an diesen Überlegungen, was in der Zeitauffassung
421 der speziellen Relativitätstheorie die empirische
422 Grundlage ist. Aber über der Grundlage des Erfahrungsmaterials
423 erhebt sich der tiefe Gedanke
\name{Einsteins
}:
\emph{daß
424 eine Zeitdefinition ohne eine physikalische Hypothese
425 über bestimmte Ausbreitungsgeschwindigkeiten
426 unmöglich ist
}. Auch die alte Definition einer
427 absoluten Zeit erscheint nur als Spezialfall dieser Auffassung:
428 sie enthält die Hypothese, daß es eine mit unendlich
429 großer Geschwindigkeit sich ausbreitende Wirkung
432 Man beachte gerade diesen Zusammenhang. Es ist
433 \name{Einstein
} eingewandt worden, daß seine Überlegungen
434 nur zeigen, wie der Physiker mit seinen beschränkten Hilfsmitteln
435 niemals zu einer genauen
\glqq{}absoluten
\grqq{} Zeit kommen
436 kann; an der Idee einer solchen Zeit und ihrer fortschreitend
437 approximativen Messung müßte festgehalten
438 werden. Dieser Einwand ist falsch. Die
\glqq{}absolute
\grqq{} Zeit
439 fordert einen Vorgang, der sich mit unendlicher Geschwindigkeit
440 ausbreitet; ein solcher Vorgang würde aber unseren
441 Vorstellungen über die kausale Wirkungsübertragung
442 durchaus widersprechen. Es ist eine schon von vielen
443 Philosophen erhobene Forderung, daß Fernkräfte nicht
444 angenommen werden dürfen; aber diese bedeuten nichts
445 anderes als die unendlich rasche Wirkung zwischen zwei
446 entfernten Punkten. Schreibt man der Kraftübertragung
447 eine mit der Entfernung wachsende endliche Dauer zu,
448 so kann man sie sich immer als von Punkt zu Punkt
449 wandernd, also als Nahewirkung, vorstellen; ob man dabei
450 von einem Äthermedium spricht, ist dann mehr eine
451 Sache des sprachlichen Ausdrucks. Man kann das Prinzip
453 der Nahewirkung genau so gut ein apriores Prinzip nennen,
454 wie etwa
\name{Kant
} die Unzerstörbarkeit der Substanz
455 apriorisch genannt hat. Die genaue Bestimmung der absoluten
456 Zeit wird also durch ein apriores Prinzip auf jeden
457 Fall ausgeschlossen. Es hätte höchstens Sinn, eine stetige
458 Annäherung an die absolute Zeit als möglich festzuhalten.
459 Dann darf es aber für die physikalisch möglichen Geschwindigkeiten
460 eine obere Grenze nicht geben. Darüber
461 läßt sich nun apriori nichts aussagen, sondern das ist
462 eine rein physikalische Frage. Wenn etwa -- und gerade
463 das haben alle experimentellen Untersuchungen zur
464 Relativitätstheorie gelehrt -- schon für die Erzeugung
465 einer bestimmten endlichen Geschwindigkeit die Energie
466 unendlich werden sollte, so ist die Herstellung beliebiger
467 Geschwindigkeiten sicherlich physikalisch unmöglich. Zwar
468 geht das aus den alten Formeln nicht hervor, aber diese
469 Formeln sind empirisch gewonnen, und mit vollem Recht
470 konnte die Relativitätstheorie sie durch andere ersetzen,
471 in denen z.\,B. die kinetische Energie eines Massenpunktes
472 mit Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit unendlich
473 wird. Ebensogut, wie es etwa physikalisch unmöglich ist,
474 die Energie eines abgeschlossenen Systems zu vermehren,
475 oder durch fortschreitende Abkühlung eine gewisse untere
476 Grenze der Temperatur zu unterschreiten
\Footnote{a
}
477 {Man wende nicht ein, daß eine untere Grenze für die Temperatur
478 anschaulich notwendig sei, weil die Bewegung der Moleküle einmal aufhören
479 müßte. Woher weiß ich denn, daß dieser Nullpunkt der kinetischen
480 Energie bereits bei einer endlichen negativen Temperatur erreicht wird,
481 und nicht erst bei negativ unendlicher Temperatur? Allein aus der Erfahrung.
482 Ebenso ist die Erfahrung möglich, daß die unendlich große kinetische
483 Energie bereits bei einer endlichen Geschwindigkeit erreicht wird.
}, kann auch
484 die beliebige Steigerung der Geschwindigkeit physikalisch
485 unmöglich sein. Denkbar ist natürlich das eine wie das
487 andere, aber es handelt sich hier gerade um das
\emph{physikalisch
488 Erreichbare
}. Wenn ein physikalisches Gesetz
489 existiert, das den Geschwindigkeiten eine obere Grenze
490 vorschreibt, dann ist auch eine Annäherung an die
\glqq{}absolute
\grqq{}
491 Zeit unmöglich, nicht bloß die Erreichung des
492 Idealzustands. Dann hat es aber keinen Sinn mehr, von
493 einer
\glqq{}idealen Zeit
\grqq{} auszugehen, denn nur solche Idealmaßstäbe
494 dürfen wir aufstellen, die wenigstens durch
495 fortschreitende Approximation erreichbar sind und dadurch
496 ihren Sinn für die Wirklichkeit erhalten
\litref{6}).
498 Wir fassen unsere Überlegungen zusammen. Das Prinzip
499 der Relativität aller Koordinatensysteme, auch nur
500 angewandt auf eine bestimmte Klasse von Koordinaten
501 (nämlich auf gegeneinander gleichförmig bewegte Systeme),
502 und das Prinzip der Nahewirkung lassen die absolute
503 Zeit nur dann zu, wenn eine obere Grenze für die physikalisch
504 erreichbaren Geschwindigkeiten nicht existiert. Beide
505 Prinzipien dürfen wir, in dem bisherigen Sinne des Wortes,
506 mit gutem Recht als apriori bezeichnen. Die Frage der
507 oberen Grenze für die physikalisch erreichbaren Geschwindigkeiten
508 ist aber eine empirische Angelegenheit
509 der Physik. Darum wird auch die Zeitdefinition von
510 empirischen Gründen mitbestimmt, sofern man an dem
511 Prinzip festhält, daß nur der durch Empirie approximierbare
512 Maßstab als Norm aufgestellt werden darf (Prinzip
513 des approximierbaren Ideals). Den verbindenden Gedanken
514 vollzieht dabei
\name{Einsteins
} Entdeckung, daß die
515 Zeit eines Koordinatensystems nur unter Zugrundelegung
516 eines physikalischen Ausbreitungsvorgangs definiert werden
519 Nennt man die Forderung der absoluten Zeit ebenfalls
520 ein apriores Prinzip, so wird hiermit der Widerstreit
521 mehrerer apriorer Prinzipien behauptet, genauer die
523 Unvereinbarkeit ihrer gemeinsamen Geltung mit der Erfahrung.
524 Denn die Annahme einer absoluten Zeit impliziert
525 immer, in welcher Form sie auch definiert wird, die Möglichkeit
526 beliebig großer, physikalisch herstellbarer Geschwindigkeiten.
527 Allerdings wird sich der experimentelle
528 Beweis für die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit
529 niemals exakt führen lassen. Aus gewissen Beobachtungen
530 an kleineren Geschwindigkeiten müssen wir
531 schließen, daß die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze
532 ist, z.\,B. beobachten wir an Elektronen, daß mit Annäherung
533 an die Lichtgeschwindigkeit die kinetische
534 Energie ins Unendliche wächst. Für die Lichtgeschwindigkeit
535 selbst können wir die Beobachtung nicht ausführen;
536 es handelt sich also stets um eine Extrapolation. Auch
537 der
\name{Michelson
}sche Versuch ist ein Beweis nur, wenn
538 man besonders ausgeklügelte Theorien zur Rettung des
539 alten Additionstheorems der Geschwindigkeiten zurückweist.
540 Die Extrapolation hat deshalb immer nur eine
541 gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Wir wollen den
542 Grundsatz, daß man für ein Erfahrungsmaterial die wahrscheinlichste
543 Extrapolation verwendet, das
\emph{Prinzip der
544 normalen Induktion
} nennen. Allerdings verbirgt sich
545 hinter dem Begriff
\emph{\glqq{}wahrscheinlichste Extrapolation
\grqq{}}
546 noch eine Unbestimmtheit. Man kann sich auf
547 den Standpunkt stellen, daß solche Extrapolationen, die
548 zum Widerspruch gegen gewisse allgemeine Voraussetzungen
549 führen, unmöglich sind, also bei der Auswahl
550 der wahrscheinlichsten überhaupt ausgeschieden werden
551 müssen. Es gibt aber Grenzfälle, in denen ein solches
552 Verfahren der Forderung der Evidenz widerspricht.
553 Denken wir uns z.\,B. die Werte der kinetischen Energie
554 des Elektrons für Geschwindigkeiten von
0--
99\% der
555 Lichtgeschwindigkeit experimentell bestimmt und
557 graphisch aufgetragen, so daß sie eine Kurve ergeben, die
558 sich bei
100\% offensichtlich einer Asymptote anschmiegt.
559 Dann wird wohl niemand behaupten, daß die Kurve
560 zwischen
99\% und
100\% noch einen Knick macht,
561 so daß sie erst für unendlich große Geschwindigkeiten ins
562 Unendliche geht. In der Tat basiert die Konstanz der
563 Lichtgeschwindigkeit nach den bisherigen Erfahrungsdaten,
564 den
\name{Michelson
}schen Versuch eingerechnet, nicht
565 auf einer geringeren Wahrscheinlichkeit als der des geschilderten
566 Beispiels. Wir begnügen uns hier mit einer
567 bloßen Veranschaulichung des Prinzips der normalen Induktion,
568 um seinen aprioren Charakter im Sinne des
569 Evidenzkriteriums aufzuzeigen; und wir werden erst im
570 Abschnitt
\chapref{VI
} auf die erkenntnistheoretische Stellung
571 dieses Prinzips näher eingehen.
573 Wir behaupten also, nach der speziellen Relativitätstheorie,
576 \item Prinzip der Relativität gleichförmig bewegter Koordinaten
577 \item Prinzip der irreversiblen Kausalität
578 \item Prinzip der Nahewirkung
579 \item Prinzip des approximierbaren Ideals
580 \item Prinzip der normalen Induktion
581 \item Prinzip der absoluten Zeit
583 mit den experimentellen Beobachtungen gemeinsam unvereinbar
584 sind. Man kann alle diese Prinzipien mit
585 gleichem Recht
\emph{apriore
} Prinzipien nennen. Zwar sind
586 sie nicht alle von
\name{Kant
} selbst als apriori genannt. Aber
587 sie besitzen alle das Kriterium der Evidenz in hohem
588 Maße, und sie stellen grundsätzliche Voraussetzungen dar,
589 die von der Physik bisher immer gemacht wurden. Wir
590 erwähnen diese ihre Eigenschaft nur deshalb, weil damit
591 der behauptete Widerspruch von einem physikalischen
593 zu einem philosophischen Problem wird. Sollte aber unsere
594 Auffassung Widerspruch finden und die Evidenz für einige
595 dieser Prinzipien, z.\,B. das der Nahewirkung, bestritten
596 werden, so wird das den Beweisgang unserer Untersuchungen
597 nicht stören. Man mag diese einzelnen Prinzipien
598 dann als Erfahrungssätze betrachten; dann ist das
599 Prinzip der normalen Induktion, das wir in der Zusammenstellung
600 besonders aufführten, in ihnen nochmals
603 Bemerkt sei noch, daß in den Annahmen der speziellen
604 Relativitätstheorie ein Widerspruch zum
\emph{Kausalprinzip
}
605 nicht enthalten ist. Im Gegenteil gewinnt hier die Kausalität
606 eine Auszeichnung: solche Zeitfolgen, die als kausale
607 Folgen anzusehen sind, sind nicht umkehrbar. Man kann
608 sagen, daß die Kausalität objektive Folgen in das Zeitschema
609 hineinträgt, während dieses selbst keinen absoluten
612 \name{Minkowski
} hat den
\name{Einstein
}schen Gedanken eine
613 Formulierung gegeben, die es erlaubt, sie in viel übersichtlicherer
614 Form auszudrücken. Er definiert eine $x_
{4}$-Koordinate
615 durch $x_
{4} = i c t$ und leitet die Lorentztransformation
616 aus der Forderung ab, daß das Linienelement
617 der
4-dimensionalen Mannigfaltigkeit
619 \diff{s
}^
{2} =
\sum_{1}^
{4} \diff{x_
\nu}^
{2}
621 invariant sein soll, daß also die Transformationen diesen
622 einfachen Ausdruck für das Linienelement nicht zerstören
623 sollen. In dieser Behauptung ist dann sowohl das Prinzip
624 der Relativität aller gleichförmig bewegten Systeme als
625 auch das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
626 enthalten. Man kann daher beide Forderungen zusammenfassen
629 \emph{Relativität aller orthogonalen
630 Transformationen in der Minkowski-Welt
}. Die
631 Konstanz der Lichtgeschwindigkeit kommt dann gleichsam
632 von selbst hinein. Diese Geschwindigkeit ist der
633 Maßeinheitsfaktor, mit dem man die in Sekunden gemessene
634 Zeit multiplizieren muß, damit sie den in Zentimetern
635 gemessenen räumlichen Achsen äquivalent wird
636 und mit ihnen zu einem symmetrischen Vierfachsystem
637 zusammengefaßt werden kann. Es würde der vierdimensionalen
638 Relativität widersprechen, wenn dieser Faktor für
639 die einzelnen Systeme verschieden wäre.
641 Man muß jedoch beachten, daß das
\name{Minkowski
}sche
642 Prinzip nichts anderes ist als eine elegante und fruchtbare
643 Formulierung der
\name{Einstein
}schen Gedanken. An deren
644 physikalisch-philosophischem Inhalt ändert sie nichts. Sie
645 fordert nicht etwa eine Abänderung unserer Raumanschauung,
646 denn die Einführung der vierten Koordinate
647 ist lediglich eine formale Angelegenheit. Und sie behauptet
648 auch nicht, wie es gelegentlich hingestellt wird, eine Vertauschbarkeit
649 von Raum und Zeit. Im Gegenteil sind
650 raumartige und zeitartige Vektoren in der
\name{Minkowski
}-Welt
651 grundsätzlich unterschieden und lassen sich durch keine physikalisch
652 mögliche Transformation ineinander überführen.
654 Es muß noch untersucht werden, wieweit die allgemeine
655 Relativitätstheorie die Annahmen der speziellen
656 geändert hat, und ob sich unsere bisherigen Formulierungen
657 auch noch aufrecht halten lassen, wenn man die Entdeckungen
658 der allgemeinen Theorie als bekannt voraussetzt.
659 Denn gerade das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit,
660 das in unseren Überlegungen eine so
661 wichtige Rolle spielte, ist von der neuen Theorie aufgegeben
664 Nach
\name{Einsteins
} zweiter Theorie gilt die spezielle
665 Relativität nur für den Spezialfall eines homogenen
667 Gravitationsfeldes, und für alle anderen Felder, z.\,B. die
668 Zentralfelder unseres Planetensystems, läßt sich eine so
669 einfache Annahme wie die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit
670 nicht mehr durchführen. Damit ist die spezielle
671 Theorie auf sehr beschränkte Gebiete zurückgedrängt
672 worden, denn Felder, in denen die Feldstärke überall
673 gleich und gleichgerichtet ist, sind mit einiger Näherung
674 nur in kleinen Dimensionen verwirklicht und werden die
675 Sehweite des menschlichen Auges kaum überschreiten.
676 Will man in einem ausgedehnteren Koordinatensystem,
677 in dem sich zentrale Gravitationsfelder bemerkbar machen,
678 die Gleichzeitigkeit zweier Vorgänge definieren, so muß
679 man für die Ausbreitung des Lichtes eine kompliziertere
680 Annahme machen, nach der der Strahl eine krumme Bahn
681 zurücklegt, die in den einzelnen Teilstrecken mit verschiedener
682 Geschwindigkeit durchlaufen wird. Auch hier
683 wird die Gleichzeitigkeit von der Koordinatenwahl abhängen
684 und nur relative Bedeutung haben; dieser Widerspruch
685 zur alten Auffassung bleibt also bestehen. Aber
686 wenn man einmal für das Licht selbst größere Geschwindigkeiten
687 als $c =
3 \cdot 10^
{10}$~cm~p.~sec. zuläßt, so entsteht die
688 Frage, ob damit nicht die Bedeutung dieser Geschwindigkeit
689 als einer oberen Grenze aufgegeben ist.
691 Das ist jedoch keineswegs der Fall. Auch im Gravitationsfeld
692 ist die Lichtgeschwindigkeit die obere Grenze,
693 wenn auch ihr Zahlwert anders ist. Physikalische Vorgänge
694 mit Überlichtgeschwindigkeit gibt es auch hier nicht.
695 Für jedes Volumelement des Raumes hat $c$ einen bestimmten
696 Zahlwert, der von keinem physikalischen Vorgang
697 überschritten werden kann. Dieser Zahlwert hat
698 alle Eigenschaften der früher benutzten Konstanten
699 $c =
3 \cdot 10^
{10}$, wenn man für das Volumenelement das Inertialsystem
700 aufsucht. Wenn also auch die obere Grenze aller
702 Geschwindigkeiten ihren Zahlwert von Ort zu Ort ändert,
703 so behält sie doch immer ihre Eigenschaft als einer
\emph{oberen
704 Grenze
}. Für jedes Volumelement -- und nur für ein
705 solches läßt sich überhaupt noch eine Zeitdefinition nach
706 dem Muster der speziellen Relativitätstheorie durchführen -- gilt
707 also unsere vorher angewandte Betrachtung
708 und der behauptete Widerspruch apriorer Prinzipien.
710 Trotzdem läßt sich noch ein Einwand machen. Wesentlich
711 für unsere Überlegungen war, daß man auch nicht
712 von einer
\emph{allmählichen Annäherung
} an eine absolute
713 Zeit sprechen kann, daß man diesen Begriff auch nicht
714 im Sinne eines zwar unerfüllten, aber doch stetig approximierbaren
715 Ideals gelten lassen kann. Ist es nun, vom
716 Standpunkt der allgemeinen Theorie, nicht wenigstens
717 möglich, dem Volumelement eine beliebig große Zahl
718 $c >
3 \cdot 10^
{10}$ zuzuordnen, so daß die Annäherung an die
719 absolute Zeit beliebig genau wird?
721 Nein, das ist nicht möglich. Denn die Zahl $c$ für das gewählte
722 Volumelement ist abhängig von der Massenverteilung
723 im Universum, und sie würde ihren Wert erst vergrößern,
724 wenn die gesamte Massenerfüllung des Kosmos
725 dichter würde. Wir sollen uns jedoch nicht darauf berufen,
726 daß eine solche Änderung außerhalb unserer experimentellen
727 Möglichkeiten läge. Das Wesentliche ist vielmehr, daß
728 bei dieser Änderung auch der Zustand des Volumelements
729 geändert würde, daß alle dort aufgestellten Uhren und
730 Maßstäbe eine nichteuklidische Deformation erfahren
731 würden, und daß deshalb die frühere Zeitmessung nicht
732 mit der späteren verglichen werden kann. Es hätte keinen
733 Sinn, selbst wenn wir eine solche Änderung der Massenverteilung
734 herbeiführen könnten, die Zeitmessung mit der
735 größeren Konstanten $c$ als eine Genauigkeitssteigerung
736 gegen die vorhergehende zu betrachten. Daß die
738 Konstante $c$ einen größeren Wert hat, bedeutet immer nur
739 eine Beziehung auf die Einheitsuhr; aber wenn diese selbst
740 durch die Änderung beeinflußt ist, hat der Vergleich mit
741 dem früheren Zustand seinen Sinn verloren. Zweckmäßig
742 erschiene es allein, den Wert von $c$ festzuhalten, etwa (wie es
743 vielfach geschieht) $c =
1$ zu setzen für alle Inertialsysteme,
744 und die Änderung der Uhren umgekehrt daran zu messen.
746 Wir bemerken den Unterschied dieser Zusammenhänge
747 gegenüber anderen physikalischen Betrachtungen. Wenn
748 man in irgend einer physikalischen Anordnung die Genauigkeit
749 steigert, so ist dies immer möglich, ohne die Anordnung
750 selbst prinzipiell zu ändern, indem nur einzelne
751 Teile eine Änderung erfahren. Benutzt man etwa eine
752 fliegende Flintenkugel zur Signalübertragung, so läßt sich
753 zum Zweck der Genauigkeitserhöhung ihre Geschwindigkeit
754 steigern, indem man die Pulverladung vergrößert;
755 diese Änderung hat keinen Einfluß auf den Zustand des
756 Raumes. Die Größe $c$ ist aber nicht eine Funktion bestimmter
757 Einzelvorgänge, sondern der Ausdruck eines
758 \emph{universalen Zustands
}, und alle Meßmethoden sind
759 nur innerhalb dieses Zustands vergleichbar. Die Eigentümlichkeit,
760 daß innerhalb jedes Universalzustands eine
761 obere Grenze $c$ für jedes Volumelement existiert, bleibt
762 aber erhalten, und darum gilt der oben behauptete Widerspruch
763 der Prinzipien unverändert weiter, auch wenn man
764 die spezielle Relativitätstheorie als Spezialfall in die
765 allgemeine einordnet.
767 Wir geben diese zusätzlichen Erörterungen nur, um
768 zu zeigen, daß die allgemeine Theorie den erkenntnislogischen
769 Grundsatz der speziellen nicht aufgegeben hat. Die
770 \emph{Geltung
} der allgemeinen Theorie aber ist ein besonderes
771 Problem und soll im folgenden Abschnitt analysiert werden.
776 \Chapter{III
}{Die von der allgemeinen Relativitätstheorie
777 behaupteten Widersprüche.
}
780 Wir gehen jetzt zur allgemeinen Relativitätstheorie
781 über. Sie behauptet, daß ein euklidischer Raum für die
782 physikalische Wirklichkeit nicht angenommen werden darf.
783 Wir fragen: welches sind die Prinzipien und Erfahrungen,
784 auf die sich die Theorie zur Begründung beruft? Warum
785 nennt sie die Annahme eines euklidischen Raumes falsch?
787 \name{Einstein
} sagt in seiner grundlegenden Schrift:
\glqq{}Es
788 kommt mir in dieser Abhandlung nicht darauf an, die
789 allgemeine Relativitätstheorie als ein möglichst einfaches
790 logisches System mit einem Minimum von Axiomen darzustellen.
791 Sondern es ist mein Hauptziel, diese Theorie
792 so zu entwickeln, daß der Leser die psychologische Natürlichkeit
793 des eingeschlagenen Weges empfindet und daß
794 die zugrunde gelegten Voraussetzungen durch die Erfahrung
795 möglichst gesichert erscheinen
\litref{7}.
\grqq{}
797 Diese Art der Begründung ist für den Physiker berechtigt,
798 denn ihm kommt es nicht auf die starre Aufrechterhaltung
799 philosophischer Prinzipien an, sondern auf eine
800 möglichst enge Anschmiegung seiner Gedankenbilder an
801 die Wirklichkeit. Der Philosoph aber muß Rechenschaft
802 fordern für eine Abweichung von so fundamentalen Prinzipien,
803 wie sie die euklidische Geometrie enthält. Indem
804 wir die Begründung der Theorie daraufhin ordnen, werden
805 wir finden, daß
\name{Einsteins
} Darstellung in Wahrheit eine
806 viel tiefere Begründung gibt, als er selbst in den begleitenden
810 Wir hatten schon in den Ausführungen zur speziellen
811 Relativitätstheorie betont, daß die allgemeine Relativität
812 aller Koordinatensysteme vom Standpunkt der kritischen
813 Philosophie nur selbstverständlich ist, und brauchen daher
814 auf diese Forderung nicht mehr einzugehen. Wir fragen
815 aber: Warum führt sie zur Aufgabe des euklidischen
818 Wir denken uns ein homogenes Gravitationsfeld von
819 großer Ausdehnung und darin ein Inertialsystem angenommen.
820 In diesem Koordinatensystem ist dann das
821 Gravitationsfeld überall gleich Null. Wir wissen, daß
822 dann das vierdimensionale Linienelement
824 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 \diff{x_
\nu}^
2
826 sich als Summe von Quadraten der Koordinatendifferentiale
827 ausdrückt. Führen wir jetzt neue Koordinaten durch
828 eine beliebige Substitution ein, etwa ein System, das sich
829 gegen das Inertialsystem beschleunigt bewegt, so wird
830 das Linienelement seine einfache Form nicht bewahren,
831 sondern in einen gemischt quadratischen Ausdruck übergehen:
833 \diff{s
}^
2 =
\sum_1^
4 g_
{\mu\nu} \diff{x_
\mu} \diff{x_
\nu}.
836 Dieser Ausdruck ist nach
\name{Gauß
} und
\name{Riemann
}
837 charakteristisch für eine nichteuklidische Geometrie
\Footnote{b
}
838 {Wir gebrauchen hier das Wort
\glqq{}euklidisch
\grqq{} für die vierdimensionale
839 Mannigfaltigkeit im üblichen Sinne. Obgleich wir die folgenden Betrachtungen
840 für die vierdimensionale Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit anstellen
841 werden, gelten sie ebenso für den durch diese definierten dreidimensionalen
842 Raum, denn wenn die erstere eine
\name{Riemann
}sche Krümmung aufweist,
843 ist auch der letzte notwendig gekrümmt, und wenn die erstere euklidisch
844 ist, läßt sich auch der letztere immer euklidisch wählen. Vgl. für die
845 Analogie dieser beiden Mannigfaltigkeiten
\name{Erwin Freundlich
},
\Anmerkung{%
848 Die darin auftretenden Koeffizienten $g_
{\mu\nu}$ drücken sich
849 durch die Beschleunigung des zweiten Koordinatensystems
850 gegen das Inertialsystem aus, und da diese Beschleunigung
851 unmittelbar das für das zweite System bestehende Schwerefeld
852 charakterisiert, so dürfen wir sie als ein Maß für
853 dieses Schwerefeld bezeichnen. Wir sehen also: der Übergang
854 von einem schwerelosen Feld in ein Gravitationsfeld
855 ist mit einem Übergang zu nichteuklidischen Koordinaten
856 verknüpft, und die Metrik dieser Koordinaten ist ein Maß
857 für das Gravitationsfeld. Von hier aus hat
\name{Einstein
} den
858 Schluß gezogen, daß
\emph{jedes
} Gravitationsfeld, nicht bloß
859 das durch Transformation erzeugte, sich durch Abweichung
860 von der euklidischen Gestalt des Raumes ausdrücken muß.
862 Es handelt sich also um eine Extrapolation. Eine
863 solche ist aber immer auf verschiedenen Wegen möglich;
864 wir müssen fragen, welche Prinzipien gerade zu der
865 \name{Einstein
}schen Extrapolation geführt haben.
867 Betrachten wir das geschilderte Gravitationsfeld noch
868 genauer. Daß wir durch die Forderung der allgemeinen
869 Relativität auf nichteuklidische Koordinaten geführt werden,
870 diese also als gleichberechtigt neben den euklidischen
871 zulassen müssen, wird durch das Beispiel hinreichend bewiesen.
872 Aber die dabei entstandene nichteuklidische Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit
873 hat noch eine besondere Eigentümlichkeit:
874 es lassen sich in ihr Koordinaten so wählen, daß
875 das Linienelement an jedem Punkt euklidisch wird. Damit
876 ist aber für das nichteuklidische Koordinatensystem eine
877 weitgehende Einschränkung gegeben, es folgt z.\,B. daß
878 das
\name{Riemann
}sche Krümmungsmaß dieses Systems überall
879 gleich Null wird. Ein solcher Raum ist nur scheinbar
880 nichteuklidisch, in Wahrheit hat er keine andere Struktur
881 als der euklidische Raum. Auch der dreidimensionale
882 euklidische Raum läßt sich durch nichteuklidische
884 Koordinaten ausdrücken. Man braucht dazu nur irgendwelche
885 krummlinige schiefwinklige Koordinaten zu wählen, dann
886 wird das Linienelement zu einem gemischt quadratischen
887 Ausdruck. Bereits die gewöhnlichen Polarkoordinaten
888 liefern für das Linienelement eine von der reinen Quadratsumme
889 abweichende Form. Sieht man von ihrer anschaulichen
890 Bedeutung ab und betrachtet sie als eine dreiachsige
891 Mannigfaltigkeit, ähnlich den drei Achsen des
892 Raumes, so stellen sie also einen nichteuklidischen Raum
893 dar. Man kann die Darstellung des euklidischen Raumes
894 durch Polarkoordinaten als eine Abbildung auf einen nichteuklidischen
895 Raum auffassen. Das Krümmungsmaß aber
896 bleibt dabei gleich Null.
898 Das gewählte Beispiel zeigt daher nur die Gleichberechtigung
899 pseudo-nichteuklidischer Räume mit den euklidischen.
900 Wenn also die
\name{Einstein
}sche Theorie, indem sie von
901 homogenen Gravitationsfeldern zu beliebigen inhomogenen
902 Feldern übergeht, die Notwendigkeit echter nichteuklidischer
903 Koordinaten behauptet, so geht sie damit wesentlich
904 über den Gedanken des Beispiels hinaus. Sie behauptet
905 damit, daß es für den allgemeinen Fall nicht möglich ist,
906 den Koordinaten die euklidische Form zu geben. Wir
907 stehen also vor einer sehr weitgehenden Extrapolation.
908 Näher liegend erscheint eine solche Theorie, für die auch
909 im allgemeinen Falle die Transformation auf euklidische
910 Koordinaten möglich ist, in der also auch der massenerfüllte
911 Raum das Krümmungsmaß Null behält.
913 Auch das von
\name{Einstein
} angeführte Beispiel der rotierenden
914 Kreisscheibe
\litref{8} kann eine so weitgehende Verallgemeinerung
915 nicht als notwendig beweisen. Es ist allerdings
916 richtig, daß ein auf der Scheibe befindlicher mitrotierender
917 Beobachter für den Quotienten aus Umfang
918 und Durchmesser der Scheibe eine größere Zahl als $
\pi$
920 erhält, daß also für ihn und sein mitrotierendes Koordinatensystem
921 die euklidische Geometrie nicht gilt. Aber
922 der Beobachter würde sehr bald entdecken, daß die Meßresultate
923 wesentlich einfacher würden, wenn er ein (von
924 ihm aus gesehen) rotierendes System einführt -- das
925 nämlich der Scheibe entgegen mit gleicher Geschwindigkeit
926 rotiert, so daß es in der umgebenden Ebene ruht --
927 und daß er von diesem Bezugssystem aus alle Vorgänge
928 in euklidischer Geometrie beschreiben kann. Auch eine
929 synchrone Zeit kann er für dieses System definieren (was
930 für die Scheibe selbst bekanntlich nicht möglich ist).
931 Dieses Bezugssystem würde für ihn etwa die Rolle spielen,
932 wie das von den Astronomen gesuchte Inertialsystem des
933 Sonnensystems, das für die
\name{Newton
}schen Gleichungen
934 fingiert wird. Die Geometrie der rotierenden Kreisscheibe
935 ist also ebenfalls pseudo-nichteuklidisch; ihr Krümmungsmaß
938 Wir fragen deshalb, ob nicht eine Gravitationstheorie
939 mit weniger weitgehender Extrapolation möglich ist als
940 die
\name{Einstein
}sche. Wir wollen folgende Forderungen an
943 a) die Theorie soll für homogene Felder übergehen in
944 die spezielle Relativitätstheorie;
946 b) die Theorie soll in jedem Fall die Möglichkeit einer
947 euklidischen Koordinatenwahl zulassen.
949 In der Tat ist eine solche Theorie möglich; die beiden
950 Forderungen stehen also in keinem Widerspruch. Z.\,B.
951 könnte das nach Forderung b definierte Koordinatensystem
952 dadurch entstehen, daß man in jedem Punkt des
953 Feldes die Feldstärke mißt, den Mittelwert aller Feldstärken
954 bildet und dasjenige System bestimmt, in dem
955 dieser Mittelwert ein Minimum wird. Für konstante
957 Feldstärke, also homogenes Feld, wäre dann das Mittel gleich
958 der konstanten Feldstärke, also ein Minimum in demjenigen
959 System, in dem die Feldstärke gleich Null ist;
960 das wäre dann das Inertialsystem. So wäre der Anschluß
961 der allgemeinen Theorie an den Spezialfall des homogenen
962 Feldes und die spezielle Relativitätstheorie vollzogen.
963 Natürlich müßte die angenommene Hypothese für das
964 ausgezeichnete System noch mit der Erfahrung verglichen
965 werden. Bemerkt sei übrigens, daß diese Auszeichnung
966 eines Systems nicht etwa der Relativität der Koordinaten
967 widerspricht. Daß der Raum sich in verschiedenen Systemen
968 verschieden ausdrückt, ist selbstverständlich und
969 keine physikalische Bevorzugung. Auch das homogene
970 Gravitationsfeld kennt ja das ausgezeichnete euklidische
973 Jedoch ist die Voraussetzung a nicht die von
\name{Einstein
}
974 gewählte. Zwar hält auch er an einem stetigen Übergang
975 seiner Theorie in die spezielle fest. Die Voraussetzung a
976 vollzieht diesen Übergang, indem sie bei
\emph{festgehaltenem
977 Raumgebiet
} die Feldstärken in den verschiedenen
978 Punkten einander gleich werden läßt. Es gibt aber noch
979 eine andere Form des Übergangs. Die Feldstärke muß
980 als stetige Funktion des Raums angenommen werden;
981 dann sind unendlich kleine Feldgebiete homogen. Wir
982 können also den Übergang zum homogenen Feld auch in
983 der Weise vollziehen, daß wir
\emph{bei festgehaltener Feldstärke
}
984 das Raumgebiet immer kleiner werden lassen.
985 Diesen Übergang können wir in jedem Punkte des Feldes
986 vornehmen, und wir wollen deshalb die folgende
\name{Einstein
}sche
987 Voraussetzung für die Extrapolation machen:
989 c) die Theorie soll in jedem Punkt des Feldes für unendlich
990 kleine Gebiete übergehen in die spezielle
994 Wir fragen: Ist mit dieser Forderung c die Forderung b
997 Wir denken uns in einem inhomogenen Gravitationsfeld
998 ein kleines Gebiet $G_1$ ausgesucht, das wir als hinreichend
999 homogen betrachten dürfen. Dort können wir
1000 ein Inertialsystem $K_1$ wählen; in ihm verschwindet die
1001 Feldstärke. Das System nach Forderung b, das in jedem
1002 Punkte des Feldes euklidisch ist, muß also zu der Schar
1003 der gegen $K_1$ gleichförmig translatorisch bewegten Systeme
1004 gehören, denn sonst könnte es für $G_1$ nicht euklidisch sein.
1005 Dieselbe Überlegung wende ich nun auf ein zweites, entferntes
1006 Gebiet $G_2$ an, in dem die Feldstärke einen anderen
1007 Wert hat als in $G_1$. Die Inertialsysteme $K_2$ in $G_2$ müssen
1008 gegen $K_1$ eine beschleunigte Bewegung ausführen, gehören
1009 also nicht zur Schar der Inertialsysteme in $G_1$. Damit
1010 das System nach Forderung b in beiden Punkten euklidisch
1011 wird, müßte es sowohl zur Schar $K_1$ wie zur Schar $K_2$
1012 gehören, das ist ein Widerspruch. Also ist Forderung c
1013 mit Forderung b nicht vereinbar.
1015 Damit ist bewiesen, daß, wenn man aus der speziellen
1016 Relativitätstheorie nach der
\name{Einstein
}schen Forderung c
1017 durch Extrapolation zu einer allgemeinen Relativitätstheorie
1018 übergeht, der euklidische Charakter des Raumes
1019 aufgegeben werden muß. Es ist danach in einem beliebigen
1020 Gravitationsfeld durch keine Koordinatenwahl
1021 möglich, dem Linienelement in allen Punkten zugleich die
1022 euklidische Form zu geben; das Krümmungsmaß des
1023 massenerfüllten Raumes ist von Null verschieden.
1025 Die Forderung c beruht einerseits, wie wir bereits
1026 sagten, auf der Stetigkeit des Gravitationsfeldes. Da die
1027 Stetigkeit nicht bloß eine Eigenschaft der Gravitation
1028 ist, sondern allgemein für physikalische Größen vorausgesetzt
1029 wird, können wir von einem Prinzip der Stetigkeit
1031 physikalischer Größen sprechen. Andererseits beruht die
1032 Forderung c auf der Tatsache, daß der Raum für kleine
1033 Gebiete keine anderen Eigenschaften zeigt als für große,
1034 daß also der
\emph{Raum homogen
} ist; denn nur unter dieser
1035 Voraussetzung dürfen wir fordern, daß für beliebig kleine
1036 Raumgebiete die spezielle Relativitätstheorie gilt, wenn
1037 nur die Feldstärke der Gravitation nahezu konstant wird.
1038 Würden wir die Homogenität des Raums nicht voraussetzen,
1039 so könnte der Fehler, der durch die Verkleinerung
1040 des Raumgebiets entsteht, den Einfluß der herabgesetzten
1041 Schwankung der Feldstärke in dem Gebiet gerade kompensieren,
1042 so daß doch keine Annäherung an die spezielle
1043 Relativitätstheorie zustande käme; dann dürften wir den
1044 Grenzübergang nur nach Forderung a vollziehen. Drittens
1045 beruht die Forderung c auf dem
\name{Einstein
}schen Äquivalenzprinzip,
1046 denn sie besagt, daß
\emph{jedes
} homogene Gravitationsfeld,
1047 das Schwerefeld ebenso wie das Trägheitsfeld,
1048 sich in ein kräftefreies Feld transformieren läßt. Hier
1049 liegt eine rein empirische Grundlage der Forderung c.
1050 Denn das Äquivalenzprinzip besagt weiter nichts als die
1051 Gleichheit von schwerer und träger Masse für
\emph{jedes
}
1052 Gravitationsfeld, und diese Tatsache läßt sich nur durch
1053 das Experiment feststellen. Allerdings konnte das Experiment
1054 bisher nur im Erdfeld vorgenommen werden.
1055 Aber es ist eine normale Induktion, von diesem Versuche
1056 auf die allgemeine Äquivalenz zu schließen.
1058 Man wird die Stetigkeit physikalischer Größen und
1059 die Homogenität des Raums evidente apriore Prinzipien
1060 im
\name{Kant
}ischen Sinne nennen können. Dann dürfen wir,
1061 den Zusammenhang umkehrend, sagen, daß diese beiden
1062 aprioren Prinzipien einen Verzicht auf die Forderung c
1063 nur dann zulassen, wenn die träge und die schwere Masse
1064 im allgemeinen nicht gleich sind; das würde verlangen, daß
1066 man in der Deutung der bisherigen Beobachtungen auf
1067 diesem Gebiete von der normalen Induktion abweicht. Da
1068 nun die Forderung c zum Widerspruch gegen die Euklidizität
1069 des Raumes führt, so verlangt die Euklidizität umgekehrt,
1070 im Verein mit den anderen Prinzipien, den Verzicht auf die
1071 normale Induktion in der Äquivalenzfrage. Nennen wir noch
1072 die Forderung, daß die allgemeine Theorie für den speziellen
1073 Fall in die spezielle übergeht, die
\emph{Stetigkeit der Gesetze
},
1074 und verstehen wir unter dem Prinzip der speziellen
1075 Relativität den Gesamtinhalt der speziellen Relativitätstheorie
1076 als einer Theorie des kräftefreien Feldes, so dürfen
1077 wir jetzt behaupten, daß die allgemeine Relativitätstheorie
1078 folgende Prinzipien als
\emph{gemeinsam unvereinbar mit
1079 der Erfahrung
} nachgewiesen hat.
1082 \item Prinzip der speziellen Relativität
1083 \item Prinzip der normalen Induktion
1084 \item Prinzip der allgemeinen Kovarianz
1085 \item Prinzip der Stetigkeit der Gesetze
1086 \item Prinzip der Stetigkeit physikalischer Größen
1087 \item Prinzip der Homogenität des Raumes
1088 \item Prinzip der Euklidizität des Raumes.
1091 Denn die Gesamtheit dieser Prinzipien ist unvereinbar
1092 mit der Erfahrungstatsache, daß im Erdfeld die träge und
1093 die schwere Masse gleich sind. Dabei sind alle diese Prinzipien,
1094 mit Ausnahme des ersten, apriori im
\name{Kant
}ischen
1095 Sinne; das erste aber ist gerade dasjenige Prinzip, welches
1096 den in der entsprechenden Zusammenstellung des vorhergehenden
1097 Abschnitts dargestellten Widerspruch löst.
1099 Wir haben damit die grundlegenden Gedanken für das
1100 Verlassen der euklidischen Raumanschauung aufgedeckt.
1101 Ehe wir jedoch diese Darlegung beschließen, müssen wir
1102 noch etwas über den speziellen Charakter sagen, den auch
1103 der
\name{Einstein
}sche Raum noch besitzt.
1106 Es ist nicht richtig zu sagen, daß in der
\name{Einstein
}schen
1107 Lehre der euklidische Raum keine Vorzugsstellung mehr
1108 inne hätte. Eine Bevorzugung liegt immer noch darin,
1109 daß das unendlich kleine Raumgebiet als euklidisch angenommen
1110 wird.
\name{Riemann
} nennt diese Eigenschaft:
1111 \glqq{}Ebenheit in den kleinsten Teilen
\grqq{}. Sie drückt sich analytisch
1112 in der gemischt quadratischen Form des Linienelements
1113 aus; aus dieser folgt, daß stets eine solche Koordinatenwahl
1114 möglich ist, daß in einem einzigen Punkt das
1115 Linienelement sich gerade als reine Quadratsumme darstellt.
1116 Man kann also ein Koordinatensystem immer so
1117 wählen, daß es für ein beliebig vorgegebenes Punktgebiet
1118 gerade euklidisch wird. Physikalisch bedeutet dies, daß
1119 man für ein unendlich kleines Gebiet das Gravitationsfeld
1120 immer
\glqq{}wegtransformieren
\grqq{} kann, wie auch das Feld
1121 sonst beschaffen sein möge, daß also kein Wesensunterschied
1122 zwischen den durch Transformation erzeugten und
1123 den statischen Gravitationsfeldern besteht. Das ist der
1124 Inhalt der
\name{Einstein
}schen Äquivalenzhypothese für die
1125 träge und die schwere Masse. Umgekehrt ist auch diese
1126 Hypothese der Grund für die quadratische Form des
1127 Linienelements, und die Ebenheit in den kleinsten Teilen
1128 hat danach ihren
\emph{physikalischen
} Grund. Würden die
1129 physikalischen Verhältnisse anders liegen, so müßte für
1130 das Linienelement ein anderer Differentialausdruck, etwa
1131 vom vierten Grade, gewählt werden, und damit würde
1132 auch die letzte Vorzugsstellung des euklidischen Raumes
1135 Man kann die Sonderstellung der gemischt quadratischen
1136 Form für das Linienelement auch folgendermaßen
1137 darstellen. Die die Metrik bestimmenden zehn Funktionen
1138 $g_
{\mu\nu}$ sind nicht absolut festgelegt, sondern hängen von der
1139 Koordinatenwahl ab. Allerdings sind sie nicht unabhängig
1141 voneinander, und wenn vier von ihnen vorgegeben sind,
1142 sind die Koordinaten und auch die anderen sechs Funktionen
1143 bestimmt. In dieser Abhängigkeit drückt sich der
1144 absolute Charakter der Raumkrümmung aus. Für die
1145 metrischen Funktionen $g_
{\mu\nu}$ gilt also
\emph{keine
} Relativität,
1146 d.\,h. Beliebigkeit ihrer Wahl. Wohl aber kann man
1147 eine andere Relativität behaupten. Es seien beliebige zehn
1148 Zahlen vorgegeben, dann läßt sich ein Koordinatensystem
1149 immer so wählen, daß die metrischen Koeffizienten in
1150 einem beliebig vorgegebenen Punkt gerade gleich diesen
1151 zehn Zahlen werden. (In den anderen Punkten sind sie
1152 dann natürlich nicht mehr beliebig.) Man kann diese
1153 Eigenschaft
\glqq{}Relativität der metrischen Koeffizienten
\grqq{}
1154 nennen; sie besagt, daß für einen gegebenen Punkt die
1155 metrischen Koeffizienten keine absolute Bedeutung haben.
1156 Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Relativität nur für
1157 das gemischt quadratische Linienelement gilt; für andere
1158 Formen, z.\,B. den Differentialausdruck vierten Grades,
1159 ist die beliebige Wahl der Zahlen nicht möglich. Mit der
1160 Relativität der metrischen Koeffizienten hat also die
1161 \name{Einstein
}sche Theorie ein weiteres willkürliches Element in
1162 die Naturbeschreibung eingeführt; wir heben dies deshalb
1163 hervor, weil an diesem Relativitätsprinzip die empirische
1164 Grundlage, nämlich die Gleichheit von träger und schwerer
1165 Masse, besonders deutlich zu erkennen ist.
1170 \Chapter{IV
}{Erkenntnis als Zuordnung.
}
1173 Ehe wir an eine Kritik der von der Relativitätstheorie
1174 aufgezeigten Widersprüche gehen, müssen wir eine Theorie
1175 des physikalischen Erkenntnisbegriffs entwickeln und versuchen,
1176 den Sinn des Apriori zu formulieren.
1178 Es ist das Kennzeichen der modernen
\emph{Physik,
} daß
1179 sie alle Vorgänge durch
\emph{mathematische
} Gleichungen
1180 darstellt; aber diese Berührung zweier Wissenschaften darf
1181 über deren grundsätzlichen Unterschied nicht hinwegtäuschen.
1182 Für den mathematischen Satz bedeutet
\emph{Wahrheit
}
1183 eine innere Beziehung seiner Glieder, für den physikalischen
1184 Satz aber heißt Wahrheit eine Beziehung auf etwas
1185 Äußeres, ein bestimmter Zusammenhang mit der Erfahrung.
1186 Man drückt diese Tatsache gewöhnlich in der
1187 Form aus, daß man dem mathematischen Satz eine absolute
1188 Geltung zuschreibt, dem physikalischen aber nur
1189 eine wahrscheinliche. Ihren inneren Grund hat diese
1190 Eigentümlichkeit in der Verschiedenheit des Objekts der
1191 beiden Wissenschaften.
1193 Der
\emph{mathematische Gegenstand
} ist durch die
1194 Axiome und die Definitionen der Mathematik vollständig
1195 definiert. Durch die Definitionen: denn sie geben an, wie
1196 sich der Gegenstand zu den bereits vorher definierten
1197 Gegenständen in Beziehung setzt; indem seine Unterschiede
1198 und Gleichheiten aufgedeckt werden, erhält er
1199 selbst erst seinen Sinn und Inhalt als Inbegriff dieser Abgrenzungen.
1200 Und durch die Axiome: denn sie geben die
1202 Rechenregeln, nach denen die Abgrenzungen zu vollziehen
1203 sind. Auch die in den Axiomen auftretenden Grundbegriffe
1204 sind erst durch die damit aufgestellten Relationen
1205 definiert. Wenn
\name{Hilbert
}\litref{9} unter seine Axiome der
1206 Geometrie den Satz aufnimmt:
\glqq{}unter irgend drei
1207 Punkten einer Geraden gibt es stets einen und nur einen,
1208 der zwischen den beiden andern liegt
\grqq{}, so ist dies ebensowohl
1209 eine Definition für die Eigenschaften der Punkte
1210 wie für die Natur der Geraden oder wie für die Relation
1211 \glqq{}zwischen
\grqq{}. Zwar ist dieser Satz noch keine
\emph{erschöpfende
}
1212 Definition. Aber die Definition wird vollständig
1213 durch die Gesamtheit der Axiome. Der
\name{Hilbert
}sche
1214 Punkt oder die Gerade ist nichts anderes, als etwas, was
1215 die in den Axiomen ausgesagten Eigenschaften besitzt.
1216 Man könnte genau so gut die Zeichen a, b, c
\ldots{} an Stelle
1217 der Wortzeichen Punkt, Gerade, zwischen usw. setzen,
1218 die Geometrie würde dadurch nicht geändert. Am deutlichsten
1219 drückt sich das in der projektiven Geometrie aus,
1220 deren Sätze für die Ebene richtig bleiben, wenn man die
1221 Begriffe Punkt und Gerade vertauscht. Ihre axiomatisch
1222 definierten Relationen sind für diese beiden Begriffe symmetrisch,
1223 und obgleich unsere Anschauung mit beiden
1224 Begriffen einen ganz verschiedenen Inhalt verbindet und
1225 entsprechend auch die Axiome inhaltlich verschieden auffaßt,
1226 drückt sich die begriffliche Symmetrie in der Tatsache
1227 aus, daß der durch Vertauschung entstandene Satz
1228 ebenfalls richtig ist, auch für unsere Anschauung, obgleich
1229 sein anschaulicher Sinn geändert worden ist. Diese eigentümliche
1230 Wechselseitigkeit der mathematischen Definition,
1231 in der immer ein Begriff den anderen definiert, ohne daß
1232 eine Beziehung auf
\glqq{}absolute Definitionen
\grqq{} nötig wäre,
1233 ist von
\name{Schlick
}\litref{10} in der Lehre von den impliziten Definitionen
1234 sehr klar ausgeführt worden. Wir müssen diese
1236 moderne Art der Definition der alten scholastischen mit
1237 ihrer Angabe von Klasse und Merkmal gegenüberstellen.
1239 Es ist unter diesen Umständen nicht weiter verwunderlich,
1240 daß der mathematische Satz absolute Geltung besitzt.
1241 Denn er bedeutet nichts als eine neue Art von Verflechtung
1242 der bekannten Begriffe nach den bekannten Regeln. Verwunderlich
1243 ist es höchstens, daß der menschliche Verstand,
1244 dieses sehr unvollkommene Werkzeug, die Schlußketten
1245 vollziehen kann. Aber das ist ein anderes Problem.
1246 \name{Schlick
} hat dafür das schöne Beispiel von der Rechenmaschine
1247 erfunden, die auch logische Schlüsse vollzieht
1248 und selbst doch nur ein materieller Apparat mit allen
1249 empirischen Ungenauigkeiten ist.
1251 Für den
\emph{physikalischen Gegenstand
} aber ist eine
1252 derartige Definition unmöglich. Denn er ist ein Ding der
1253 Wirklichkeit, nicht jener konstruierten Welt der Mathematik.
1254 Zwar sieht es so aus, als ob die Darstellung des
1255 Geschehens durch Gleichungen einen Weg in der gleichen
1256 Richtung bedeute. Es ist Methode der Physik geworden,
1257 eine Größe durch andere zu definieren, indem man sie
1258 zu immer weiter zurückliegenden Größen in Beziehung
1259 setzt und schließlich ein System von Axiomen, Grundgleichungen
1260 der Physik, an die Spitze stellt. Aber was
1261 wir auf diese Weise erreichen, ist immer nur ein System
1262 von verflochtenen mathematischen Sätzen, und es fehlt
1263 innerhalb dieses Systems gerade diejenige Behauptung,
1264 die den Sinn der Physik ausmacht, die Behauptung, daß
1265 dies System von Gleichungen
\emph{Geltung für die Wirklichkeit
}
1266 hat. Das ist eine ganz andere Beziehung als
1267 die immanente Wahrheitsrelation der Mathematik. Wir
1268 können sie als eine Zuordnung auffassen: die wirklichen
1269 Dinge werden Gleichungen zugeordnet. Nicht nur die
1270 Gesamtheit der wirklichen Dinge ist der Gesamtheit des
1272 Gleichungssystems zugeordnet, sondern auch die
\emph{einzelnen
}
1273 Dinge den
\emph{einzelnen
} Gleichungen. Dabei ist das
1274 Wirkliche immer nur durch irgendeine Wahrnehmung als
1275 gegeben zu betrachten. Nennen wir die Erde eine Kugel,
1276 so ist das eine Zuordnung der mathematischen Figur
1277 \glqq{}Kugel
\grqq{} zu gewissen Wahrnehmungen unserer Augen und
1278 unseres Tastsinns, die wir, bereits eine primitivere Stufe
1279 der Zuordnung vollziehend, als
\glqq{}Wahrnehmungsbilder der
1280 Erde
\grqq{} bezeichnen. Sprechen wir von dem
\name{Boile
}schen
1281 Gasgesetz, so ordnen wir damit die Formel $p
\cdot V = R
\cdot T$
1282 gewissen Wahrnehmungen zu, die wir teils als direkte
1283 (z.\,B. das Hautgefühl bei bewegter Luft), teils als indirekte
1284 (z.\,B. Stand des Zeigers im Manometer) Wahrnehmungen
1285 der Gase bezeichnen. Daß die Sinnesorgane die Vermittlung
1286 der Begriffe mit der Wirklichkeit übernehmen, ist
1287 in der Natur des Menschen begründet und durch gar keine
1288 Metaphysik hinweg zu interpretieren.
1290 Die Zuordnung, die im physikalischen Satz vollzogen
1291 wird, ist aber von sehr merkwürdiger Natur. Sie unterscheidet
1292 sich durchaus von anderen Arten der Zuordnung.
1293 Sind etwa zwei Punktmengen gegeben, so ordnen wir sie
1294 einander dadurch zu, daß wir zu jedem Punkt der einen
1295 Menge einen Punkt der anderen Menge als zugehörig bestimmen.
1296 Dazu müssen aber die Elemente jeder der
1297 Mengen
\emph{definiert
} sein; d.\,h. es muß für jedes Element
1298 noch eine andere Bestimmung geben als die, welche die
1299 Zuordnung zur anderen Menge vollzieht. Gerade diese
1300 Definiertheit fehlt auf der einen Seite der erkenntnistheoretischen
1301 Zuordnung. Zwar sind die Gleichungen,
1302 die begriffliche Seite, hinreichend definierte Gebilde. Aber
1303 für das
\glqq{}Wirkliche
\grqq{} kann man das keineswegs behaupten.
1304 Im Gegenteil erhält es seine Definition im einzelnen erst
1305 durch die Zuordnung zu Gleichungen.
1308 Man könnte diese Zuordnung dem mathematischen
1309 Fall vergleichen, wo eine diskrete Menge einer Untermenge
1310 des Kontinuums zugeordnet wird. Betrachten wir etwa
1311 als Beispiel die Zuordnung der rationalen Brüche zu
1312 Punkten einer geraden Linie. Wir bemerken zunächst
1313 auch hier, daß die Punkte der geraden Linie alle wohl
1314 definiert sind; wir können durchaus von jedem Punkt
1315 der Ebene angeben, ob er zu der Geraden gehört oder
1316 nicht. Mehr als das: die Punkte der Geraden sind außerdem
1317 geordnet; wir können von je zwei Punkten angeben,
1318 welcher von ihnen
\glqq{}rechts
\grqq{}, welcher
\glqq{}links
\grqq{} liegt. Aber
1319 es werden bei der Zuordnung nicht alle Punkte der Geraden
1320 getroffen. Eine unendliche Menge, die den irrationalen
1321 Zahlen entspricht, bleibt unberührt, und die Auswahl der
1322 den rationalen Brüchen entsprechenden Punkte wird erst
1323 durch die Zuordnung vollzogen. Wir können von einem
1324 Punkte der Geraden nicht ohne weiteres angeben, ob er
1325 zu der zugeordneten Untermenge gehört; um das festzustellen,
1326 müssen wir erst nach einer Methode, die durch
1327 die Konstruktion der rationalen Brüche gegeben ist, eine
1328 Untersuchung anstellen. Insofern vollzieht die Zuordnung
1329 zu der andern Menge erst die Auswahl der Untermenge
1330 des Kontinuums. Aber wir bemerken auch, daß das
1331 Problem so noch nicht hinreichend definiert ist. Denn
1332 wir können die Zuordnung noch auf unendlich viel verschiedene
1333 Weisen vollziehen. Vergrößern wir etwa die
1334 als Einheit gewählte Strecke, so findet die geforderte Zuordnung
1335 ebensogut statt, aber einem bestimmten rationalen
1336 Bruch entspricht jetzt ein anderer Punkt der Geraden.
1337 Und mehr als das: Punkte, die vorher einer
1338 Irrationalzahl entsprachen, werden jetzt vielleicht einem
1339 rationalen Bruch zugeordnet, so daß die ausgewählte
1340 Untermenge sich jetzt aus ganz anderen Elementen
1342 zusammensetzt. Noch ganz andere Zuordnungen ergeben
1343 sich, wenn man etwa die Gerade in Strecken einteilt, die
1344 den ganzen Zahlen entsprechen, und die Zuordnung innerhalb
1345 jedes Abschnitts von rückwärts vornimmt; man
1346 könnte auch beliebige endliche Stücke überhaupt von der
1347 Zuordnung ausschalten -- derartiger Möglichkeiten gibt
1348 es unbegrenzt viel. Man erkennt: die auszuwählende
1349 Untermenge ist erst definiert, wenn noch gewisse Nebenbedingungen
1350 angegeben sind. So kann man fordern, daß
1351 von zwei beliebigen Brüchen der größere immer dem weiter
1352 rechts gelegenen Punkt zugeordnet wird, daß ein doppelt
1353 so großer Bruch einem doppelt so weit rechts gelegenen
1354 Punkt zugeordnet wird usw. Man kann fragen, wann die
1355 Nebenbedingungen hinreichend sind, um die Zuordnung
1356 eindeutig zu machen. Erst wenn solche Bedingungen gefunden
1357 worden sind, ist durch die diskrete Menge und
1358 die Nebenbedingungen eine eindeutige Auswahl unter den
1359 Punkten des Kontinuums vollzogen. Ihre Durchführung
1360 ist dann immer noch ein mathematisches Problem, aber
1361 ein eindeutig lösbares: es lösen, heißt andere Relationen
1362 zu finden, die dann ebenfalls zwischen den Punkten bestehen
1363 und in den Nebenbedingungen nicht explizit gegeben
1366 Aber auch dieses Beispiel unterscheidet sich immer
1367 noch von der Zuordnung, die im
\emph{Erkenntnisprozeß
}
1368 vollzogen wird. In dem Beispiel war für die
\emph{Obermenge
}
1369 jedes Element definiert, sogar noch ein Ordnungssinn gegeben.
1370 Die Nebenbedingungen mußten von dieser Eigenschaft
1371 Gebrauch machen, nicht nur von dem Ordnungssinn,
1372 sondern auch von der Definiertheit der Einzelelemente;
1373 von letzterer z.\,B. in der Forderung, daß dem
1374 doppelten Bruch die doppelte Strecke auf der Geraden
1375 entsprechen soll, denn das setzt voraus, daß man für
1377 jeden Punkt eine Entfernung vom Nullpunkt angeben
1378 kann. Für die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs aber
1379 versagen alle solche Bestimmungen. Die eine Seite ist
1380 völlig undefiniert. Sie ist nicht in Grenzen eingeschlossen,
1381 sie hat keinen Ordnungssinn, ja, es läßt sich nicht einmal
1382 angeben, was ein Einzelelement dieser Menge ist. Was
1383 ist die Länge eines physikalischen Stabes? Sie wird erst
1384 definiert durch eine Fülle von physikalischen Gleichungen,
1385 die aus den Ablesungen an den geodätischen Instrumenten
1386 eine Größe
\glqq{}Länge
\grqq{} herausinterpretieren. Wieder vollzieht
1387 erst die Zuordnung zu den Gleichungen die Definition.
1388 Und wir stehen vor der merkwürdigen Tatsache, daß wir
1389 in der Erkenntnis eine Zuordnung zweier Mengen vollziehen,
1390 deren eine durch die Zuordnung nicht bloß ihre
1391 Ordnung erhält, sondern
\emph{in ihren Elementen erst
1392 durch die Zuordnung definiert wird
}.
1394 Auch wenn man versucht, die einzelne Wahrnehmung
1395 als definiertes Element der Wirklichkeit zu betrachten,
1396 kommt man nicht durch. Denn der Inhalt jeder Wahrnehmung
1397 ist viel zu komplex, um als zuzuordnendes Element
1398 gelten zu können. Fassen wir etwa in dem oben
1399 erwähnten Beispiel die Wahrnehmung des Manometerzeigers
1400 als solches Element auf, so geraten wir deshalb
1401 in Schwierigkeiten, weil diese Wahrnehmung viel mehr
1402 enthält als die Zeigerstellung. Ist z.\,B. auf dem Manometer
1403 das Firmenschild des Fabrikanten befestigt, so geht dies
1404 ebenfalls in die Wahrnehmung ein. Zwei Wahrnehmungen,
1405 die sich in bezug auf das Firmenschild unterscheiden,
1406 können für die Zuordnung zur Boileschen Gleichung trotzdem
1407 äquivalent sein. Ehe wir die Wahrnehmung zuordnen,
1408 müssen wir in ihr eine Ordnung vollziehen,
\glqq{}das Wesentliche
1409 vom Unwesentlichen scheiden
\grqq{}; aber das ist bereits
1410 eine Zuordnung unter Zugrundelegung der Gleichungen
1412 oder der in ihnen ausgedrückten Gesetze. Auch ein Ordnungssinn
1413 ist durch die Wahrnehmung nicht gegeben.
1414 Man könnte vermuten, daß etwa die
\emph{zeitliche Aufeinanderfolge
}
1415 der Wahrnehmungen für die Wirklichkeitsseite
1416 der Zuordnung einen Ordnungssinn bedeutet.
1417 Aber das ist keinesfalls richtig. Denn die in dem Erkenntnisurteil
1418 behauptete Zeitordnung kann der der Wahrnehmung
1419 durchaus widersprechen. Liest man etwa bei zwei Koinzidenzbeobachtungen
1420 die Stoppuhren in umgekehrter Reihenfolge
1421 ab, so bildet man unabhängig davon ein Urteil über
1422 den
\glqq{}wirklichen
\grqq{} Zeitverlauf. Dieses Urteil aber basiert
1423 bereits auf physikalischen Erkenntnissen, also Zuordnungen,
1424 z.\,B. muß die physikalische Natur der Uhren,
1425 etwa ihre Korrektion, bekannt sein. Die Zeitordnung der
1426 Wahrnehmungen ist für die im Erkenntnisurteil behauptete
1427 Zeitordnung irrelevant, sie liefert keinen für die Zuordnung
1428 brauchbaren Ordnungssinn.
1430 Die Wahrnehmung enthält nicht einmal ein hinreichendes
1431 Kriterium dafür, ob ein gegebenes Etwas zur Menge
1432 der wirklichen Dinge gehört oder nicht. Die Sinnestäuschungen
1433 und Halluzinationen beweisen das. Erst ein
1434 Erkenntnisurteil, d.\,i. aber ein Zuordnungsprozeß, kann
1435 die Entscheidung fällen, ob die Sinnesempfindung eines
1436 Baumes einem wirklichen Baum entspricht, oder nur dem
1437 Durstfieber des Wüstenwanderers ihr Dasein verdankt.
1438 Allerdings liegt in jeder Wahrnehmung, auch in der
1439 halluzinierten, ein Hinweis auf etwas Wirkliches -- die
1440 Halluzination läßt auf physiologische Veränderungen
1441 schließen -- und wir werden noch anzugeben haben, was
1442 diese Eigentümlichkeit bedeutet. Aber eine
\emph{Definition
}
1443 des Wirklichen leistet die Wahrnehmung nicht.
1445 Vergleichen wir diese Tatsache mit dem geschilderten
1446 Beispiel einer Zuordnung, so finden wir, da auch die
1448 Wahrnehmung keine Definition für die Elemente der Obermenge
1449 darstellt, daß im Erkenntnisvorgang eine völlig undefinierte
1450 Menge auf der einen Seite vorliegt. So kommt es, daß
1451 erst das physikalische Gesetz die Einzeldinge und ihre
1452 Ordnung definiert. Die Zuordnung selbst schafft sich erst
1453 die eine Reihe der zuzuordnenden Elemente.
1455 Man könnte geneigt sein, diese Schwierigkeit mit einem
1456 raschen Entschluß aus dem Wege zu räumen: indem man
1457 erklärt, daß nur die geordnete der beiden Reihen
\glqq{}wirklich
\grqq{}
1458 sei, daß die undefinierte andere Seite fingiert, ein
1459 hypostasiertes Ding an sich sei. Vielleicht kann man so
1460 die Auffassung des
\name{Berkeley
}schen Solipsismus und in
1461 gewissem Sinne auch des modernen Positivismus interpretieren.
1462 Aber diese Auffassung ist bestimmt falsch.
1463 Denn das Merkwürdige bleibt, daß die definierte Seite ihre
1464 Rechtfertigung nicht in sich trägt, daß sie sich ihre Struktur
1465 von außen her vorschreiben lassen muß. Trotzdem es sich
1466 um eine Zuordnung zu undefinierten Elementen handelt,
1467 ist diese Zuordnung nur in einer ganz bestimmten Weise
1468 möglich, keineswegs beliebig; wir nennen das: Bestimmung
1469 der Erkenntnisse durch Erfahrung. Und wir konstatieren
1470 die Merkwürdigkeit, daß die definierte Seite die Einzeldinge
1471 der undefinierten Seite erst bestimmt, und daß umgekehrt
1472 die undefinierte Seite die Ordnung der definierten
1473 Seite vorschreibt.
\emph{In dieser Wechselseitigkeit der
1474 Zuordnung drückt sich die Existenz des Wirklichen
1475 aus
}. Es ist ganz gleichgültig, ob man dabei von
1476 einem Ding an sich spricht, oder ob man ein solches bestreitet.
1477 Daß das Wirkliche existiert, bedeutet jene
1478 Wechselseitigkeit der Zuordnung; dies ist sein für uns
1479 begrifflich erfaßbarer Sinn, und so vermögen wir ihn zu
1482 Hier erhebt sich die Frage: Worin besteht denn die
1484 Auszeichnung der
\glqq{}richtigen
\grqq{} Zuordnung? Wodurch unterscheidet
1485 sie sich von der
\glqq{}unrichtigen
\grqq{}? Nun, dadurch,
1486 daß keine Widersprüche entstehen. Widersprüche werden
1487 aber erst konstatiert durch die experimentelle Beobachtung.
1488 Berechnet man etwa aus der
\name{Einstein
}schen Theorie
1489 eine Lichtablenkung von $
1,
7^
{\prime\prime}$ an der Sonne, und würde
1490 man an Stelle dessen $
10^
{\prime\prime}$ finden, so ist das ein Widerspruch,
1491 und solche Widersprüche sind es allemal, die über
1492 die Geltung einer physikalischen Theorie entscheiden. Nun
1493 ist die Zahl $
1,
7^
{\prime\prime}$ auf Grund von Gleichungen und Erfahrungen
1494 an anderem Material gewonnen; die Zahl $
10^
{\prime\prime}$
1495 aber im Prinzip nicht anders, denn sie wird keineswegs
1496 direkt abgelesen, sondern aus Ablesungsdaten mit Hilfe
1497 ziemlich komplizierter Theorien über die Meßinstrumente
1498 konstruiert. Man kann also sagen, daß die eine Überlegungs- und
1499 Erfahrungskette dem Wirklichkeitsereignis
1500 die Zahl
1,
7 zuordnet, die andere die Zahl
10, und dies
1501 ist der Widerspruch. Diejenige Theorie, welche fortwährend
1502 zu widerspruchsfreien Zuordnungen führt, nennen
1503 wir
\emph{wahr
}.
\name{Schlick
} hat deshalb ganz recht, wenn er
1504 \emph{Wahrheit als Eindeutigkeit der Zuordnung definiert
}\litref{11}.
1505 Immer wenn alle Überlegungsketten auf dieselbe
1506 Zahl für dieselbe Sache führen, nennen wir eine
1507 Theorie wahr. Dies ist unser einziges Kriterium der Wahrheit;
1508 es ist dasjenige, was seit der Entdeckung einer exakten
1509 Erfahrungswissenschaft durch
\name{Galilei
} und
\name{Newton
} und
1510 ihrer philosophischen Rechtfertigung durch
\name{Kant
} als unbedingter
1511 Richter gegolten hat. Und wir bemerken, daß
1512 hier die Stellung gezeigt ist, die der Wahrnehmung im
1513 Erkenntnisprozeß zukommt.
\emph{Die Wahrnehmung liefert
1514 das Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung
}.
1515 Wir hatten vorher gesehen, daß sie nicht imstande
1516 ist, die Elemente der Wirklichkeit zu definieren. Aber
1518 die Entscheidung über Eindeutigkeit vermag sie immer
1519 zu leisten. Darin stehen die sogenannten Sinnestäuschungen
1520 nicht hinter der normalen Wahrnehmung zurück. Sie sind
1521 nämlich gar keine Täuschung der
\emph{Sinne
}, sondern der
1522 \emph{Interpretation
}; daß auch in der Halluzination die
1523 empfundenen Eindrücke vorliegen, ist nicht zu bezweifeln,
1524 falsch ist nur der Schluß von diesen Eindrücken auf die
1525 äußeren Ursachen. Wenn ich mit dem Finger auf meinen
1526 Augennerv drücke, so sehe ich einen Lichtblitz; das ist
1527 ein Faktum, und falsch ist nur der Schluß, daß deshalb
1528 auch im Zimmer ein Lichtblitz stattgefunden hätte. Würde
1529 ich die Wahrnehmung mit anderen zusammen ordnen,
1530 etwa mit der Beobachtung einer gleichzeitig im Zimmer
1531 aufgestellten photographischen Platte, so entsteht ein
1532 Widerspruch, wenn ich die Wahrnehmung auf einen Lichtvorgang
1533 zurückführen will, denn ich beobachte auf der
1534 Platte keine Schwärzung. Ordne ich die Wahrnehmung
1535 aber in einen anderen Begriffszusammenhang, etwa in den
1536 einer physiologischen Theorie, so entsteht
\emph{kein
} Widerspruch,
1537 die Wahrnehmung des Lichtblitzes bedeutet vielmehr
1538 eine Bestätigung für die Annahmen über die Lage
1539 des Sehnerven. Man erkennt, daß die sogenannte Sinnestäuschung
1540 genau so gut wie jede normale Wahrnehmung
1541 ein Kriterium für die Eindeutigkeit der Zuordnung, also
1542 ein Wahrheitskriterium darstellt. Diese Eigenschaft
1543 kommt schlechthin jeder Wahrnehmung zu, und dies ist
1544 auch ihre einzige erkenntnistheoretische Bedeutung.
1546 Es muß jedoch beachtet werden, daß der hier benutzte
1547 Begriff der Eindeutigkeit durchaus verschieden ist von
1548 dem, was wir in den genannten mengentheoretischen Beispielen
1549 unter Eindeutigkeit verstanden. Wir nannten dort
1550 eine Zuordnung eindeutig, wenn sie jedem Element der
1551 einen Menge unabhängig von der Art, wie die verlangte
1553 Zuordnung ausgeführt wird, immer nur ein und dasselbe
1554 identische Element der anderen Menge zuordnet. Dazu
1555 müssen aber die Elemente der anderen Menge ebenfalls
1556 definiert sein, es muß sich feststellen lassen, ob das getroffene
1557 Element dasselbe ist wie vorher oder nicht. Für
1558 die Wirklichkeit ist das keineswegs möglich. Das einzige,
1559 was wir konstatieren können, ist, ob zwei aus verschiedenen
1560 Messungen abgeleitete Zahlen gleich sind. Ob eine Zuordnung,
1561 die dies leistet, immer dieselben Elemente der
1562 Wirklichkeit trifft, darüber können wir nichts entscheiden.
1563 Diese Frage ist deshalb sinnlos; denn wenn nur die Gleichheit
1564 der Messungszahlen durchgängig erreicht wird, besitzt
1565 die Zuordnung diejenige Eigenschaft, die wir als Wahrheit
1566 oder objektive Geltung bezeichnen. Und wir definieren
1567 deshalb:
\emph{Eindeutigkeit
} heißt für die Erkenntniszuordnung,
1568 daß eine physikalische Zustandsgröße bei ihrer Bestimmung
1569 aus
\emph{verschiedenen Erfahrungsdaten
} durch
1570 \emph{dieselbe Messungszahl
} wiedergegeben wird.
1572 Diese Definition behauptet nicht, daß die Zustandsgröße
1573 bei Gleichheit aller physikalischen Faktoren an
1574 jedem Raumzeitpunkt denselben Wert haben müßte. Die
1575 Annahme, daß die vier Koordinaten in den physikalischen
1576 Gleichungen nicht explizit auftreten, ist vielmehr erst eine
1577 Behauptung der Kausalität
\Footnote{c
}
1578 {Die Kausalität, die so oft als ein apriores Prinzip der Naturwissenschaft
1579 genannt wird, läßt sich bei genauerer Analyse nicht mehr als ein
1580 Prinzip, sondern nur noch als ein Komplex von Prinzipien auffassen,
1581 die einzeln bisher nicht scharf formuliert wurden. Eins von diesen scheint
1582 mir die Annahme zu sein, daß die Koordinaten in den Gleichungen nicht
1583 explizit auftreten, daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raumzeitpunkt
1584 dieselbe Wirkung haben; ein anderes ist der oben erwähnte
1585 Satz von der Existenz zeitlich nicht umkehrbarer physikalischer Abläufe.
1586 Andererseits gehört auch die Eindeutigkeit der physikalischen Relation
1587 in diesen Komplex hinein. Es wäre besser, den Sammelnamen Kausalität
1588 überhaupt auszuschalten und durch die Einzelprinzipien zu ersetzen.
}. Auch wenn sie nicht
1590 erfüllt wäre, wäre immer noch Eindeutigkeit vorhanden;
1591 denn Eindeutigkeit besagt nichts über die Wiederholung
1592 von Vorgängen, sondern fordert nur, daß bei einem einmaligen
1593 Vorgang der Wert der Konstanten durch sämtliche Faktoren,
1594 gegebenenfalls einschließlich der Koordinaten,
1595 völlig bestimmt ist. Diese Bestimmtheit muß allerdings
1596 vorhanden sein, denn sonst läßt sich der Zahlwert
1597 der Zustandsgröße nicht durch eine Überlegungs- und
1598 Erfahrungskette berechnen. Aber ihren Ausdruck findet
1599 diese Bestimmtheit nicht nur in dem Vergleich zweier
1600 gleicher Ereignisse an verschiedenen Raumzeitpunkten,
1601 sondern ebensogut in der Beziehung ganz verschiedener
1602 Ereignisse aufeinander durch die verbindenden Gleichungen.
1604 Aber wie ist es möglich, solche Zuordnung durchgängig
1605 zu erreichen? Indem man diese Frage aufwirft, stellt man
1606 sich auf den Boden der kritischen Philosophie; denn sie
1607 bedeutet nichts anderes als die
\name{Kant
}ische Frage: Wie ist
1608 Erkenntnis der Natur möglich? Es wird unsere Aufgabe
1609 sein, die Antwort, die
\name{Kant
} auf diese Frage gab, mit den
1610 Resultaten der Relativitätstheorie zu vergleichen, und zu
1611 untersuchen, ob die
\name{Kant
}ische Antwort sich heute noch
1612 verteidigen läßt. Aber wir wollen hier sogleich betonen,
1613 daß die Frage auch unabhängig von jeder gegebenen Antwort
1614 ihren guten Sinn hat, und daß es keine Erkenntnistheorie
1615 geben kann, die an ihr vorbeigeht.
1617 Was bedeutet das Wort
\glqq{}möglich
\grqq{} in dieser Frage?
1618 Sicherlich soll es nicht bedeuten, daß der Einzelmensch
1619 eine solche Zuordnung zustande bringt. Denn das kann er
1620 gewiß nicht, und man darf den Erkenntnisbegriff nicht
1621 so definieren, daß er von der geistigen Potenz eines beliebigen
1622 Durchschnittsmenschen abhängt. Möglich ist hier
1623 nicht psycho-physisch gemeint, sondern logisch: es bedeutet
1624 die Frage nach den logischen Bedingungen der
1626 Zuordnung. Wir haben an unserem Beispiel gesehen, daß
1627 Bedingungen da sein müssen, die die Zuordnung erst
1628 bestimmen; es sind Prinzipien allgemeiner Art, etwa über
1629 den Ordnungssinn, über metrische Verhältnisse usw. Analoge
1630 Prinzipien müssen auch für die Erkenntniszuordnung
1631 existieren; sie müssen nur die eine Eigenschaft besitzen,
1632 daß die durch sie definierte Zuordnung eindeutig im Sinne
1633 unseres Kriteriums wird. Darum dürfen wir der kritischen
1634 Frage diese Form geben:
\emph{Mit welchen Prinzipien wird
1635 die Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
1638 Ehe wir auf die Beantwortung dieser Frage eingehen,
1639 müssen wir die erkenntnistheoretische Stellung der Zuordnungsprinzipien
1640 charakterisieren. Denn sie bedeuten
1641 nichts anderes als die synthetischen Urteile apriori
\name{Kants
}.
1646 \Chapter{V
}{Zwei Bedeutungen des Apriori und die implizite
1647 Voraussetzung Kants.
}
1650 Der Begriff des Apriori hat bei
\name{Kant
} zwei verschiedene
1651 Bedeutungen. Einmal heißt er soviel wie
\glqq{}apodiktisch
1652 gültig
\grqq{},
\glqq{}für alle Zeiten gültig
\grqq{}, und zweitens bedeutet
1653 er
\glqq{}den Gegenstandsbegriff konstituierend
\grqq{}.
1655 Wir müssen die zweite Bedeutung noch näher erläutern.
1656 Der Gegenstand der Erkenntnis, das Ding der Erscheinung,
1657 ist nach
\name{Kant
} nicht unmittelbar gegeben. Die Wahrnehmung
1658 gibt nicht den Gegenstand, sondern nur den
1659 Stoff, aus dem er geformt wird; diese Formung wird durch
1660 den Urteilsakt vollzogen. Das Urteil ist die Synthesis,
1661 die das Mannigfaltige der Wahrnehmung zum Objekt
1662 zusammenfaßt. Dazu muß im Urteil eine Einordnung in
1663 ein bestimmtes Schema vollzogen werden; je nach der
1664 Wahl des Schemas entsteht ein Ding oder ein bestimmter
1665 Typus von Relation. Die Anschauung ist die Form, in
1666 der die Wahrnehmung den Stoff darbietet, also gleichfalls
1667 ein synthetisches Moment. Aber erst das begriffliche
1668 Schema, die Kategorie, schafft das Objekt; der Gegenstand
1669 der Wissenschaft ist also nicht ein
\glqq{}Ding an sich
\grqq{},
1670 sondern ein durch Kategorien konstituiertes, auf Anschauung
1671 basiertes Bezugsgebilde.
1673 Unsere vorangegangenen Überlegungen können den
1674 Grundgedanken dieser Theorie nur bestätigen. Wir sahen,
1675 daß die Wahrnehmung das Wirkliche nicht definiert, daß
1676 erst die Zuordnung zu mathematischen Begriffen das Element
1677 der Wirklichkeit, den wirklichen Gegenstand,
1679 bestimmt. Wir sahen auch, daß es gewisse Prinzipien der
1680 Zuordnung geben muß, weil sonst die Zuordnung nicht
1681 definiert ist. In der Tat müssen diese Prinzipien derart
1682 sein, daß sie bestimmen, wie die zugeordneten Begriffe
1683 sich zu Gebilden und Abläufen zusammenfügen; sie definieren
1684 also erst das wirkliche Ding und das wirkliche Geschehen.
1685 Wir dürfen sie als konstitutive Prinzipien der
1686 Erfahrung bezeichnen.
\name{Kant
} nennt als solche Schemata
1687 Raum, Zeit und die Kategorien; wir werden zu untersuchen
1688 haben, ob dies die geeigneten Nebenbedingungen
1689 für die eindeutige Zuordnung sind.
1691 Die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffs ist jedenfalls
1692 die wichtigere. Denn sie verleiht diesem Begriff die
1693 zentrale Stellung, die er seit
\name{Kant
} in der Erkenntnistheorie
1694 inne hat. Es war die große Entdeckung
\name{Kants
},
1695 daß der Gegenstand der Erkenntnis nicht schlechthin
1696 gegeben, sondern konstruiert ist, daß er begriffliche Elemente
1697 enthält, die in der reinen Wahrnehmung nicht enthalten
1698 sind. Zwar ist dieser konstruierte Bezugspunkt
1699 nicht eine bloße Fiktion, denn sonst könnte seine Struktur
1700 nicht in so enger Form von außen, durch die wiederholte
1701 Wahrnehmung, vorgeschrieben werden; darum bezieht
1702 \name{Kant
} ihn auf ein Ding an sich, das selbst nicht erkennbar
1703 doch darin zutage tritt, daß es das leere Schema der
1704 Kategorien mit positivem Inhalt füllt.
1706 Das ist natürlich alles sehr bildhaft gesprochen, und
1707 wir müssen, wollen wir gültige Resultate finden, zu
1708 exakteren Formulierungen zurückkehren; aber es ist nicht
1709 unzweckmäßig, sich die
\name{Kant
}ische Lehre in mehr anschaulicher
1710 Form zu vergegenwärtigen, weil man damit
1711 zu einer raschen Übersicht ihrer wesentlichen Gedanken
1712 kommt. Zum Teil liegt es auch darin begründet, daß
1713 die
\name{Kant
}ischen Begriffsbildungen einer mehr von
1715 grammatischer als von mathematischer Präzision durchtränkten
1716 Zeit angehören, und daher nur der formale Aufbau dieser
1717 Begriffe, nicht ihr sachlicher Kern, sprachlich faßbar ist.
1718 Vielleicht wird einmal eine spätere Zeit auch unsere Begriffe
1721 Die zugeordneten Kategorien sind natürlich nicht in
1722 dem Sinne Bestandteile des Gegenstands wie seine materiellen
1723 Teile. Der wirkliche Gegenstand ist das Ding, wie
1724 es vor uns steht; es hat keinen Sinn, dieses Sein noch
1725 näher definieren zu wollen, denn was
\glqq{}wirklich
\grqq{} bedeutet,
1726 kann nur erlebt werden, und alle Versuche der Schilderung
1727 bleiben Analogien oder sind Darstellungen für den
\emph{begrifflichen
1728 Ausdruck
} dieses Erlebnisses. Die Wirklichkeit
1729 der Dinge ist zu trennen von der Wirklichkeit
1730 der Begriffe, die, insofern man sie real nennen will, nur
1731 psychologische Existenz haben. Aber es bleibt eine eigentümliche
1732 Relation zwischen dem wirklichen Ding und dem
1733 Begriff, weil erst durch die Zuordnung des Begriffs definiert
1734 wird, was in dem
\glqq{}Kontinuum
\grqq{} der Wirklichkeit ein Einzelding
1735 ist, und weil auch erst der begriffliche Zusammenhang
1736 auf Grund von Wahrnehmungen entscheidet, ob ein gedachtes
1737 Einzelding
\glqq{}in Wirklichkeit da ist
\grqq{}.
1739 Wenn man die Menge der reellen Funktionen von zwei
1740 Variablen durch ein Koordinatenkreuz der Ebene zuordnet,
1741 so bestimmt jede Funktion eine Figur in dem
1742 Kontinuum der Ebene. Die einzelne Figur ist also erst
1743 durch die Funktion definiert. Allerdings läßt sie sich auch
1744 anders definieren, indem man etwa eine Kurve anschaulich
1745 zeichnet. Aber welche anschauliche Kurve der Ebene
1746 in dem genannten Beispiel gerade einer bestimmten Funktion
1747 zugeordnet wird, hängt von der Art ab, wie man
1748 das Koordinatenkreuz in die Ebene hineinlegt, wie man
1749 die Maßverhältnisse wählt usw. Wir müssen dabei zwei
1751 Arten von Zuordnungsprinzipien unterscheiden: solche,
1752 die von der Definiertheit der Elemente auf
\emph{beiden
} Seiten
1753 Gebrauch machen, und solche, die nur die Elemente einer
1754 Seite benutzen. Die Festlegung des Koordinatenkreuzes
1755 ist von der ersten Art, denn sie vollzieht sich dadurch,
1756 daß man bestimmte anschaulich definierte Punkte den
1757 Koordinatenzahlen zuordnet; sie ist also selbst wieder
1758 eine Zuordnung. Eine Bedingung der zweiten Art wäre
1759 z.\,B. die folgende. Wollen wir eine Funktion $f(x, y, z) =
0$
1760 von drei Variablen der Ebene zuordnen, so geschieht dies
1761 durch eine einparametrige Kurvenschar. Welche Variablen
1762 dabei den Achsen entsprechen, ist durch die Festlegung
1763 des Koordinatenkreuzes bestimmt; denn diese sagt ja,
1764 daß die und die Punkte der Ebene den Werten x, und
1765 jene anderen Punkte der Ebene den Werten y entsprechen.
1766 So ist also auch festgelegt, welche Variable als Parameter
1767 auftritt. Trotzdem ist immer noch eine Willkür vorhanden.
1768 Im allgemeinen erhält man die Kurvenschar dadurch,
1769 daß man für jeden Wert $z = p =
\mathrm{konst.
}$ eine Kurve
1770 $f(x, y, p) =
0$ konstruiert. Man kann aber auch eine beliebige
1771 Funktion $
\varphi (x, z) = p^
\prime =
\mathrm{konst.
}$ annehmen und $p^
\prime$ als Parameter
1772 wählen, dann erhält man eine Kurvenschar von
1773 ganz anderer Gestalt. Aber diese Kurvenschar ist ebensogut
1774 ein Bild der Funktion $f(x, y, z)$ wie die erste. Man
1775 kann nicht sagen, daß die eine Schar der Funktion besser
1776 angepaßt sei als die andere; die erste ist nur für unser
1777 Anschauungsvermögen durchsichtiger, unseren psychologischen
1778 Fähigkeiten besser angepaßt. Es hängt also
1779 ganz von der Wahl des Parameters ab, welche Menge der
1780 anschaulichen Kurven durch die Zuordnung zu $f(x, y, z)$
1781 ausgewählt wird. Trotzdem ist die Bestimmung des Parameters
1782 nur für die analytische Seite der Zuordnung eine
1783 Vorschrift, und benutzt zu ihrer Formulierung keinerlei
1785 Eigenschaften der geometrischen Seite. Und wir bemerken,
1786 daß es Zuordnungsprinzipien gibt, die sich nur
1787 auf die
\emph{eine
} Seite der Zuordnung beziehen, und trotzdem
1788 auf die Auswahl der anderen Seite von entscheidendem
1791 Wir haben gesehen, daß die Definiertheit der Elemente
1792 auf der einen Seite der Erkenntniszuordnung fehlt; und
1793 darum kann es für die Erkenntnis keine Zuordnungsprinzipien
1794 der ersten Art geben, sondern nur solche, die
1795 sich auf die begriffliche Seite der Zuordnung beziehen
1796 und daher mit gleichem Recht Ordnungsprinzipien heißen
1797 können. Daß es möglich ist, allein mit der zweiten Art
1798 von Zuordnungsprinzipien auszukommen, ist eine große
1799 Merkwürdigkeit, und ich wüßte gar keine andern solchen
1800 Fälle neben dem Erkenntnisphänomen zu nennen. Aber
1801 sie ist nicht merkwürdiger als die Tatsache des Wirklichkeitserlebnisses
1802 überhaupt, und hängt damit zusammen,
1803 daß Eindeutigkeit für diese Zuordnung etwas anderes
1804 bedeutet als eine Beziehung auf
\glqq{}dasselbe
\grqq{} Element der
1805 Wirklichkeitsseite, daß sie durch ein von der Zuordnung
1806 unabhängiges Kriterium, die Wahrnehmung, konstatiert
1807 wird. Gerade deshalb haben die Zuordnungsprinzipien für
1808 den Erkenntnisprozeß eine viel tiefere Bedeutung als für
1809 jede andere Zuordnung. Denn indem sie die Zuordnung
1810 bestimmen, werden durch sie erst die Einzelelemente der
1811 Wirklichkeit definiert, und in diesem Sinne sind sie
1812 \emph{konstitutiv
} für den wirklichen Gegenstand; in
\name{Kants
}
1813 Worten:
\glqq{}weil nur vermittelst ihrer überhaupt irgendein
1814 Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann
\grqq{}\litref{12}.
1816 Als Beispiel für Zuordnungsprinzipien sei das Wahrscheinlichkeitsprinzip
1817 genannt, welches definiert, wann
1818 eine Reihe von Messungszahlen als Werte derselben Konstanten
1819 anzusehen sind
\litref{13}. (Man denke etwa an eine
1821 Verteilung nach dem
\name{Gauß
}schen Fehlergesetz.) Dieses Prinzip
1822 bezieht sich allein auf die begriffliche Seite der Zuordnung,
1823 und ist dennoch vor anderen Sätzen der Physik dadurch
1824 ausgezeichnet, daß es unmittelbar der Definition des Wirklichen
1825 dient; es definiert die physikalische Konstante.
1826 Ein anderes Beispiel bildet das Genidentitätsprinzip
\litref{14},
1827 welches aussagt, wie physikalische Begriffe zu Reihen
1828 zusammengefaßt werden müssen, damit sie dasselbe in
1829 der Zeit sich identisch bleibende Ding definieren. Auch
1830 Raum und Zeit sind solche Zuordnungsprinzipien, denn
1831 sie besagen z.\,B., daß vier Zahlen erst einen einzigen Wirklichkeitspunkt
1832 definieren. Für die alte Physik war auch
1833 die euklidische Metrik ein solches Zuordnungsprinzip, denn
1834 sie gab Relationen an, wie sich Raumpunkte ohne
1835 Unterschied ihrer physikalischen Qualität zu ausgedehnten
1836 Gebilden zusammenfügen; die Metrik definierte nicht, wie
1837 Temperatur oder Druck, einen physikalischen Zustand,
1838 sondern bildete einen Teil des Begriffs vom physikalischen
1839 Ding, das erst Träger aller Zustände ist. Obgleich diese
1840 Prinzipien Vorschriften für die begriffliche Seite der Zuordnung
1841 sind und ihr als
\emph{Zuordnungsaxiome
} vorangestellt
1842 werden können, unterscheiden sie sich von den
1843 sonst als Axiome der Physik bezeichneten Sätzen. Man
1844 kann die Einzelgesetze der Physik unter sich in ein deduktives
1845 System bringen, so daß sie alle als Folgerungen
1846 einiger weniger Grundgleichungen erscheinen. Diese Grundgleichungen
1847 enthalten aber immer noch spezielle mathematische
1848 Operationen; so geben die
\name{Einstein
}schen Gravitationsgleichungen
1849 an, in welcher speziellen mathematischen
1850 Beziehung die physikalische Größe $R_
{ik
}$ zu den
1851 physikalischen Größen $T_
{ik
}$ und $g_
{ik
}$ steht. Wir wollen sie
1852 deshalb
\emph{Verknüpfungsaxiome
} nennen
\litref{15}. Die Zuordnungsaxiome
1853 unterscheiden sich von ihnen dadurch,
1855 daß sie nicht bestimmte Zustandsgrößen mit andern verknüpfen,
1856 sondern allgemeine Regeln enthalten, nach denen
1857 überhaupt verknüpft wird. So sind in den Gravitationsgleichungen
1858 die Axiome der Arithmetik als Regeln der
1859 Verknüpfung vorausgesetzt, und diese sind daher Zuordnungsprinzipien
1862 Obgleich die Zuordnung der Erkenntnis nur erlebnismäßig
1863 vollzogen und nicht durch begriffliche Relationen
1864 hinreichend charakterisiert werden kann, ist sie doch an
1865 die Anwendung jener Zuordnungsprinzipien in eigentümlicher
1866 Weise gebunden. Wenn wir z.\,B. ein bestimmtes
1867 mathematisches Symbol einer physikalischen Kraft zuordnen,
1868 so müssen wir, um die Kraft als Gegenstand
1869 denken zu können, ihr die Eigenschaften des mathematischen
1870 Vektors zuschreiben; hier sind also die auf Vektoroperationen
1871 bezüglichen Axiome der Arithmetik konstitutive
1872 Prinzipien, Kategorien eines physikalischen Begriffs
\Footnote{d
}
1873 {Daran liegt es auch, daß uns die Sätze vom Parallelogramm der
1874 Kräfte so selbstverständlich vorkommen und wir ihren empirischen
1875 Charakter gar nicht sehen. Sie sind auch selbstverständlich, wenn die
1876 Kraft ein Vektor ist, aber das ist gerade das Problem.
}.
1877 Wenn wir von der Bahn eines Elektrons reden,
1878 so müssen wir das Elektron als sich selbst identisch
1879 bleibendes Ding denken, also das Genidentitätsprinzip als
1880 konstitutive Kategorie benutzen. Dieser Zusammenhang
1881 der begrifflichen Kategorie mit dem Zuordnungserlebnis
1882 bleibt als letzter, nicht analysierbarer Rest bestehen. Aber
1883 er grenzt deutlich eine Klasse von Prinzipien dadurch ab,
1884 daß er sie, die als begriffliche Formeln nur für die begriffliche
1885 Seite der Zuordnung gelten können, als Formen der
1886 Erkenntnis den allgemeinsten Verknüpfungsgesetzen noch
1887 voranstellt. Und diese Prinzipien sind deshalb von so
1888 tiefer Bedeutung, weil sie das sonst völlig undefinierte
1890 Problem der Erkenntniszuordnung erst zu einem definierten
1893 Wir müssen jetzt die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffs,
1894 die wir nannten, in einen Zusammenhang bringen.
1895 Definieren wir einmal
\glqq{}apriori
\grqq{} im Sinne der zweiten Bedeutung
1896 als
\glqq{}Gegenstand konstituierend
\grqq{}. Wie folgt
1897 daraus, daß die aprioren Prinzipien apodiktisch gelten,
1898 daß sie von aller Erfahrung ewig unberührt bleiben?
1900 \name{Kant
} begründet diesen Schluß folgendermaßen: Die
1901 menschliche Vernunft, d.\,i. der Inbegriff von Verstand
1902 und Anschauung, trägt eine bestimmte Struktur in sich.
1903 Diese Struktur schreibt die allgemeinen Gesetze vor, nach
1904 denen das Wahrnehmungsmaterial geordnet wird, damit
1905 Erkenntnisse entstehen. Jede Erfahrungserkenntnis ist
1906 als Erkenntnis bereits durch eine solche Einordnung zustande
1907 gekommen, kann also niemals einen Gegenbeweis
1908 für die Ordnungsprinzipien darstellen. Darum haben diese
1909 apodiktische Gültigkeit.
1911 Sie gelten, solange die menschliche Vernunft sich nicht
1912 ändert, und in diesem Sinne ewig. Jedenfalls kann durch
1913 \emph{Erfahrungen
} eine Änderung der menschlichen Vernunft
1914 nicht zustande kommen, weil Erfahrungen die Vernunft
1915 voraussetzen. Ob sich aber die Vernunft aus inneren
1916 Gründen einmal ändern wird, ist eine müßige Frage und
1917 für
\name{Kant
} irrelevant. Jedenfalls will er nicht bestreiten,
1918 daß andere Wesen existieren könnten, die andere konstitutive
1919 Prinzipien benutzen als wir
\litref{16}; damit ist natürlich
1920 auch die Möglichkeit offen gelassen, daß es biologische
1921 Übergangsformen zwischen diesen Wesen und uns gibt,
1922 und daß eine biologische Entwicklung unserer Vernunft
1923 zu derartigen andersvernünftigen Wesen stattfindet.
\name{Kant
}
1924 spricht allerdings niemals von dieser Möglichkeit, aber sie
1925 würde seiner Theorie nicht widersprechen. Was seine
1927 Theorie ausschließt, ist nur die Veränderung der Vernunft
1928 und ihrer Ordnungsprinzipien durch
\emph{Erfahrungen
}; in
1929 diesem Sinne ist das
\glqq{}apodiktisch gültig
\grqq{} zu verstehen.
1931 Übertragen wir diesen Gedankengang auf unsere bisherigen
1932 Formulierungen, so lautet er folgendermaßen:
1933 Wenn wir Wahrnehmungsdaten zur Erkenntnis zusammenordnen,
1934 so müssen Prinzipien da sein, die diese Zuordnung
1935 genauer definieren; wir nannten sie Zuordnungsprinzipien
1936 und erkannten in ihnen diejenigen Prinzipien, welche den
1937 Gegenstand der Erkenntnis erst definieren. Fragen wir,
1938 welches diese Prinzipien sind, so brauchen wir nur die
1939 Vernunft zu fragen, und nicht die Erfahrung; denn die
1940 Erfahrung wird ja erst durch sie konstituiert.
\name{Kants
}
1941 Verfahren zur Beantwortung der kritischen Frage besteht
1942 deshalb in der Analyse der Vernunft. Wir haben in den
1943 Abschnitten
\chapref{II
} und
\chapref{III
} eine Reihe von Prinzipien apriori
1944 genannt; wir wollen damit ausdrücken, daß sie sich nach
1945 dem
\name{Kant
}ischen Verfahren als Zuordnungsprinzipien ergeben
1946 würden. Wir durften dafür das Kriterium der
1947 Evidenz benutzen, denn dies wird auch von
\name{Kant
} als
1948 charakteristisch für seine Prinzipien eingeführt. Auch
1949 erscheint es selbstverständlich, daß diese Prinzipien, die
1950 ihren Grund nur in der Vernunft tragen, evident erscheinen
1953 Wir hatten aber festgestellt, daß die Zuordnungsprinzipien
1954 dadurch ausgezeichnet sein müssen, daß sie die eindeutige
1955 Zuordnung möglich machen; dahin hatte sich uns
1956 der Sinn der kritischen Frage dargestellt. Es ist aber nicht
1957 gesagt, daß diejenigen Prinzipien, die in der Vernunft
1958 veranlagt sind, auch diese Eigenschaft besitzen, denn das
1959 Kriterium der Eindeutigkeit, die Wahrnehmung, ist von
1960 der Vernunft ganz unabhängig. Es müßte vielmehr ein
1961 großer Zufall der Natur sein, wenn gerade die vernünftigen
1963 Prinzipien auch die eindeutig bestimmenden wären. Nur
1964 eine Möglichkeit gibt es, dieses Zusammentreffen verständlich
1965 zu machen: wenn es für die Forderung der Eindeutigkeit
1966 auf die Prinzipien der Zuordnung gar nicht ankommt,
1967 wenn also für jedes beliebige System von Zuordnungsprinzipien
1968 eine eindeutige Zuordnung immer möglich ist.
1970 In den von uns bisher angezogenen Beispielen einer
1971 Zuordnung war diese Forderung keineswegs erfüllt. Es
1972 gibt dort nur eine Klasse von Bedingungssystemen, die
1973 eine eindeutige Zuordnung definieren. So führten wir an,
1974 daß die rationalen Brüche sich auf verschiedene Weise
1975 Punkten einer geraden Linie zuordnen lassen, je nach der
1976 Wahl der Nebenbedingungen. Allerdings führen nicht
1977 alle verschiedenen Systeme von Nebenbedingungen auf
1978 eine verschiedene Zuordnung; vielmehr gibt es Systeme,
1979 die gegeneinander substituiert werden können, weil sie
1980 doch nur dieselbe Zuordnung definieren. Solche Systeme
1981 sollen schlechthin dieselben heißen; verschieden sollen nur
1982 solche Systeme heißen, die auch auf verschiedene Zuordnungen
1983 führen. Andererseits gibt es Systeme, die sich
1984 in ihren Forderungen direkt widersprechen. Man braucht
1985 dazu nur ein Prinzip und sein Gegenteil in einem System
1986 zu vereinigen. Solche explizit widerspruchsvollen Systeme
1987 sollen von vornherein ausgeschlossen sein. Für das Beispiel
1988 der rationalen Brüche können wir sagen, daß deren Zuordnung
1989 zu Punkten der geraden Linie durch verschiedene
1990 Systeme von Nebenbedingungen eindeutig gemacht wird.
1991 Aber es lassen sich natürlich leicht Systeme angeben, die
1992 das nicht erreichen. Man braucht nur in einem System
1993 der genannten Klasse ein wesentliches Prinzip wegzulassen,
1994 dann hat man ein unvollständiges System, das sicherlich
1995 die Eindeutigkeit nicht mehr erreicht.
1997 Für die Erkenntniszuordnung kann man das aber nicht
1999 so einfach schließen. Wäre z.\,B. das Prinzipiensystem
2000 ein unvollständiges, so wäre es leicht durch einige Erfahrungssätze
2001 so zu ergänzen, daß ein eindeutiges System
2002 entsteht. Vielleicht darf man dahin die Meinung der bisherigen
2003 Aprioritätsphilosophie (allerdings kaum die Meinung
2004 \name{Kants
}) deuten, daß es sich in dem evidenten
2005 Prinzipiensystem um ein unvollständiges System handelt.
2006 Es ist aber bisher nicht der Versuch gemacht worden,
2007 das zu beweisen. Zwar steht fest, daß in diesem System
2008 keine expliziten Widersprüche enthalten sind. Aber dann
2009 kann das System immer noch zu der großen Klasse derjenigen
2010 Systeme gehören, die einen impliziten Widerspruch
2011 für die Zuordnung ergeben. Da das Kriterium der Eindeutigkeit,
2012 die Wahrnehmung, von dem System ganz
2013 unabhängig von außen bestimmt ist, so ist es sehr wohl
2014 möglich, daß die Widersprüche erst bemerkt werden, wenn
2015 das System bis zu einigem Umfang ausgebaut ist. Wir
2016 dürfen hier an die nichteuklidischen Geometrieen erinnern,
2017 in denen das Parallelenaxiom geändert wird, aber sonst
2018 das euklidische System übernommen wird; daß durch das
2019 so gewonnene System kein Widerspruch entsteht, läßt
2020 sich erst durch den
\emph{konsequenten Ausbau dieser
2021 Geometrie
} feststellen. Freilich ist gerade das System
2022 der Erkenntnis kein mathematisches, und darum kann
2023 hier nur der
\emph{Ausbau einer experimentellen Physik
}
2024 entscheiden. Hier liegt der Grund, warum die Relativitätstheorie,
2025 die als rein physikalische Theorie entstanden ist,
2026 der Erkenntnistheorie so wichtig wird.
2028 Man hat in der bisherigen Diskussion die Frage gewöhnlich
2029 nur für einzelne Prinzipien gestellt. So glaubte
2030 man, daß das Kausalprinzip nie auf Widersprüche stoßen
2031 könnte, daß die Interpretation der Erfahrungen immer
2032 noch genügend Willkür enthielte, um dieses Prinzip
2034 festzuhalten. Aber so ist die Frage falsch gestellt. Es handelt
2035 sich nicht darum, ob ein einzelnes Prinzip festgehalten
2036 werden kann, sondern ob das ganze System der Prinzipien
2037 sich immer festhalten läßt. Denn die Erkenntnis fordert
2038 ein
\emph{System
}, und kann mit einem einzelnen Prinzip nicht
2039 auskommen; und auch die
\name{Kant
}ische Philosophie hat
2040 ein System aufgestellt. Daß man mit einem einzelnen
2041 Prinzip immer durchkommen kann, erscheint wahrscheinlich,
2042 wenn auch noch keineswegs sicher. Denn ein Prinzip
2043 enthält unter Umständen einen
\emph{Komplex
} von Gedanken,
2044 und ist dann bereits einem System gleichwertig; es ließe
2045 sich schwer beweisen, daß ein Prinzip immer einem
\emph{unvollständigen
}
2046 System äquivalent ist.
2048 Auf jeden Fall müssen wir aber den Zufall ausschließen;
2049 denn daß zwischen Wirklichkeit und Vernunft eine
2050 prästabilierte Harmonie besteht, darf nicht Voraussetzung
2051 einer wissenschaftlichen Erkenntnistheorie werden. Wenn
2052 deshalb das Prinzipiensystem der Vernunft zur Klasse der
2053 eindeutig bestimmenden Systeme oder zu der der unvollständigen
2054 Systeme gehören soll, so darf es keine implizit
2055 widerspruchsvollen (überbestimmenden) Systeme für die
2058 Wir sind damit zu dem Resultat gekommen, daß wir
2059 die Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre von der
2060 Geltung einer klar formulierten Hypothese abhängig
2061 machen können.
\name{Kants
} Theorie enthält die Hypothese,
2062 daß es
\emph{keine implizit widerspruchsvollen Systeme
2063 von Zuordnungsprinzipien für die Erkenntnis der
2064 Wirklichkeit gibt
}. Da diese Hypothese gleichbedeutend
2065 ist mit der Aussage, daß man mit jedem beliebigen, explizit
2066 widerspruchsfreien System von Zuordnungsprinzipien zu
2067 einer eindeutigen Zuordnung von Gleichungen zur Wirklichkeit
2068 kommen kann, wollen wir sie als
\emph{Hypothese
}
2070 \emph{der Zuordnungswillkür
} bezeichnen. Nur wenn sie
2071 richtig ist, sind die beiden Bedeutungen des Apriori-Begriffes
2072 miteinander vereinbar; denn nur dann sind die
2073 konstitutiven Prinzipien unabhängig von der Erfahrung
2074 und dürfen apodiktisch, für alle Zeiten gültig, genannt
2075 werden. Wir wollen untersuchen, welche Antwort die
2076 Relativitätstheorie auf diese Frage gibt.
2081 \Chapter{VI
}{Widerlegung der Kantischen Voraussetzung
2082 durch die Relativitätstheorie.
}
2085 Wir greifen auf die Resultate der Abschnitte
\chapref{II
} und
\chapref{III
}
2086 zurück. Dort wurde behauptet, daß die Relativitätstheorie
2087 einen Widerspruch bisher apriorer Sätze mit der Erfahrung
2088 festgestellt hätte. In welchem Sinne ist dies möglich?
2089 Schließt nicht der
\name{Kant
}ische Beweis für die unbeschränkte
2090 Gültigkeit konstitutiver Prinzipien solchen Widerspruch
2093 Wir haben die Prinzipien, deren Unvereinbarkeit mit
2094 der Erfahrung durch die spezielle Relativitätstheorie behauptet
2095 wird, auf
\pagelink{S.
}{15} zusammengestellt. Wir haben
2096 dort auch bereits ausgeführt, in welchem Sinne die Unvereinbarkeit
2097 zu verstehen ist. Hält man an der absoluten
2098 Zeit fest, so muß man bei der Extrapolation des Erfahrungsmaterials
2099 von dem normalen Verfahren abweichen. Wegen
2100 der Dehnbarkeit des Begriffs
\glqq{}normal
\grqq{} ist das in gewissen
2101 Grenzen immer möglich; aber es gibt Fälle -- und solch
2102 einer ist hier verwirklicht -- wo die Extrapolation dadurch
2103 entschieden anomal wird. Man hat also die Wahl: Hält
2104 man an der absoluten Zeit fest, so muß man die normale
2105 Induktion verlassen, und umgekehrt. Nur in diesem Sinne
2106 kann ein Widerspruch mit der Erfahrung behauptet
2107 werden. Aber alle genannten Prinzipien sind apriori im
2108 Sinne
\name{Kants
}. Wir dürfen deshalb behaupten, daß die
2109 spezielle Relativitätstheorie die Unvereinbarkeit eines
2110 Systems apriorer Prinzipien mit der normalen induktiven
2111 Deutung des Beobachtungsmaterials nachgewiesen hat.
2114 Für die allgemeine Relativitätstheorie liegen die Verhältnisse
2115 im wesentlichen ebenso. Die Prinzipien, die nach
2116 ihrer Aussage einen Widerspruch ergeben, sind auf
\pagelink{S.
}{29}
2117 zusammengestellt. Diese Zusammenstellung unterscheidet
2118 sich nur dadurch von der soeben genannten, daß in ihr
2119 außer aprioren Prinzipien noch ein nicht evidentes Prinzip
2120 auftritt, das Prinzip der speziellen Relativität. Aber dieses
2121 Prinzip ist in sich widerspruchsfrei, und auch ohne expliziten
2122 Widerspruch zu den danebengestellten Prinzipien,
2123 so daß damit ein explizit widerspruchsfreies System aufgestellt
2124 ist, welches mit der normalen induktiven Deutung
2125 des Beobachtungsmaterials nicht vereinbar ist. Es kommt
2126 aber noch eine Besonderheit hinzu. Das nicht evidente
2127 Prinzip ist gerade dasjenige, welches den Vorzug hat, den
2128 Widerspruch der genannten ersten Zusammenstellung zu
2129 lösen. Es ist also ebenfalls ein ausgezeichnetes System,
2130 dessen Widerspruch zur Erfahrung behauptet wird.
2132 Mit diesen Zusammenstellungen ist die Antwort auf
2133 die Hypothese der Zuordnungswillkür, von der wir die
2134 Geltung der
\name{Kant
}ischen Erkenntnislehre abhängig machten,
2135 zurückgeschoben auf das Problem der normalen Induktion.
2136 Es muß deshalb die Bedeutung dieses Prinzips
2137 für die Erkenntnis untersucht werden.
2139 Es ist auch sehr verständlich, daß hier das Induktionsproblem
2140 hineinkommen muß. Denn der induktive Schluß
2141 ist vor allen anderen durch die Unsicherheit und Dehnbarkeit
2142 seiner Resultate ausgezeichnet. Die Hypothese der
2143 Zuordnungswillkür erscheint von vornherein sehr unwahrscheinlich;
2144 und wenn sie gerechtfertigt werden soll, muß
2145 sie auf die Unbestimmtheit in der Wirklichkeitsseite der
2146 Zuordnung zurückgehen. Aber diese Unbestimmtheit ist
2147 ja gerade der Kernpunkt des Induktionsproblems. Im
2148 Induktionsschluß wird eine Aussage gemacht, die über
2150 die unmittelbaren Daten der Erfahrung hinausgeht; sie
2151 muß gemacht werden, weil die Erfahrung immer nur
2152 Daten gibt, und keine Relationen, weil sie nur ein Kriterium
2153 für die Eindeutigkeit der Zuordnung liefert, und nicht die
2154 Zuordnung selbst. Wir sprachen von der normalen Induktion.
2155 Aber ist nicht eine Induktion erst dann normal,
2156 wenn sie solche Deutungen von vornherein ausschließt,
2157 die den Zuordnungsprinzipien widersprechen? Auf diesem
2158 Gedanken beruht der
\name{Kant
}ische Beweis für die Unabhängigkeit
2159 der Zuordnungsprinzipien von der Erfahrung.
2160 Wir halten uns deshalb für die Untersuchung dieser Frage
2161 unmittelbar an diesen Beweis.
2163 \name{Kants
} Beweisgang verläuft folgendermaßen. Jede Erfahrung
2164 setzt die Geltung der konstitutiven Prinzipien
2165 voraus. Wenn deshalb von Erfahrungsdaten auf Gesetze
2166 geschlossen werden soll, so müssen solche Deutungen der
2167 Erfahrungsdaten, die den vorausgesetzten Prinzipien widersprechen,
2168 von vornherein ausgeschlossen werden. Eine
2169 Induktion kann nur dann als normal gelten, wenn ihr
2170 dieser Ausschluß vorausgegangen ist. Darum kann kein
2171 Erfahrungsresultat die konstitutiven Prinzipien widerlegen.
2173 Die Analyse dieses Beweises läßt sich auf die Beantwortung
2174 zweier Fragen zurückführen.
2176 Ist es logisch
\emph{widersinnig
}, solche induktiven Deutungen
2177 des Erfahrungsmaterials vorzunehmen, die einen
2178 Widerspruch zu den Zuordnungsprinzipien darstellen?
2180 Ist es logisch
\emph{zulässig
}, vor der induktiven Deutung
2181 des Erfahrungsmaterials solche Deutungen auszuschließen,
2182 die einem Zuordnungsprinzip widersprechen?
2184 Es sei, um die Terminologie zu fixieren, vorausgeschickt,
2185 daß wir in den folgenden Ausführungen unter dem normalen
2186 Induktionsverfahren nicht das in jenem Beweisgang
2188 entwickelte Verfahren, sondern das allgemein übliche Verfahren
2189 der Physik, wie wir es im Abschnitt
\chapref{II
} geschildert
2190 haben, verstehen werden.
2192 Wir beantworten die erste Frage. Warum soll denn
2193 solch ein Verfahren logisch widersinnig sein? Indem man
2194 feststellt, ob man mit der fortgesetzten Anwendung eines
2195 Prinzips und normalem Induktionsverfahren zu einer eindeutigen
2196 Zuordnung kommt oder nicht, prüft man das
2197 implizierte Prinzip. Das ist ein vielbenutztes Verfahren
2198 der Physik: man entwirft eine Theorie, deutet nach ihr
2199 die Erfahrungsresultate, und sieht nach, ob man zur Eindeutigkeit
2200 kommt. Ist das nicht der Fall, so gibt man
2201 die Theorie auf. Dieses Verfahren läßt sich für Zuordnungsprinzipien
2202 genau so durchführen. Es schadet gar nichts,
2203 daß das zu prüfende Prinzip bereits in
\emph{sämtlichen
} zur
2204 Induktion verwandten Erfahrungen vorausgesetzt wird.
2205 Es ist keineswegs widersinnig, einen Widerspruch des
2206 Zuordnungssystems mit der Erfahrung zu behaupten.
2208 Die zweite Frage beantwortet sich schwieriger. Wir
2209 wollen aber beweisen, daß ihre Bejahung zum Verzicht
2210 auf die Eindeutigkeit der Zuordnung führt.
2212 Wir wollen zunächst zeigen, daß das in der Frage
2213 charakterisierte Verfahren, angewandt auf irgend ein
2214 Einzelgesetz, der Zuordnung die Eindeutigkeit nimmt. Es
2215 seien etwa Messungen zum
\name{Boile
}schen Gesetz ausgeführt,
2216 und für das Produkt von Druck und Volumen eine Reihe
2217 von Messungsdaten gegeben, die für verschiedene Werte
2218 der beiden Veränderlichen aufgenommen sind. Wir wollen
2219 fordern, daß eine solche Beurteilung der Messungszahlen
2220 stattfindet, die mit einer fingierten Formel $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$
2221 nicht in Widerspruch kommt, und gleichzeitig auch
2222 die für die Aufstellung der Messungsdaten benutzten speziellen
2223 physikalischen Gesetze nicht verletzt, also z.\,B. die
2225 Relationen zwischen Druck und Quecksilberhöhe nicht zerstört
\Footnote{e
}
2226 {Eine solche Bestimmung muß hinzutreten, weil sonst die konsequente
2227 Verfolgung der Forderung zu einer Definition des Volumens führen
2228 würde, die unter Volumen die Quadratwurzel aus dem sonst benutzten
2229 Wert versteht. Das wäre keine Änderung der Gesetze, sondern nur der
2230 Bezeichnungsweise.
}.
2231 Diese Interpretation der Messungszahlen ist deshalb
2232 möglich, weil die Zahlen wegen der Messungsfehler
2233 nicht genau gleich sind, und weil sie aus den unendlich
2234 vielen verschiedenen möglichen Werten der Variablen
2235 immer nur eine Auswahl bedeuten. Das normale Verfahren
2236 ist dabei derart, daß man die Zahlen, wenn ihre
2237 Abweichungen gering sind, als die durch Messungsfehler
2238 leicht variierten Werte einer Konstanten deutet, und daß
2239 man für die nicht gemessenen Zwischenwerte und auch
2240 noch für ein Stück über die Enden der Messungsreihe
2241 hinaus denselben Wert der Konstanten annimmt. Das ist
2242 die normale Induktion. Hält man aber an der Formel
2243 $p V^
2 =
\mathrm{konst.
}$ dogmatisch fest und schließt jede widersprechende
2244 Induktion aus, so wird man die Messungszahlen
2245 anders deuten. Man nimmt etwa an, daß für die
2246 gemessenen Werte gerade Störungen in der Apparatur
2247 eingetreten sind, und indem man besonders widersprechende
2248 Werte einfach wegläßt, interpoliert und extrapoliert man
2249 die übrigen derart, daß eine mit steigendem Volumen
2250 fallende Kurve entsteht. Ein solches Verfahren ist allerdings
2251 \emph{möglich
}, wenn es auch der üblichen wissenschaftlichen
2252 Methode widerspricht. Es führt nur nicht zu einer
2253 eindeutigen Zuordnung. Denn um eine Zuordnung als eindeutig
2254 zu konstatieren, muß wegen der stets auftretenden
2255 Messungsfehler eine Hypothese über die Streuung der Zahlwerte
2256 gemacht werden, und diese Hypothese fordert, daß
2257 man eine mittlere stetige Kurve durch die Messungszahlen
2259 legt. Wenn also von einer eindeutigen Zuordnung bei der
2260 Ungenauigkeit jeder Meßapparatur überhaupt die Rede
2261 sein soll, muß an dem Prinzip der normalen Induktion
2262 festgehalten werden
\litref{18}.
2264 Diese Verhältnisse werden aber nicht anders, wenn
2265 man die Untersuchung auf ein Zuordnungsprinzip erstreckt.
2266 Ist ein solches Erfahrungsmaterial zusammengetragen,
2267 daß seine induktive Deutung einem Zuordnungsprinzip
2268 widerspricht, so darf man deshalb nicht von der
2269 normalen Induktion abweichen. Auch in diesem Falle
2270 würde man damit die Eindeutigkeit der Zuordnung aufgeben,
2271 denn wenn diese Eindeutigkeit überhaupt konstatierbar
2272 sein soll, muß die wahrscheinlichkeitstheoretische
2273 Annahme über die Messungszahlen gemacht werden.
2274 Das Prinzip der normalen Induktion ist vor allen anderen
2275 Zuordnungsprinzipien dadurch ausgezeichnet, daß es selbst
2276 erst die Eindeutigkeit der Zuordnung definiert. Wenn
2277 also an der Eindeutigkeit festgehalten werden soll, so
2278 müssen eher alle anderen Zuordnungsprinzipien fallen als
2279 das Induktionsprinzip.
2281 Der
\name{Kant
}ische Beweis ist also falsch. Es ist durchaus
2282 möglich, einen Widerspruch der konstitutiven Prinzipien
2283 mit der Erfahrung festzustellen. Und da die Relativitätstheorie
2284 diesen Widerspruch mit aller Sicherheit der empirischen
2285 Physik nachgewiesen hat, dürfen wir ihre Antwort
2286 auf die
\name{Kant
}ische Hypothese der Zuordnungswillkür in
2287 folgenden Satz zusammenfassen:
\emph{Es gibt Systeme von
2288 Zuordnungsprinzipien, die die Eindeutigkeit der
2289 Zuordnung unmöglich machen, also implizit
2290 widerspruchsvolle Systeme.
} Wir bemerken nochmals,
2291 daß dieses Resultat nicht selbstverständlich ist,
2292 sondern erst durch den konsequenten Ausbau einer empirischen
2293 Physik möglich wurde. Hat man kein solches
2295 Wissenschaftssystem, so ist die Willkür in der Deutung
2296 der wenigen unmittelbaren Erfahrungsresultate viel zu
2297 groß, als daß von einem Widerspruch zum Induktionsprinzip
2298 gesprochen werden könnte.
2300 Aber die Antwort der Relativitätstheorie hat noch eine
2301 ganz besondere Bedeutung. Diese Theorie hat nämlich
2302 gezeigt, daß gerade dasjenige Zuordnungssystem, welches
2303 durch
\emph{Evidenz
} ausgezeichnet ist, einen Widerspruch ergibt;
2304 und daß, wenn man diesen Widerspruch durch Verzicht
2305 auf eines der evidenten Prinzipien löst, sogleich durch
2306 Hinzutreten weiterer evidenter Prinzipien ein zweiter noch
2307 tieferer Widerspruch entsteht. Und das hat eine sehr
2308 weitgehende Konsequenz. Alle bisherigen Resultate der
2309 Physik sind mit dem evidenten System gewonnen. Wir
2310 fanden, daß dies den Widerspruch nicht ausschließt, daß
2311 er also mit Recht konstatiert werden kann -- aber wie
2312 sollen wir zu einem neuen System gelangen? Bei Einzelgesetzen
2313 ist das sehr leicht, denn man braucht dazu nur
2314 diejenigen Voraussetzungen zu ändern, in denen dieses
2315 Einzelgesetz enthalten war. Aber wir haben gesehen, daß
2316 Zuordnungsprinzipien in
\emph{jedem
} Gesetz enthalten sind,
2317 und wenn wir neue Zuordnungsprinzipien induktiv prüfen
2318 wollen, müßten wir also zuvor jedes benutzte physikalische
2319 Gesetz ändern. Denn das wäre in der Tat ein Widersinn,
2320 wenn wir neue Prinzipien mit Erfahrungen prüfen wollten,
2321 in denen die alten Prinzipien noch vorausgesetzt sind.
2322 Wollte man z.\,B. versuchsweise den Raum als vierdimensional
2323 annehmen, so müßte man bei der Prüfung dieser
2324 Theorie alle bisher benutzten Methoden der Längenmessung
2325 aufgeben, und sie durch eine mit der Vierdimensionalität
2326 vereinbare Messung ersetzen. Auch alle
2327 Gesetze über das Verhalten des benutzten Materials in
2328 der Meßapparatur, über die Geschwindigkeit des Lichts
2330 usw. müßten aufgegeben werden. Ein solches Verfahren
2331 wäre aber
\emph{technisch unmöglich
}. Denn wir können
2332 die Physik heute nicht mehr von vorn anfangen.
2334 Wir sind also in einer Zwangslage. Wir geben zu, daß
2335 die bisherigen Prinzipien zu einem Widerspruch geführt
2336 haben, aber wir sehen uns nicht in der Lage, sie durch
2339 In dieser Zwangslage zeigt abermals die Relativitätstheorie
2340 den Weg. Denn sie hat nicht nur das alte Zuordnungssystem
2341 widerlegt, sondern auch ein neues aufgestellt;
2342 und das Verfahren, welches
\name{Einstein
} dabei benutzt hat,
2343 ist in der Tat eine glänzende Lösung dieses Problems.
2345 Der Widerspruch, der entsteht, wenn man mit dem
2346 alten Zuordnungsprinzip Erfahrungen gewinnt und damit
2347 ein neues Zuordnungsprinzip beweisen will, fällt unter
2348 einer Bedingung fort: wenn das alte Prinzip als eine
2349 Näherung für gewisse einfache Fälle angesehen werden
2350 kann. Da die Erfahrungen doch nur Näherungsgesetze
2351 sind, so dürfen sie mit Hilfe der alten Prinzipien aufgestellt
2352 werden; dies schließt nicht aus, daß die Gesamtheit
2353 der Erfahrungen induktiv ein allgemeineres Prinzip beweist.
2354 \emph{Es ist also logisch zulässig und technisch möglich,
2355 solche neuen Zuordnungsprinzipien auf induktivem
2356 Wege zu finden, die eine stetige Erweiterung
2357 der bisher benutzten Prinzipien darstellen.
}
2358 Stetig nennen wir diese Verallgemeinerung, weil
2359 das neue Prinzip für gewisse näherungsweise verwirklichte
2360 Fälle mit einer der Näherung entsprechenden Genauigkeit
2361 in das alte Prinzip übergehen soll. Wir wollen dieses
2362 induktive Verfahren als
\emph{Verfahren der stetigen Erweiterung
2365 Wir bemerken, daß dies der Weg ist, den die Relativitätstheorie
2366 ging. Als
\name{Eötvös
} die Gleichheit von
2368 träger und schwerer Masse experimentell bestätigte, mußte
2369 er für die Auswertung seiner Beobachtungen die Geltung
2370 der euklidischen Geometrie in den Dimensionen seiner
2371 Drehwage voraussetzen. Trotzdem konnte das Resultat
2372 seiner Induktionen ein Beweis für die Gültigkeit der
2373 \name{Riemann
}schen Geometrie in den Dimensionen der Himmelskörper
2374 werden. Die Korrektionen der Relativitätstheorie
2375 an der Längen- und Zeitmessung sind alle so bemessen,
2376 daß sie für die gewöhnlichen Experimentierbedingungen
2377 vernachlässigt werden können. Wenn z.\,B.
2378 der Astronom eine Uhr, mit der er Sternbeobachtungen
2379 aufnimmt, von einem Tisch auf den anderen legt, so
2380 braucht er deswegen noch nicht die
\name{Einstein
}sche Zeitkorrektion
2381 für bewegte Uhren einzuführen, und kann trotzdem
2382 mit dieser Uhr einen Standort des Merkurs feststellen,
2383 der eine Verschiebung des Perihels und damit einen Beweis
2384 für die Relativitätstheorie bedeutet. Wenn die Relativitätstheorie
2385 eine Krümmung der Lichtstrahlen im Gravitationsfeld
2386 der Sonne behauptet, so kann die Auswertung
2387 der Sternaufnahmen trotzdem die Lichtstrecke innerhalb
2388 des Fernrohrs als geradlinig voraussetzen und die Aberrationskorrektion
2389 nach der üblichen Methode berechnen.
2390 Und das gilt nicht nur für den Schluß von kleinen auf
2391 große Dimensionen. Wenn etwa die fortschreitende Theorie
2392 dazu kommt, für das Elektron eine starke Raumkrümmung
2393 innerhalb seines Kraftfelds zu behaupten, so ließe sich
2394 diese Krümmung indirekt mit Apparaten konstatieren,
2395 deren Abmessungen innerhalb der gewöhnlichen Größenordnungen
2396 liegen und darum als euklidisch angenommen
2399 Mir scheint, daß dieses Verfahren der stetigen Erweiterung
2400 den Kernpunkt für die Widerlegung der
\name{Kant
}ischen
2401 Aprioritätslehre darstellt. Denn es zeigt nicht nur
2403 einen Weg, die alten Prinzipien zu widerlegen, sondern
2404 auch einen Weg, neue als berechtigt aufzustellen; und
2405 darum ist dieses Verfahren geeignet, nicht nur alle theoretischen,
2406 sondern auch alle praktischen Bedenken zu zerstreuen.
2408 Es muß in diesem Zusammenhange bemerkt werden,
2409 daß die von uns formulierte Hypothese der Zuordnungswillkür
2410 und ihre Widerlegung durch die Erfahrung
\name{Kants
}
2411 eigenen Gedanken nicht so fremd ist, wie es zuerst scheinen
2412 mag.
\name{Kant
} hatte seine Lehre vom Apriori auf die Möglichkeit
2413 der Erkenntnis basiert; aber er war sich wohl
2414 bewußt, daß er einen
\emph{Beweis für diese Möglichkeit
}
2415 nicht geben konnte. Er hielt es nicht für ausgeschlossen,
2416 daß
\emph{Erkenntnis unmöglich
} wäre, und sah es für einen
2417 großen Zufall an, daß die Natur gerade eine solche Einfachheit
2418 und Regelmäßigkeit besitzt, daß sie nach den
2419 Grundsätzen der menschlichen Vernunft geordnet werden
2420 kann. Die begrifflichen Schwierigkeiten, die ihm hier
2421 erwuchsen, hat er in der Kritik der Urteilskraft zum
2422 Gegenstand der Untersuchung gemacht.
\glqq{}Der Verstand
2423 ist zwar apriori im Besitze allgemeiner Gesetze der Natur,
2424 ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein
2425 könnte, aber er bedarf doch auch überdem noch einer
2426 gewissen Ordnung der Natur
\ldots{} Diese Zusammenstimmung
2427 der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird
2428 von der Urteilskraft
\ldots{} apriori vorausgesetzt, indem sie
2429 der
\emph{Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt
}.
2430 \ldots{} Denn es läßt sich wohl denken, daß es für
2431 unseren Verstand unmöglich wäre, in der Natur eine faßliche
2432 Ordnung zu entdecken
\litref{19}.
\grqq{} Es erscheint befremdend,
2433 daß
\name{Kant
}, nach einer so klaren Einsicht in die Zufälligkeit
2434 der Anpassung von Natur und Vernunft, dennoch an
2435 seiner starren Theorie des Apriori festgehalten hat. Der
2437 Fall, den er hier vorausgesehen hat, daß es nämlich dem
2438 Verstand unmöglich wird, mit seinem mitgebrachten
2439 System eine faßliche Ordnung in der Natur herzustellen,
2440 ist in der Tat eingetreten: die Relativitätstheorie hat den
2441 Nachweis erbracht, daß mit dem evidenten System der
2442 Vernunft eine eindeutige Ordnung der Erfahrung nicht
2443 mehr möglich ist. Aber während die Relativitätstheorie
2444 daraus den Schluß gezogen hat, daß man die konstitutiven
2445 Prinzipien ändern muß, glaubte
\name{Kant
}, daß damit jede
2446 Erkenntnis überhaupt aufhören würde; er hielt eine solche
2447 Änderung für unmöglich, weil wir nur soweit, als jene
2448 Zusammenstimmung von Natur und Vernunft stattfindet,
2449 \glqq{}mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Erfahrung
2450 fortkommen und Erkenntnis erwerben können
\grqq{}. Erst das
2451 \name{Kant
} noch unbekannte Verfahren der stetigen Erweiterung
2452 überwindet diese Schwierigkeit, und darum konnte sein
2453 starres Apriori erst mit der Entdeckung dieses Verfahrens
2454 durch die Physik widerlegt werden.
2456 Wir müssen dieser Auflösung der
\name{Kant
}ischen Aprioritätslehre
2457 noch einige allgemeine Bemerkungen hinzufügen.
2458 Es scheint uns der Fehler
\name{Kants
} zu sein, daß er, der mit
2459 der kritischen Frage den tiefsten Sinn aller Erkenntnistheorie
2460 aufgezeigt hatte, in ihrer Beantwortung zwei Absichten
2461 miteinander verwechselte. Wenn er die Bedingungen
2462 der Erkenntnis suchte, so mußte er die
\emph{Erkenntnis
}
2463 analysieren; aber was er analysierte, war die
\emph{Vernunft
}.
2464 Er mußte
\emph{Axiome
} suchen, anstatt
\emph{Kategorien
}. Es ist
2465 ja richtig, daß die Art der Erkenntnis durch die Vernunft
2466 bestimmt ist; aber worin der Einfluß der Vernunft besteht,
2467 kann sich immer nur wieder in der Erkenntnis ausdrücken,
2468 nicht in der Vernunft. Es kann auch gar keine
2469 logische Analyse der Vernunft geben, denn die Vernunft
2470 ist kein System fertiger Sätze, sondern ein Vermögen, das
2472 erst in der Anwendung auf konkrete Probleme fruchtbar
2473 wird. So wird er durch seine Methode immer wieder auf
2474 das Kriterium der Evidenz zurückgewiesen. In seiner
2475 Raumphilosophie macht er davon Gebrauch und beruft
2476 sich auf die Evidenz der geometrischen Axiome; aber auch
2477 für die Geltung der Kategorien hat er im wesentlichen
2478 keine anderen Argumente. Zwar versucht er sie als notwendig
2479 für die Erkenntnis hinzustellen. Aber daß gerade
2480 die von ihm genannten Kategorien notwendig sind, kann
2481 er nur dadurch begründen, daß er sie als in unserem
2482 vernünftigen Denken enthalten aufweist, daß er sie durch
2483 eine Art Anschauung der Begriffe konstatiert. Denn die
2484 logische Gliederung der Urteile, der die Kategorientafel
2485 entstammt, ist nicht in unmittelbarer Berührung mit dem
2486 Erkenntnisvorgang entstanden, sondern bedeutet ein
2487 spekulatives Ordnungsschema des Verstandes, das kraft
2488 seiner Evidenz für den Erkenntnisvorgang übernommen
2489 wird. So erreicht er mit der Aufstellung seiner aprioren
2490 Prinzipien im Grunde nichts anderes als eine Heiligsprechung
2491 des
\glqq{}gesunden Menschenverstandes
\grqq{}, jener
2492 naiven Form der Vernunftbejahung, die er selbst gelegentlich
2493 mit so nüchtern-geistvollen Worten abzutun weiß.
2495 In diesem Verfahren
\name{Kants
} scheint uns sein methodischer
2496 Fehler zu liegen, der es bewirkt hat, daß das großartig
2497 angelegte System der kritischen Philosophie nicht
2498 zu Resultaten geführt hat, die vor der vorwärtseilenden
2499 Naturwissenschaft Bestand haben. So leuchtend die
2500 kritische Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? vor aller
2501 Erkenntnistheorie steht -- sie kann nicht eher zu gültigen
2502 Antworten führen, als bis die Methode ihrer Beantwortung
2503 von der Enge einer psychologisch-spekulativen Einsicht
2509 \Chapter{VII
}{Beantwortung der kritischen Frage durch die
2510 wissenschaftsanalytische Methode.
}
2513 Die Widerlegung des positiven Teils der
\name{Kant
}ischen
2514 Erkenntnistheorie enthebt uns nicht der Verpflichtung,
2515 den kritischen Teil dieser Lehre in seiner grundsätzlichen
2516 Gestalt wieder aufzunehmen. Denn wir hatten gefunden,
2517 daß die Frage: Wie ist Erkenntnis möglich? unabhängig
2518 von der
\name{Kant
}ischen Antwort ihren guten Sinn hat, und
2519 wir konnten ihr innerhalb unseres Begriffskreises eine
2520 präzise Form geben. Es ist nach der Ablehnung der
2521 \name{Kant
}ischen Antwort jetzt unsere Aufgabe, den Weg zur
2522 Beantwortung der kritischen Frage aufzuzeigen: Mit
2523 welchen Zuordnungsprinzipien ist eine eindeutige Zuordnung
2524 von Gleichungen zur Wirklichkeit möglich?
2526 Wir sehen diesen Weg in der Einführung der
\emph{wissenschaftsanalytischen
2527 Methode
} in die Erkenntnistheorie.
2528 Die von den positiven Wissenschaften in stetem
2529 Zusammenhang mit der Erfahrung gefundenen Resultate
2530 setzen Prinzipien voraus, deren Aufdeckung durch logische
2531 Analyse eine Aufgabe der Philosophie ist. Durch den Ausbau
2532 der Axiomatik, die seit
\name{Hilberts
} Axiomen der Geometrie
2533 den Weg zur Verwendung der modernen mathematisch-logischen
2534 Begriffe gefunden hat, ist hier schon wesentliche
2535 Arbeit geleistet worden. Und man muß sich darüber klar
2536 werden, daß es auch für die Erkenntnistheorie kein anderes
2537 Verfahren gibt,
\emph{als festzustellen, welches die in der
2538 Erkenntnis tatsächlich angewandten Prinzipien
2540 sind
}. Der Versuch
\name{Kants
}, diese Prinzipien aus der Vernunft
2541 zu entnehmen, muß als gescheitert betrachtet
2542 werden; an Stelle seiner deduktiven Methode muß eine
2543 induktive Methode treten. Induktiv ist sie insofern, als
2544 sie sich lediglich an das positiv vorliegende Erkenntnismaterial
2545 hält; aber ihre analysierende Methode ist natürlich
2546 nicht mit dem Induktionsschluß zu vergleichen. Um
2547 Verwechslungen zu vermeiden, wählen wir deshalb den
2548 Namen: wissenschaftsanalytische Methode.
2550 Für ein Spezialgebiet der Physik, für die Wahrscheinlichkeitsrechnung,
2551 konnte eine derartige Analyse vom Verfasser
2552 bereits durchgeführt werden
\litref{20}. Sie führte zur Aufdeckung
2553 eines Axioms, das grundsätzliche Bedeutung für
2554 die physikalische Erkenntnis besitzt, und als Prinzip der
2555 Verteilung neben das Kausalitätsgesetz als Prinzip der
2556 Verknüpfung gesetzt wurde. Für die Relativitätstheorie
2557 ist diese Arbeit im wesentlichen bereits von ihrem Schöpfer
2558 geleistet worden. Denn
\name{Einstein
} hat bei allen seinen
2559 Arbeiten die Prinzipien an die Spitze gestellt, aus denen
2560 er seine Theorie deduziert. Allerdings ist der Gesichtspunkt,
2561 unter dem der Physiker seine Prinzipien aufstellt,
2562 noch verschieden von dem Gesichtspunkt des Philosophen.
2563 Der Physiker will möglichst einfache und umfassende Annahmen
2564 an die Spitze stellen, der Philosoph aber will
2565 diese Annahmen ordnen und gliedern in spezielle und
2566 allgemeine, in Verknüpfungs- und Zuordnungsprinzipien.
2567 Insofern ist auch für die Relativitätstheorie noch eine
2568 Arbeit zu leisten; als ein Beitrag dazu mögen die Abschnitte
2569 \chapref{II
} und
\chapref{III
} dieser Untersuchung aufgefaßt werden.
2571 Besonders zu beachten ist hier aber der Unterschied
2572 zwischen Physik und Mathematik. Der Mathematik ist
2573 die Anwendbarkeit ihrer Sätze auf Dinge der Wirklichkeit
2574 gleichgültig, und ihre Axiome enthalten lediglich ein
2576 System von Regeln nach dem ihre Begriffe unter sich
2577 verknüpft werden. Die rein mathematische Axiomatik
2578 führt überhaupt nicht auf Prinzipien einer Theorie der
2579 \emph{Naturerkenntnis
}. Darum konnte auch die Axiomatik
2580 der Geometrie gar nichts über das erkenntnistheoretische
2581 Raumproblem aussagen. Erst eine physikalische Theorie
2582 konnte die Geltungsfrage des euklidischen Raumes beantworten,
2583 und gleichzeitig die dem Raum der Naturdinge
2584 zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen Prinzipien aufdecken.
2585 Ganz falsch ist es aber, wenn man daraus, wie
2586 z.\,B.
\name{Weyl
} und auch
\name{Haas
}\litref{21}, wieder den Schluß ziehen
2587 will, daß Mathematik und Physik zu einer einzigen Disziplin
2588 zusammenwachsen. Die Frage der
\emph{Geltung
} von Axiomen
2589 für die Wirklichkeit und die Frage nach den möglichen
2590 Axiomen sind absolut zu trennen. Das ist ja gerade das
2591 Verdienst der Relativitätstheorie, daß sie die Frage der
2592 \emph{Geltung
} der Geometrie aus der Mathematik fortgenommen
2593 und der Physik überwiesen hat. Wenn man jetzt
2594 aus einer allgemeinen Geometrie wieder Sätze aufstellt
2595 und behauptet, daß sie Grundlage der Physik sein müßten,
2596 so begeht man nur den alten Fehler von neuem. Dieser
2597 Einwand muß der
\name{Weyl
}schen Verallgemeinerung der
2598 Relativitätstheorie
\litref{22} entgegengehalten werden, bei der
2599 der Begriff einer feststehenden Länge für einen unendlich
2600 kleinen Maßstab überhaupt aufgegeben wird. Allerdings
2601 ist eine solche Verallgemeinerung möglich, aber ob sie mit
2602 der Wirklichkeit verträglich ist, hängt nicht von ihrer
2603 Bedeutung für eine allgemeine Nahegeometrie ab. Darum
2604 muß die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung vom Standpunkt
2605 einer physikalischen Theorie betrachtet werden, und ihre
2606 Kritik erfährt sie allein durch die Erfahrung. Die Physik
2607 ist eben keine
\glqq{}geometrische Notwendigkeit
\grqq{}; wer das
2608 behauptet, kehrt auf den vorkantischen Standpunkt
2610 zurück, wo sie eine vernunftgegebene Notwendigkeit war.
2611 Und die Prinzipien der Physik kann ebensowenig eine
2612 allgemein-geometrische Überlegung lehren, wie sie die
2613 \name{Kant
}ische Analyse der Vernunft lehren konnte, sondern
2614 das kann allein eine Analyse der physikalischen Erkenntnis.
2616 Der
\emph{Begriff des Apriori
} erfährt durch unsere
2617 Überlegungen eine tiefgehende Wandlung. Seine eine Bedeutung,
2618 daß der apriorische Satz unabhängig von jeder
2619 Erfahrung ewig gelten soll, können wir nach der Ablehnung
2620 der
\name{Kant
}ischen Vernunftanalyse nicht mehr aufrecht erhalten.
2621 Um so wichtiger wird dafür seine andere Bedeutung:
2622 daß die aprioren Prinzipien die Erfahrungswelt erst
2623 konstituieren. In der Tat kann es kein einziges physikalisches
2624 Urteil geben, das über den Stand der bloßen Wahrnehmung
2625 hinausgeht, wenn nicht gewisse Voraussetzungen
2626 über die Darstellbarkeit des Gegenstandes durch eine
2627 Raum-Zeit-Mannigfaltigkeit und seinen funktionellen Zusammenhang
2628 mit anderen Gegenständen gemacht werden.
2629 Aber daraus darf nicht geschlossen werden, daß die Form
2630 dieser Prinzipien von vornherein feststeht und von der
2631 Erfahrung unabhängig sei. Unsere Antwort auf die kritische
2632 Frage lautet daher: allerdings gibt es apriore Prinzipien,
2633 welche die Zuordnung des Erkenntnisvorgangs erst
2634 eindeutig machen. Aber es ist uns versagt, diese Prinzipien
2635 aus einem immanenten Schema zu deduzieren. Es bleibt
2636 uns nichts, als sie in allmählicher wissenschaftsanalytischer
2637 Arbeit aufzudecken, und auf die Frage, wie lange
2638 ihre spezielle Form Geltung besitzt, zu verzichten.
2640 Denn eine spezielle Formulierung ist es immer nur,
2641 was wir auf diese Weise gewinnen. Wir können sofort,
2642 wenn wir ein physikalisch benutztes Zuordnungsprinzip
2643 aufgedeckt haben, ein allgemeineres angeben, von dem es
2644 nur einen Spezialfall bedeutet. Zwar könnte man den
2646 Versuch machen, nun das allgemeinere Prinzip apriori im alten
2647 Sinne zu nennen und wenigstens von ihm ewige Geltung
2648 zu behaupten. Aber das scheitert daran, daß auch für das
2649 allgemeinere Prinzip wieder ein übergeordnetes angegeben
2650 werden kann, und daß diese Reihe nach oben keine Grenze
2651 besitzt. Wir bemerken hier eine Gefahr, der die Erkenntnistheorie
2652 leicht verfällt. Als man die dem
\name{Kant
}ischen
2653 Substanzerhaltungsprinzip widersprechende Veränderung
2654 der Masse mit der Geschwindigkeit entdeckt hatte, war
2655 es leicht zu sagen: die Masse war eben noch nicht die
2656 richtige Substanz, und man muß das Prinzip festhalten
2657 und eine neue Konstante suchen. Das war eine Verallgemeinerung,
2658 denn
\name{Kant
} hatte gewiß mit der Substanz
2659 die Masse gemeint
\litref{23}. Aber man ist damit keineswegs
2660 sicher, daß man nicht eines Tages auch dieses Prinzip
2661 wieder aufgeben muß. Stellt sich etwa heraus, daß es
2662 eine im ursprünglichen Sinne als das identische Ding
2663 gemeinte Substanz nicht gibt, die sich erhält -- und man
2664 ist heute im Begriffe, die Bewegung eines Masseteilchens
2665 als Wanderung eines Energieknotens ähnlich der Wanderung
2666 einer Wasserwelle aufzufassen, so daß man überhaupt
2667 nicht von einem substanziell identischen Masseteilchen
2668 reden kann -- so flüchtet man sich in die noch allgemeinere
2669 Behauptung: es muß für jeden Vorgang eine Zahl geben,
2670 die konstant bleibt. Damit ist allerdings die Behauptung
2671 schon ziemlich leer geworden, denn daß die physikalischen
2672 Gleichungen Konstanten enthalten, hat mit dem alten
2673 \name{Kant
}ischen Substanzprinzip nur noch sehr wenig zu tun.
2674 Trotzdem ist man auch mit dieser Formulierung vor
2675 weiteren widersprechenden Erfahrungen nicht sicher. Denn
2676 wenn z.\,B. die sämtlichen Konstanten gegenüber Transformationen
2677 der Koordinaten nicht invariant sind, muß
2678 man den Gedanken schon wieder verallgemeinern. Man
2680 erkennt, daß man mit diesem Verfahren nicht zu präzisierten
2681 klaren Prinzipien kommt; will man mit dem Prinzip
2682 auch einen Inhalt verbinden, so muß man sich
\emph{mit der
2683 jeweilig hinreichend allgemeinsten Formulierung
2684 begnügen
}. So wollen wir, nach der Niederlage der
\name{Kant
}ischen
2685 Raumtheorie vor der fortschreitenden Physik, nicht
2686 auf die Warte der nächsten Verallgemeinerung steigen und
2687 etwa behaupten, daß jede physikalische Raumanschauung
2688 unter allen Umständen wenigstens die
\name{Riemann
}sche
2689 Ebenheit in den kleinsten Teilen behalten muß, und daß
2690 dies nun eine wirklich ewig gültige Aussage sei. Nichts
2691 könnte unsere Enkel davor schützen, daß sie eines Tags
2692 vor einer Physik stehen, die zu einem Linienelement vom
2693 vierten Grade übergegangen ist. Die
\name{Weyl
}sche Theorie
2694 stellt bereits eine mögliche Erweiterung der
\name{Einstein
}schen
2695 Raumanschauung dar, die, wenn auch physikalisch
2696 noch nicht bewiesen, doch auch keineswegs unmöglich ist.
2697 Aber auch diese Erweiterung stellt nicht etwa die denkbar
2698 allgemeinste Nahegeometrie dar. Man kann hier die Stufenfolge
2699 der Erweiterungen sehr schön verfolgen. In der
2700 euklidischen Geometrie läßt sich ein Vektor längs einer
2701 geschlossenen Kurve parallel mit sich verschieben, so daß
2702 er bei der Rückkehr in den Anfangspunkt gleiche Richtung
2703 und gleiche Länge hat. In der
\name{Einstein-Riemann
}schen
2704 Geometrie hat er nach der Rückkehr nur noch gleiche
2705 Länge, aber nicht mehr die alte Richtung. In der
\name{Weyl
}schen
2706 Theorie hat er dann auch nicht mehr die alte Länge.
2707 Man kann aber diese Verallgemeinerung fortsetzen. Reduziert
2708 man die geschlossene Kurve auf einen unendlich
2709 kleinen Kreis, so verschwinden die Änderungen. Die
2710 nächste Stufe der Verallgemeinerung wäre die, daß auch
2711 bei der Drehung um sich selbst der Vektor bereits seine Länge
2712 geändert hat. Es gibt eben keine allgemeinste Geometrie.
2715 Auch für das Kausalprinzip können wir keine ewige
2716 Gültigkeit voraussagen. Wir hatten oben als einen wesentlichen
2717 Inhalt dieses Prinzips genannt, daß die Koordinaten
2718 in den physikalischen Gleichungen nicht explizit auftreten,
2719 daß also gleiche Ursachen an einem anderen Raum-Zeitpunkt
2720 dieselbe Wirkung erzeugen. Obgleich diese
2721 Eigentümlichkeit durch die Relativitätstheorie um so gesicherter
2722 erscheint, weil diese Theorie den Koordinaten
2723 allen physikalischen Charakter als realer Dinge genommen
2724 hat, ist es möglich, daß eine allgemeinere Relativitätstheorie
2725 sie wieder aufgibt. Z.\,B. ist in der
\name{Weyl
}schen
2726 Verallgemeinerung die räumliche Länge und die zeitliche
2727 Dauer explizit von den Koordinaten abhängig. Trotzdem
2728 ließe sich auch hier ein Weg angeben, diese Abhängigkeit
2729 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung zu konstatieren.
2730 Nach der
\name{Weyl
}schen Theorie ist die Frequenz
2731 einer Uhr von ihrer Vorgeschichte abhängig. Nimmt man
2732 aber im Sinne einer Wahrscheinlichkeitshypothese an, daß
2733 sich diese Einflüsse im Durchschnitt ausgleichen, so lassen
2734 sich die bisherigen Erfahrungen, nach denen z.\,B. die
2735 Frequenz einer Spektrallinie bei sonst gleichen Umständen
2736 auf allen Himmelskörpern gleich ist, als Näherungen
2737 erklären. Umgekehrt ließen sich mit Hilfe dieses Näherungsgesetzes
2738 solche Fälle nachweisen, wo die
\name{Weyl
}sche
2739 Theorie einen deutlich bemerkbaren Unterschied erzeugt.
2741 Auch für das vom Verfasser aufgedeckte Prinzip der
2742 Wahrscheinlichkeitsfunktion ließe sich eine Verallgemeinerung
2743 denken, in der dieses Prinzip als Näherung erscheint.
2744 Das Prinzip sagt, daß die Schwankungen einer physikalischen
2745 Größe, die durch den Einfluß der stets vorhandenen
2746 kleinen störenden Ursachen entstehen, so verteilt sind,
2747 daß die Größenwerte sich einer
\emph{stetigen
} Häufigkeitsfunktion
2748 einfügen. Würde man aber z.\,B. die
2750 Quantentheorie soweit ausbilden, daß man sagt, jede physikalische
2751 Größe kann nur Werte annehmen, die ein ganzes Vielfaches
2752 einer elementaren Einheit sind, so würde, falls diese
2753 Einheit nur klein ist, die stetige Verteilung der Größenwerte
2754 für die Dimensionen unserer Meßinstrumente immer
2755 noch mit großer Näherung gelten
\litref{24}. Wir wollen uns aber
2756 hüten, diese Verallgemeinerung hier vorschnell als zutreffend
2757 anzunehmen. Die fortschreitende Wissenschaft
2758 wird allein zeigen können, in welcher
\emph{Richtung
} sich die
2759 Verallgemeinerung zu bewegen hat, und erst dadurch das
2760 allgemeinere Prinzip vor der Leerheit schützen. Für alle
2761 denkbaren Zuordnungsprinzipien gilt der Satz: Zu jedem
2762 Prinzip, wie es auch formuliert sein möge, läßt sich ein
2763 allgemeineres angeben, für welches das erste einen Spezialfall
2764 bedeutet. Dann ist aber nach dem früher geschilderten
2765 Verfahren der stetigen Erweiterung, wobei die speziellere
2766 Formulierung als Näherung vorausgesetzt wird, eine
2767 Prüfung durch die Erfahrung möglich; und über den Ausfall
2768 dieser Prüfung läßt sich nichts vorher sagen.
2770 Man könnte noch folgenden Weg zur Rettung einer
2771 Aprioritätstheorie im alten Sinne versuchen. Da jede
2772 spezielle Formulierung der Zuordnungsprinzipien durch die
2773 Erfahrungswissenschaft überholt werden kann, verzichten
2774 wir auf den Versuch einer allgemeinsten Formulierung.
2775 Aber
\emph{daß
} es Prinzipien geben muß, die die eindeutige
2776 Zuordnung erst definieren, bleibt doch eine Tatsache, und
2777 diese Tatsache wird ewig gelten und könnte apriori im
2778 alten Sinne heißen. Ist dies nicht etwa der tiefste Sinn der
2779 \name{Kant
}ischen Philosophie?
2781 Wir haben, wenn wir dies behaupten, bereits wieder
2782 eine Voraussetzung gemacht, die wir gar nicht beweisen
2783 können: nämlich daß die
\emph{eindeutige
} Zuordnung immer
2784 möglich sein wird. Woher stammt denn die Definition
2786 der Erkenntnis als
\emph{eindeutiger
} Zuordnung? Aus einer
2787 Analyse der bisherigen Erkenntnis. Aber gar nichts kann
2788 uns davor bewahren, daß wir eines Tags vor Erfahrungen
2789 stehen, die die eindeutige Zuordnung unmöglich machen;
2790 genau so, wie uns heute Erfahrungen zeigen, daß wir mit
2791 dem euklidischen Raum nicht mehr durchkommen. Die
2792 Eindeutigkeitsforderung hat einen ganz bestimmten physikalischen
2793 Sinn. Sie besagt nämlich, daß es Konstanten
2794 in der Natur gibt; indem wir diese auf mehrere Weisen
2795 messen, konstatieren wir die Eindeutigkeit. Jede physikalische
2796 Zustandsgröße können wir als Konstante für eine
2797 Klasse von Fällen betrachten, und jede Konstante als eine
2798 variable Zustandsgröße für eine andere Klasse
\litref{25}. Aber
2799 woher wissen wir, daß es Konstanten gibt? Zwar ist es
2800 sehr bequem, mit Gleichungen zu rechnen, in denen gewisse
2801 Größen als Konstanten betrachtet werden dürfen, und
2802 dieses Verfahren hängt sicherlich mit der Eigenart der
2803 menschlichen Vernunft zusammen, die dadurch zu einem
2804 geregelten System kommt. Aber aus all dem folgt nicht,
2805 daß es immer so gehen wird. Setzen wir etwa, daß jede
2806 physikalische Konstante die Form hat: $C + k
\alpha$, wo $
\alpha$
2807 sehr klein und $k$ eine ganze Zahl ist; fügen wir dem noch
2808 die Wahrscheinlichkeitshypothese hinzu, daß $k$ meistens
2809 klein ist, vielleicht zwischen
1 und
10 liegt. Für Konstanten
2810 der gewöhnlichen Größenordnung wäre dann das Zusatzglied
2811 sehr klein, und die bisherige Auffassung bliebe eine
2812 gute Näherung; aber für sehr kleine Konstanten, z.\,B.
2813 in der Größenordnung der Elektronen, könnten wir die
2814 Eindeutigkeit nicht mehr behaupten. Konstatieren ließe
2815 sich diese Mehrdeutigkeit trotzdem, und zwar nach dem
2816 Verfahren der stetigen Erweiterung; denn man brauchte
2817 dazu nur Messungen zu benutzen, die mit Konstanten der
2818 gewöhnlichen Größenordnung ausgeführt sind, in denen
2820 also das alte Gesetz näherungsweise gilt. Bei einer solchen
2821 Sachlage könnte man von einer durchgängigen Eindeutigkeit
2822 der Zuordnung nicht mehr reden, nur noch von einer
2823 näherungsweisen Eindeutigkeit für gewisse Fälle. Auch
2824 dadurch, daß man den neuen Ausdruck $C + k
\alpha$ einführt,
2825 wird die Eindeutigkeit nicht wieder hergestellt. Denn wir
2826 hatten oben (Abschnitt
\chapref{IV
}) als Sinn der Eindeutigkeitsforderung
2827 angegeben, daß bei Bestimmung aus verschiedenen
2828 Erfahrungsdaten die untersuchte Größe denselben
2829 Wert haben muß; anders konnten wir die Eindeutigkeit
2830 nicht definieren, weil dies die einzige Form ist, in der
2831 sie konstatiert werden kann. In dem Ausdruck $C + k
\alpha$
2832 ist aber die Größe $k$ ganz unabhängig von physikalischen
2833 Faktoren. Darum können wir die Größe $C + k
\alpha$ niemals
2834 aus theoretischen Überlegungen und anderen Erfahrungsdaten
2835 vorher berechnen, wir können sie nur für jeden
2836 Einzelfall nachträglich aus der Beobachtung bestimmen.
2837 Da sie also nie als Schnittpunkt zweier Überlegungsketten
2838 erscheint, ist damit der Sinn der Eindeutigkeit aufgegeben.
2839 Wir hätten, da $k$ auch von den Koordinaten unabhängig
2840 sein soll, den Fall vor uns, daß für zwei in allen physikalischen
2841 Faktoren gleiche Vorgänge an demselben Orte zu
2842 derselben Zeit (dies ist durch kleine Raum-Zeit-Abstände
2843 näherungsweise zu verwirklichen), die physikalische Größe
2844 $C + k
\alpha$ ganz verschiedene Werte annimmt. Unsere Annahme
2845 bedeutet also nicht etwa die Einführung einer
2846 \glqq{}individuellen Kausalität
\grqq{}, wie wir sie oben beschrieben
2847 haben und wie sie z.\,B.
\name{Schlick
}\litref{26} als möglich annimmt,
2848 bei der die gleiche Ursache an einem andern Raum-Zeitpunkt
2849 eine andere Wirkung auslöst, sondern einen wirklichen
2850 Verzicht auf die Eindeutigkeit der Zuordnung. Trotzdem
2851 ist dies immer noch eine Zuordnung, die durchgeführt
2852 werden kann. Sie stellt die nächste Erweiterungsstufe des
2854 Begriffs der eindeutigen Zuordnung dar, verhält sich zu
2855 dieser etwa wie der
\name{Riemann
}sche Raum zum euklidischen;
2856 und darum ist ihre Einführung in den Erkenntnisbegriff
2857 nach dem Verfahren der stetigen Erweiterung
2858 durchaus möglich. Erkenntnis heißt dann eben nicht mehr
2859 eindeutige Zuordnung, sondern etwas Allgemeineres. Sie
2860 verliert auch ihren praktischen Wert nicht, denn wenn
2861 z.\,B. derartige mehrdeutige Konstanten nur bei Einzelgrößen
2862 in statistischen Vorgängen auftreten, lassen sich damit
2863 sehr exakte Gesetze für den Gesamtvorgang aufstellen.
2864 Auch braucht uns die Rücksicht auf praktische Möglichkeiten
2865 bei diesen theoretischen Erörterungen nicht zu
2866 stören, denn wenn die Resultate erst einmal theoretisch
2867 sichergestellt sind, werden sich immer Wege zu ihrer
2868 praktischen Verwertung finden lassen.
2872 Vielleicht stehen wir einer derartigen Erweiterung gar
2873 nicht so fern, wie es scheinen mag. Wir haben schon
2874 früher erwähnt, daß die Eindeutigkeit der Zuordnung gar
2875 nicht
\emph{konstatiert
} werden kann; sie ist selbst eine begriffliche
2876 Fiktion, die nur näherungsweise realisiert wird.
2877 Es muß eine Wahrscheinlichkeitshypothese als Zuordnungsprinzip
2878 hinzutreten; diese definiert erst, wann die Messungszahlen
2879 als Werte derselben Größe anzusehen sind, bestimmt
2880 also erst das, was physikalisch als Eindeutigkeit benutzt
2881 wird. Wenn aber doch schon eine Wahrscheinlichkeitshypothese
2882 dazu benutzt werden muß, dann kann sie auch
2883 eine andere Form haben, als gerade die Eindeutigkeit zu
2884 definieren. Wir mußten deshalb für die geschilderte Erweiterung
2885 des Konstantenbegriffs eine Wahrscheinlichkeitsannahme
2886 hinzunehmen; diese trägt an Stelle des Eindeutigkeitsbegriffs
2887 die Bestimmtheit in die Definition
2888 hinein. Vielleicht liegen in gewissen Annahmen der
2890 Quantentheorie bereits die Ansätze zu einer solchen Erweiterung
2891 des Zuordnungsbegriffs
\litref{27}.
2893 Wir haben für den Beweisgang, der zur Ablehnung der
2894 \name{Kant
}ischen Hypothese der Zuordnungswillkür führte,
2895 den Begriff der eindeutigen Zuordnung benutzen müssen.
2896 Aber wenn wir ihn jetzt selbst in Frage stellen, so verlieren
2897 deshalb unsere Überlegungen noch nicht die Gültigkeit.
2898 Denn vorläufig
\emph{gilt
} dieser Begriff, und wir können
2899 nichts anderes tun, als die Prinzipien der bisherigen Erkenntnis
2900 benutzen. Auch fürchten wir uns nicht vor der
2901 nächsten Erweiterung dieses Begriffs, denn wir wissen,
2902 daß diese
\emph{stetig
} erfolgen muß, und darum wird der alte
2903 Begriff als Näherung weiter gelten und einen hinreichenden
2904 Beweis unserer Ansichten immer noch vollziehen. Außerdem
2905 haben wir für unseren Beweis nicht unmittelbar den
2906 Eindeutigkeitsbegriff, sondern bereits seine Definiertheit
2907 durch eine Wahrscheinlichkeitsfunktion benutzt; es ist
2908 leicht einzusehen, daß sich unser Beweis mit einer materiell
2909 anderen Wahrscheinlichkeitsannahme ebenso führen ließe.
2910 Freilich kann die Methode der stetigen Erweiterung schließlich
2911 zu recht entfernten Prinzipien führen und die näherungsweise
2912 Geltung unseres Beweises in Frage ziehen --
2913 aber wir sind auch weit davon entfernt, zu behaupten,
2914 daß
\emph{unsere
} Resultate
\emph{nun ewig
} gelten sollen, nachdem
2915 wir soeben alle erkenntnistheoretischen Aussagen als induktiv
2918 Geben wir also die Eindeutigkeit als absolute Forderung
2919 auf und nennen sie ebenso ein Zuordnungsprinzip wie
2920 alle anderen, das durch die Analyse des Erkenntnisbegriffs
2921 gewonnen und durch die Möglichkeit der Erkenntnis
2922 induktiv bestätigt wird. Dann bleibt noch die Frage: Ist
2923 nicht der Begriff der
\emph{Zuordnung
} überhaupt jenes allgemeinste
2924 Prinzip, das von der Erfahrung unberührt vor
2925 aller Erkenntnis steht?
2928 Diese Frage verschiebt das Problem nur von den
2929 mathematisch klaren Begriffen in die weniger deutlichen.
2930 Es liegt in der Begrenztheit unseres Sprachschatzes begründet,
2931 daß wir zur Schilderung des Erkenntnisvorgangs
2932 den Begriff der Zuordnung einführten; wir benutzten damit
2933 eine mengentheoretische Analogie. Vorläufig scheint uns
2934 Zuordnung der allgemeinste Begriff zu sein, der das Verhältnis
2935 zwischen Begriffen und Wirklichkeit beschreibt.
2936 Es ist aber durchaus möglich, daß eines Tags für dies
2937 Verhältnis ein allgemeinerer Begriff gefunden wird, für den
2938 unser Zuordnungsbegriff nur eine Spezialisierung bedeutet.
2939 \emph{Es gibt keine allgemeinsten Begriffe
}.
2941 Man muß sich daran gewöhnen, daß erkenntnistheoretische
2942 Aussagen auch dann einen guten Sinn haben, wenn
2943 sie keine Prophezeihungen für die Ewigkeit bedeuten. Alle
2944 Aussagen über eine Zeitdauer tragen induktiven Charakter.
2945 Allerdings will jeder wissenschaftliche Satz eine Geltung
2946 nicht nur für die Gegenwart, sondern auch noch für die
2947 zukünftigen Erfahrungen beanspruchen. Aber das ist
2948 nur in dem Sinne möglich, wie man eine Kurve über das
2949 Ende einer gemessenen Punktreihe hinaus extrapoliert.
2950 Die Geltung ins Endlose zu verlängern, wäre sinnlos.
2952 Wir müssen hier eine grundsätzliche Bemerkung zu
2953 unserer Auffassung der Erkenntnistheorie machen. Es soll,
2954 wenn wir die
\name{Kant
}ische Analyse der Vernunft ablehnen,
2955 nicht bestritten werden, daß die Erfahrung vernunftmäßige
2956 Elemente enthält. Vielmehr sind gerade die Zuordnungsprinzipien
2957 durch die Natur der Vernunft bestimmt, die
2958 Erfahrung vollzieht nur die Auswahl unter allen denkbaren
2959 Prinzipien. Es soll nur bestritten werden, daß sich
2960 die Vernunftkomponente der Erkenntnis unabhängig von
2961 der Erfahrung
\emph{erhält
}. Die Zuordnungsprinzipien bedeuten
2962 die Vernunftkomponente der Erfahrungswissenschaft
2964 in ihrem jeweiligen Stand. Darin liegt ihre grundsätzliche
2965 Bedeutung, und darin unterscheiden sie sich von
2966 jedem Einzelgesetz, auch dem allgemeinsten. Denn das
2967 Einzelgesetz stellt nur eine Anwendung derjenigen begrifflichen
2968 Methoden dar, die im Zuordnungsprinzip festgelegt
2969 sind; durch die prinzipiellen Methoden allein wird definiert,
2970 wie sich Erkenntnis eines Gegenstandes begrifflich vollzieht.
2971 Jede Änderung in den Zuordnungsprinzipien bringt
2972 deshalb eine Änderung des Begriffs vom Ding und Geschehen,
2973 vom Gegenstand der Erkenntnis, mit sich. Während
2974 eine Änderung in den Einzelgesetzen nur eine Änderung
2975 in den Relationen der Einzeldinge erzeugt, bedeutet
2976 die fortschreitende Verallgemeinerung der Zuordnungsprinzipien
2977 eine Entwicklung des
\emph{Gegenstandsbegriffs
}
2978 in der Physik. Und darin unterscheidet sich unsere Auffassung
2979 von der
\name{Kant
}ischen: während bei
\name{Kant
} nur die
2980 Bestimmung des
\emph{Einzelbegriffs
} eine unendliche Aufgabe
2981 ist, soll hier die Ansicht vertreten werden,
\emph{daß auch
2982 unsere Begriffe vom Gegenstand der Wissenschaft
2983 überhaupt, vom Realen und seiner Bestimmbarkeit,
2984 nur einer allmählich fortschreitenden Präzisierung
2985 entgegengehen können
}.
2987 Es soll im folgenden Abschnitt der Versuch gemacht
2988 werden, zu zeigen, wie die Relativitätstheorie diese Begriffe
2989 verschoben hat, denn sie ist eine Theorie der veränderten
2990 Zuordnungsprinzipien, und sie hat in der Tat
2991 zu einem neuen Gegenstandsbegriff geführt. Aber wir
2992 können aus dieser physikalischen Theorie noch eine andere
2993 Lehre für die Erkenntnistheorie ziehen. Wenn das Zuordnungssystem
2994 in seinen begrifflichen Relationen durch
2995 die Vernunft, in der Auswahl seiner Zusammensetzung
2996 aber durch die Erfahrung bestimmt ist, so drückt sich in
2997 seiner Gesamtheit ebensosehr die Natur der Vernunft wie
2999 die Natur des Realen aus; und darum ist auch der Begriff
3000 des physikalischen Gegenstandes ebensosehr durch die Vernunft
3001 wie durch das Reale bestimmt, das er begrifflich
3002 formulieren will. Man kann deshalb nicht, wie
\name{Kant
}
3003 glaubte, im Gegenstandsbegriff eine Komponente abtrennen,
3004 die von der Vernunft als notwendig hingestellt
3005 wird; denn welche Elemente notwendig sind, entscheidet
3006 gerade die Erfahrung. Daß der Gegenstandsbegriff seinen
3007 einen Ursprung in der Vernunft hat, kann vielmehr nur
3008 darin zur Geltung kommen, daß Elemente in ihm enthalten
3009 sind, für die
\emph{keine
} Auswahl vorgeschrieben ist,
3010 die also von der Natur des Realen unabhängig sind; in
3011 der Beliebigkeit dieser Elemente zeigt sich, daß sie lediglich
3012 der Natur der Vernunft ihr Auftreten im Erkenntnisbegriff
3013 verdanken.
\emph{Nicht darin drückt sich der Anteil der
3014 Vernunft aus, daß es unveränderte Elemente des
3015 Zuordnungssystems gibt, sondern darin, daß willkürliche
3016 Elemente im System auftreten.
} Damit
3017 ändert sich allerdings die Formulierung dieses Vernunftanteils
3018 wesentlich gegenüber der
\name{Kant
}ischen; aber gerade
3019 dafür hat die Relativitätstheorie eine Darstellungsweise
3022 Wir hatten oben die Hypothese der Zuordnungswillkür
3023 formuliert, und die Antwort gefunden, daß es implizit
3024 widerspruchsvolle Systeme gibt; aber das soll nicht heißen,
3025 daß nur ein einziges System von Zuordnungsprinzipien da
3026 ist, welches die Zuordnung eindeutig macht. Vielmehr gibt
3027 es mehrere Systeme. Die Tatsache der Gleichberechtigung
3028 drückt sich dabei in der Existenz von Transformationsformeln
3029 aus, die den Übergang von einem System aufs
3030 andere vollziehen; man kann da nicht sagen, daß ein
3031 System dadurch ausgezeichnet sei, daß es der Wirklichkeit
3032 im besonderen Maße angepaßt wäre, denn das einzige
3034 Kriterium dieser Anpassung, die Eindeutigkeit der Zuordnung,
3035 besitzen sie ja alle. Für die Transformation muß
3036 angegeben werden, welche Prinzipien beliebig wählbar sind,
3037 also die unabhängigen Variablen darstellen, und welche
3038 sich, den abhängigen Variablen entsprechend, dabei nach
3039 den Transformationsformeln ändern. So lehrt die Relativitätstheorie,
3040 daß die vier Raum-Zeit-Koordinaten beliebig
3041 wählbar sind, daß aber die zehn metrischen Funktionen
3042 $g_
{\mu\nu}$ nicht beliebig angenommen werden dürfen,
3043 sondern für jede Koordinatenwahl ganz bestimmte Werte
3044 haben. Durch dieses Verfahren werden die subjektiven
3045 Elemente der Erkenntnis ausgeschaltet, und ihr objektiver
3046 Sinn wird unabhängig von den speziellen Zuordnungsprinzipien
3047 formuliert. Aber wie die Invarianz gegenüber den
3048 Transformationen den objektiven Gehalt der Wirklichkeit
3049 charakterisiert, drückt sich in der Beliebigkeit der zulässigen
3050 Systeme die Struktur der Vernunft aus. So ist
3051 es offenbar nicht in dem Charakter der Wirklichkeit begründet,
3052 daß wir sie durch Koordinaten beschreiben,
3053 sondern dies ist die subjektive Form, die es unserer Vernunft
3054 erst möglich macht, die Beschreibung zu vollziehen.
3055 Andererseits liegt aber den metrischen Verhältnissen in der
3056 Natur eine Eigenschaft zugrunde, die unseren Aussagen
3057 hierüber bestimmte Grenzen vorschreibt. Was
\name{Kant
} in
3058 der Idealität von Raum und Zeit behauptete, ist durch
3059 die Relativität der Koordinaten erst exakt formuliert
3060 worden. Aber wir bemerken auch, daß er damit zuviel
3061 behauptet hatte, denn die von der menschlichen Anschauung
3062 vorgegebene Metrik des Raums gehört gerade nicht zu
3063 den zulässigen Systemen. Wäre die Metrik eine rein subjektive
3064 Angelegenheit, so müßte sich auch die euklidische
3065 Metrik für die Physik eignen; dann müßten alle zehn
3066 Funktionen $g_
{\mu\nu}$ beliebig wählbar sein. Aber die
3068 Relativitätstheorie lehrt, daß sie es nur insofern ist, als sie
3069 von der Beliebigkeit der Koordinatenwahl abhängt, und
3070 daß sie von diesen unabhängig eine objektive Eigenschaft
3071 der Wirklichkeit beschreibt. Was an der Metrik subjektiv
3072 ist, drückt sich in der Relativität der metrischen Koeffizienten
3073 für das Punktgebiet aus, und diese ist erst die
3074 Folge der empirisch beobachteten Gleichheit von träger
3075 und schwerer Masse. Es war eben der Fehler der
\name{Kant
}ischen
3076 Methode, über die subjektiven Elemente der Physik
3077 Aussagen zu machen, die an der Erfahrung nicht geprüft
3078 waren. Erst jetzt, nachdem die empirische Physik die
3079 Relativität der Koordinaten bestätigt hat, dürfen wir die
3080 Idealität des Raumes und der Zeit, insofern sie sich als
3081 Beliebigkeit der Koordinatenwahl ausdrückt, als bewiesen
3082 ansehen. Allerdings ist diese Frage noch keineswegs abgeschlossen.
3083 Wenn sich z.\,B. die
\name{Weyl
}sche Verallgemeinerung
3084 als richtig herausstellen sollte, so ist wieder
3085 ein neues subjektives Element in der Metrik aufgewiesen.
3086 Dann enthält auch der Vergleich zweier kleiner Maßstäbe
3087 an verschiedenen Punkten des Raumes keine objektive
3088 Relation mehr, die er bei
\name{Einstein
} trotz der Abhängigkeit
3089 des gemessenen Verhältnisses von der Koordinatenwahl
3090 immer noch enthält, sondern er ist nur noch eine subjektive
3091 Form der Beschreibungsweise, der Stellung der Koordinaten
3092 vergleichbar. Und wir bemerken, daß es ganz entsprechend
3093 der Veränderlichkeit des Gegenstandsbegriffs
3094 ein abschließendes Urteil über den Anteil der Vernunft
3095 an der Erkenntnis nicht gibt, sondern nur eine stufenweise
3096 fortschreitende Bestimmung, und daß die Formulierung
3097 der Erkenntnisse darüber nicht in so unbestimmten Aussagen
3098 wie Idealität des Raumes vollzogen werden kann,
3099 sondern nur in der Aufstellung mathematischer Prinzipien.
3101 Das Verfahren, durch Transformationsformeln den
3103 objektiven Sinn einer physikalischen Aussage von der subjektiven
3104 Form der Beschreibung zu eliminieren, ist, indem
3105 es indirekt diese subjektive Form charakterisiert, an Stelle
3106 der
\name{Kant
}ischen Analyse der Vernunft getreten. Es ist
3107 allerdings ein sehr viel komplizierteres Verfahren als
\name{Kants
}
3108 Versuch einer direkten Formulierung, und die
\name{Kant
}ische
3109 Kategorientafel muß neben dem modernen invariantentheoretischen
3110 Verfahren primitiv erscheinen. Aber indem
3111 es die Erkenntnis von der Struktur der Vernunft befreit,
3112 lehrt es, diese zu schildern; das ist der einzige Weg, der
3113 uns Einblicke in die Erkenntnisfunktion unserer eignen
3119 \Chapter{VIII
}{Der Erkenntnisbegriff der Relativitätstheorie
3120 als Beispiel der Entwicklung des Gegenstandsbegriffes.
}
3123 Wenn wir zu dem Resultat kommen, daß die aprioren
3124 Prinzipien der Erkenntnis nur auf induktivem Wege
3125 bestimmbar sind, und jederzeit durch Erfahrungen bestätigt
3126 oder widerlegt werden können, so bedeutet das
3127 allerdings einen Bruch mit der bisherigen kritischen Philosophie.
3128 Aber wir wollen zeigen, daß sich diese Auffassung
3129 ebensosehr von der empiristischen Philosophie unterscheidet,
3130 die glaubt, alle wissenschaftlichen Sätze in einerlei
3131 Weise mit der Bemerkung
\glqq{}alles ist Erfahrung
\grqq{} abtun
3132 zu können. Diese Philosophie hat den großen Unterschied
3133 nicht gesehen, der zwischen physikalischen Einzelgesetzen
3134 und Zuordnungsprinzipien besteht, und sie ahnt nicht,
3135 daß die letzteren für den
\emph{logischen Aufbau
} der Erkenntnis
3136 eine ganz andere Stellung haben als die ersteren.
3137 In diese Erkenntnis hat sich die Lehre vom Apriori verwandelt:
3138 daß der logische Aufbau der Erkenntnis durch
3139 eine besondere Klasse von Prinzipien bestimmt wird, und
3140 daß eben diese logische Funktion der Klasse eine Sonderstellung
3141 gibt, deren Bedeutung mit der Art der Entdeckung
3142 dieser Prinzipien und ihrer Geltungsdauer nichts zu tun hat.
3144 Wir sehen keinen besseren Weg, diese Sonderstellung
3145 zu veranschaulichen, als indem wir die Veränderung des
3146 \emph{Gegenstandsbegriffs
} beschreiben, die mit der Änderung
3147 der Zuordnungsprinzipien durch die Relativitätstheorie
3151 Die Physik gelangt zu quantitativen Aussagen, indem
3152 sie den Einfluß physikalischer Faktoren auf Längen- und
3153 Zeitbestimmungen untersucht; die Messung von Längen
3154 und Zeiten ist der Ausgangspunkt aller ihrer Quantitätsbestimmungen.
3155 So konstatiert sie das Auftreten von
3156 Gravitationskräften an der Zeit, die ein frei fallender
3157 Körper für das Durchlaufen einzelner Wegstrecken braucht,
3158 oder sie mißt eine Temperaturerhöhung durch die veränderte
3159 Länge eines Quecksilberfadens. Dazu muß definiert
3160 sein, was eine Längen- oder Zeitstrecke ist; die
3161 Physik versteht darunter die Verhältniszahl, welche die
3162 zu messende Strecke mit einer als Einheit festgesetzten
3163 gleichartigen Strecke verbindet. Jedoch benutzte die alte
3164 Physik dabei noch eine wesentliche Voraussetzung: daß
3165 Längen und Zeiten voneinander unabhängig sind, daß die
3166 für ein System definierte synchrone Zeit keinerlei Einfluß
3167 hat auf die Ergebnisse der Längenmessung. Um von den
3168 gemessenen Längen zu verbindenden Relationen zu
3169 kommen, muß ferner noch ein System von Regeln für die
3170 Verbindung von Längen gegeben sein; dazu dienten in
3171 der alten Physik die Sätze der euklidischen Geometrie.
3172 Denken wir uns etwa eine rotierende Kugel; sie erfährt
3173 nach der
\name{Newton
}schen Theorie eine Abplattung. Der
3174 Einfluß der Rotation, also einer physikalischen Ursache,
3175 macht sich in der Änderung der geometrischen Dimensionen
3176 geltend. Trotzdem wird dadurch an den Regeln
3177 der Verbindung der Längen nichts geändert; so gilt auch
3178 auf der abgeplatteten Kugel der Satz, daß das Verhältnis
3179 aus Umfang und Durchmesser eines Kreises (z.\,B. eines
3180 Breitenkreises) gleich $
\pi$ ist, oder der Satz, daß bei genügender
3181 Kleinheit ein Bogenstück zu den Koordinatendifferentialen
3182 in der pythagoräischen Beziehung steht (und
3183 zwar bei ganz beliebig gewählten orthogonalen Koordinaten
3185 für
\emph{alle
} kleinen Bogenstücke). Derartige Voraussetzungen
3186 mußte die Physik machen, wenn sie überhaupt Änderungen
3187 von Längen und Zeiten messen wollte. Es war eine notwendige
3188 Eigenschaft des physikalischen Körpers, daß er
3189 sich diesen allgemeinen Relationen fügte; nur unter dieser
3190 Voraussetzung konnte ein Etwas als physikalisches Ding
3191 gedacht werden, und quantitative Erkenntnis gewinnen,
3192 hieß weiter nichts, als diese allgemeinen Regeln auf die
3193 Wirklichkeit anwenden und nach ihnen die Messungszahlen
3194 in ein System ordnen. Diese Regeln gehörten zum
\emph{Gegenstandsbegriff
3197 Als die Relativitätstheorie diese Auffassung änderte,
3198 entstanden ernste begriffliche Schwierigkeiten. Denn diese
3199 Theorie lehrte, daß die gemessenen Längen und Zeiten
3200 keine absolute Geltung besitzen, sondern noch ein akzidentelles
3201 Moment enthalten: das gewählte Bezugssystem, und
3202 daß ein bewegter Körper gegenüber dem ruhenden eine
3203 Verkürzung erfährt. Man sah darin einen Widerspruch
3204 zum Kausalitätsprinzip, denn man konnte keine Ursache
3205 für diese Verkürzung angeben; man stand plötzlich vor
3206 einer physikalischen Veränderung, für deren Verursachung
3207 alle Vorstellungen von durch die Bewegung erzeugten
3208 Kräften versagten. Noch in allerletzter Zeit hat
\name{Helge
3209 Holst
}\litref{28} den Versuch gemacht, das Kausalprinzip dadurch
3210 zu retten, daß er entgegen der
\name{Einstein
}schen Relativität
3211 ein bevorzugtes Koordinatensystem aufzeigt, in dem die
3212 gemessenen Größen allein einen objektiven Sinn haben
3213 sollen, während die Lorentzverkürzung als verursacht durch
3214 die Bewegung relativ zu diesem System erscheint. Die
3215 \name{Einstein
}sche Relativität erscheint dabei als eine elegante
3216 Transformationsmöglichkeit, die auf einem großen Zufall
3219 Wir müssen bemerken, daß die scheinbare
3221 Schwierigkeit nicht durch die Aufrechterhaltung der Kausalforderung
3222 entsteht, sondern durch die Aufrechterhaltung eines
3223 Gegenstandsbegriffs, den die Relativitätstheorie bereits
3224 überwunden hatte. Für die Längenverkürzung ist eine
3225 konstatierbare Ursache vorhanden: die Relativbewegung
3226 der beiden Körper. Allerdings kann man, je nachdem
3227 man das Bezugssystem mit dem einen oder dem anderen
3228 Körper ruhen läßt, sowohl den einen wie den anderen als
3229 kürzer bezeichnen. Wenn man aber darin einen Widerspruch
3230 zum Kausalprinzip sieht, weil dieses fordern müßte,
3231 welcher der Körper die Verkürzung
\glqq{}wirklich
\grqq{} erfährt,
3232 so setzt man damit voraus, daß die Länge eine absolute
3233 Eigenschaft des Körpers ist; aber
\name{Einstein
} hatte gerade
3234 gezeigt, daß die Länge nur in bezug auf ein bestimmtes
3235 Koordinatensystem überhaupt eine definierte Größe ist.
3236 Zwischen einem bewegten Körper und einem Maßstab
3237 (der natürlich ebenfalls als Körper gedacht werden muß)
3238 besteht eine Relation, aber diese drückt sich je nach dem
3239 gewählten Bezugssystem bald als Ruhlänge, bald als
3240 Lorentzverkürzung oder -verlängerung aus. Das, was wir
3241 als Länge messen, ist nicht die Relation zwischen den
3242 Körpern, sondern nur ihre Projektion in ein Koordinatensystem.
3243 Allerdings können wir sie
\emph{formulieren
} nur in
3244 der Sprache eines Koordinatensystems, aber indem wir
3245 gleichzeitig die Transformationsformeln auf jedes andere
3246 System angeben, erhält unsere Aussage einen unabhängigen
3247 Sinn. Darin besteht die neue Methode der Relativitätstheorie:
3248 daß sie durch die Angabe der Transformationsformeln
3249 den subjektiven Aussagen einen objektiven Sinn
3250 verleiht. Damit verschiebt sie den Begriff der realen
3251 Relation. Konstatierbar, und darum auch objektiv zu
3252 nennen, ist immer nur die in irgend einem System gemessene
3253 Länge. Aber sie ist nur
\emph{ein
} Ausdruck der realen Relation.
3255 Das, was früher als geometrische Länge angesehen wurde,
3256 ist keine absolute Eigenschaft des Körpers, sondern gleichsam
3257 nur eine Spiegelung der zugrundeliegenden Eigenschaft
3258 in die Darstellung eines einzigen Koordinatensystems.
3259 Das soll keine Versetzung des Realen in ein
3260 Ding an sich bedeuten, denn wir können ja die reale
3261 Relation eindeutig formulieren, indem wir die Länge in
3262 \emph{einem
} Koordinatensystem und außerdem die Transformationsformeln
3263 angeben; aber wir müssen uns daran
3264 gewöhnen, daß man die reale Relation nicht einfach als
3265 eine Verhältniszahl formulieren kann.
3269 Wir bemerken die Veränderung des Gegenstandsbegriffs:
3270 was früher eine Eigenschaft des
\emph{Dinges
} war,
3271 wird jetzt zu einer Resultierenden aus Ding und Bezugssystem;
3272 nur indem wir die Transformationsformeln angeben,
3273 eliminieren wir den Einfluß des Bezugssystems,
3274 und allein auf diesem Wege kommen wir zu einer Bestimmung
3279 Bedeutet insofern der
\name{Einstein
}sche Längenbegriff
3280 eine Verengerung, weil er nur eine Seite der zugrundeliegenden
3281 realen Relation formuliert, so erhält er doch im
3282 anderen Sinne durch die Relativitätstheorie eine wesentliche
3283 Erweiterung. Denn weil der Bewegungszustand der
3284 Körper ihre reale Länge ändert, wird die Länge umgekehrt
3285 zu einem Ausdruck dieses Bewegungszustandes. Anstatt
3286 zu sagen: die zwei Körper bewegen sich gegeneinander,
3287 kann ich auch sagen: der eine erfährt, vom anderen gesehen,
3288 eine Lorentzverkürzung. Beide Aussagen sind nur ein
3289 verschiedener Ausdruck für ein und dieselbe zugrundeliegende
3290 Tatsache. Und wir bemerken wieder, daß sich
3291 eine physikalische Tatsache nicht immer durch eine einfache
3292 kinematische Aussage ausdrücken läßt, sondern erst
3294 durch zwei verschiedene Aussagen und ihre Transformation
3295 ineinander hinreichend beschrieben wird.
3297 Diese erweiterte Funktion der Metrik, die sie zur
3298 Charakterisierung eines
\emph{physikalischen Zustandes
}
3299 macht, ist in der
\emph{allgemeinen
} Relativitätstheorie in noch
3300 viel höherem Grade ausgebildet worden. Nach dieser Theorie
3301 führt nicht nur die gleichförmige, sondern auch die beschleunigte
3302 Bewegung zur Änderung der metrischen Verhältnisse,
3303 und deshalb läßt sich umgekehrt auch der Zustand
3304 der beschleunigten Bewegung durch metrische Aussagen
3305 charakterisieren. Aber das führt zu Konsequenzen,
3306 die die spezielle Relativitätstheorie noch nicht ahnen ließ.
3307 Denn die beschleunigte Bewegung ist mit dem Auftreten
3308 von Gravitationskräften verbunden, und deshalb wird
3309 nach dieser Erweiterung auch das Auftreten physikalischer
3310 Kräfte durch eine metrische Aussage ausgedrückt. Der
3311 Begriff der Kraft, der der alten Physik so viel logische
3312 Schwierigkeiten gemacht hatte, erscheint plötzlich in ganz
3313 neuem Licht: er ist nur die eine anthropomorphe Seite
3314 eines realen Zustands, dessen andere Seite eine spezielle
3315 Form der Metrik ist. Allerdings läßt sich bei einer solchen
3316 Erweiterung der metrischen Funktion ihre einfache euklidische
3317 Form nicht mehr aufrecht erhalten, und nur die
3318 \name{Riemann
}sche analytische Metrik ist imstande, solchen
3319 Umfang der Bedeutung in sich aufzunehmen. Anstatt zu
3320 sagen: ein Himmelskörper nähert sich einem Gravitationsfeld,
3321 kann ich auch sagen: die metrischen Dimensionen
3322 dieses Körpers werden krumm. Wir sind gewöhnt, das
3323 Auftreten von Kräften an dem Widerstande zu spüren,
3324 den sie der Bewegung entgegensetzen. Wir können ebensogut
3325 sagen: das Reale, was wir auch Kraftfeld nennen,
3326 drückt sich in der Tatsache aus, daß die geradlinige Bewegung
3327 unmöglich ist. Denn das ist ja der Sinn der
3329 \name{Einstein-Riemann
}schen Raumkrümmung, daß sie die
3330 Existenz von geraden Linien unmöglich macht. Das
\glqq{}unmöglich
\grqq{}
3331 ist hier nicht
\emph{technisch
} aufzufassen, etwa so,
3332 als ob nur jede technische Realisierung einer geraden Linie
3333 durch physikalische Stäbe unmöglich wäre, sondern
\emph{begrifflich
};
3334 auch die
\emph{gedachte
} gerade Linie ist im
\name{Riemann
}schen
3335 Raum unmöglich. In seiner Anwendung auf
3336 die Physik bedeutet dies, daß es keinen Sinn hat, nach
3337 der Annäherung einer geraden Linie durch physikalische
3338 Stäbe zu suchen; auch die
\emph{Annäherung
} ist unmöglich.
3339 Auch die alte Physik führt zu dem Resultat, daß ein
3340 Himmelskörper, der in ein Gravitationsfeld eintritt, eine
3341 krummlinige Bahn annimmt. Aber die Relativitätstheorie
3342 behauptet vielmehr: daß es
\emph{überhaupt keinen Sinn
}
3343 hat, in einem Gravitationsfeld von geraden Bahnen zu
3344 sprechen. Ihre Aussage ist physikalisch von der alten
3345 Auffassung durchaus verschieden. Die Bahn der
\name{Einstein
}schen
3346 Theorie verhält sich zur
\name{Newton
}schen Bahn
3347 wie eine Raumkurve zu einer ebenen Kurve, die
\name{Einstein
}sche
3348 Krümmung ist von höherer Ordnung als die
\name{Newton
}sche.
3349 Daß eine so tiefe Änderung der Metrik erfolgen
3350 mußte, hängt mit der Erweiterung ihrer Bedeutung zusammen,
3351 die sie zum Ausdruck eines physikalischen Zustands
3354 Die alte Auffassung, daß die metrischen Verhältnisse
3355 eines Körpers -- die Art, wie sich seine Größe und Länge,
3356 der Winkel seiner Kanten, die Krümmung seiner Flächen
3357 aus Messungsdaten berechnen -- von der Natur unabhängig
3358 seien, läßt sich nicht mehr aufrecht erhalten. Diese
3359 metrischen Regeln sind abhängig geworden von der gesamten
3360 umgebenden Körperwelt. Was man früher ein
3361 Rechenverfahren der Vernunft genannt hatte, ist jetzt eine
3362 spezielle Eigenschaft des Dinges und seiner Einbettung in
3364 die Gesamtheit der Körper.
\emph{Die Metrik ist kein Zuordnungsaxiom
3365 mehr, sondern ein Verknüpfungsaxiom
3366 geworden.
} Darin liegt eine noch viel tiefere Verschiebung
3367 des Begriffs vom Realen, als sie die spezielle
3368 Relativitätstheorie gelehrt hatte. Wir sind gewöhnt, die
3369 Materie aufzufassen als etwas Hartes, Festes, das wir mit
3370 dem Tastsinn als Widerstand fühlen. Auf diesem Begriff
3371 der Materie beruhen alle Theorien einer mechanischen
3372 Welterklärung, und es ist bezeichnend, daß in ihnen immer
3373 wieder der Versuch gemacht wurde, den Zusammenstoß
3374 fester Körper als Urbild jeder Kraftwirkung durchzuführen.
3375 Man muß mit diesem Vorbild endgültig gebrochen haben,
3376 wenn man den Sinn der Relativitätstheorie erfassen will.
3377 Was der Physiker seinen Beobachtungen zugrunde legt,
3378 sind Messungen von Längen und Zeiten, und keine Tastwiderstände.
3379 Darum kann sich auch nur in der Längen- und
3380 Zeitmessung die Anwesenheit von Materie ausdrücken.
3381 Daß etwas Reales, eine Substanz, da ist, drückt sich
3382 physikalisch in der speziellen Form der Verbindung dieser
3383 Längen und Zeiten, in der Metrik aus; real ist das, was
3384 durch die Raumkrümmung beschrieben wird. Und wir
3385 bemerken abermals eine neue Methode der Beschreibung:
3386 das Reale wird nicht mehr durch ein
\emph{Ding
} beschrieben,
3387 sondern durch eine Reihe von Relationen zwischen den
3388 geometrischen Dimensionen. Gewiß enthält die Metrik
3389 noch ein subjektives Element, und je nach der Wahl des
3390 Bezugssystems werden auch die metrischen Koeffizienten
3391 verschieden sein; diese Unbestimmtheit gilt auch noch
3392 im Gravitationsfeld. Aber es bestehen Abhängigkeitsrelationen
3393 zwischen den metrischen Koeffizienten, und
3394 wenn man
4 von ihnen für den ganzen Raum beliebig
3395 vorgibt, sind die anderen
6 durch Transformationsformeln
3396 bestimmt. In dieser einschränkenden Bedingung drückt
3398 sich die Anwesenheit von Materie aus; dies ist die begriffliche
3399 Form, das materiell Seiende zu definieren. Im leeren
3400 Raum würden die einschränkenden Bedingungen fortfallen;
3401 aber damit wird auch die Metrik unbestimmt; es hat keinen
3402 Sinn, von Längenbeziehungen im leeren Raum zu reden.
3403 Nur die Körper haben Längen und Breiten und Höhen --
3404 aber dann muß sich in den metrischen Verhältnissen auch
3405 der Zustand der Körper ausdrücken.
3409 Damit ist der alte auch noch von
\name{Kant
} benutzte
3410 Begriff der Substanz aufgegeben, nach dem die Substanz
3411 ein metaphysischer Urgrund der Dinge war, von dem man
3412 immer nur die Veränderungen beobachten konnte. Zwischen
3413 dem Ausspruch des
\name{Thales von Milet
}, daß das Wasser
3414 der Urgrund aller Dinge sei, und diesem alten Substanzbegriff
3415 besteht erkenntnistheoretisch genommen gar kein
3416 Unterschied, nur daß an Stelle des Wassers eine spätere
3417 Physik den Wasserstoff oder das Heliumatom oder das
3418 Elektron setzte. Die fortschreitenden physikalischen Entdeckungen
3419 konnten nicht den erkenntnistheoretischen Begriff,
3420 nur seine spezielle Ausfüllung ändern. Erst die
3421 \name{Einstein
}sche Änderung der
\emph{Zuordnungsprinzipien
}
3422 ging auf den
\emph{Begriff
} des Seienden. An diese Theorie
3423 darf man nicht mit der Frage herantreten: Welches ist
3424 denn nun eigentlich das Seiende? Ist es das Elektron?
3425 Ist es die Strahlung? Diese Fragestellung schließt den
3426 alten Substanzbegriff ein, und erwartet nur seine neue
3427 Ausfüllung. Daß etwas
\emph{ist
}, drückt sich in den Abhängigkeitsrelationen
3428 zwischen den metrischen Koeffizienten aus;
3429 da wir diese durch Messung feststellen können -- und
\emph{nur
}
3430 deswegen -- ist das Seiende für uns konstatierbar. Daß
3431 die Metrik viel mehr ist als eine mathematische Ausmessung
3432 der Körper, daß sie die Form ist, den Körper als Element
3434 in der materiellen Welt zu beschreiben -- das ist der Sinn
3435 der allgemeinen Relativitätstheorie
\Footnote{f
}
3436 {Es ist kein Widerspruch hierzu, wenn in der physikalischen Praxis
3437 immer noch der alte Substanzbegriff benutzt wird. Neuerdings hat
3438 \name{Rutherford
} eine Theorie entwickelt, in der er über den Zerfall des
3439 positiven Stickstoffkerns in Wasserstoff- und Heliumkerne berichtet.
3440 Diese überaus fruchtbare physikalische Entdeckung darf den alten Substanzbegriff
3441 voraussetzen, weil dieser sich mit hinreichender Näherung
3442 für die Beschreibung der Wirklichkeit eignet, und
\name{Rutherfords
} Arbeiten
3443 schließen nicht aus, daß man sich den inneren Aufbau der Elektronen
3444 im
\name{Einstein
}schen Sinne denkt. Diese Fortdauer alter Begriffe für die
3445 wissenschaftliche Praxis dürfen wir einem bekannten Fall der Astronomie
3446 vergleichen: Obwohl man seit Kopernikus weiß, daß die Erde nicht im
3447 Mittelpunkt des kugelförmig und rotierend gedachten Himmelsgewölbes
3448 steht, dient diese Auffassung heute noch als Grundlage der astronomischen
3451 Es ist nur eine Konsequenz dieser Auffassung, wenn
3452 die Grenzen zwischen materiellem Körper und Umgebung
3453 nicht scharf definiert sind. Der Raum ist ausgefüllt von
3454 dem Feld, das seine Metrik bestimmt; es sind nur Verdichtungen
3455 dieses Feldes, was wir bisher als Materie bezeichneten.
3456 Es hat keinen Sinn, von einer Wanderung
3457 materieller Teile als einem Transport von Dingen zu reden;
3458 was stattfindet, ist ein fortschreitender Verdichtungsprozeß,
3459 der eher der Wanderung einer Wasserwelle verglichen
3460 werden muß
\Footnote{g
}
3461 {Allerdings nur als eine grobe Analogie. Denn man pflegt sonst
3462 umgekehrt den
\glqq{}scheinbaren
\grqq{} Lauf einer Wasserwelle auf die
\glqq{}wirkliche
\grqq{}
3463 Hin- und Herbewegung der Wasserteilchen zurückzuführen. Einzelne
3464 Teilchen als Träger des Feldzustandes gibt es aber nicht. Vgl. für diese
3465 Auffassung der Materie auch die in diesem Punkt erkenntnislogisch sehr
3466 tiefgehenden Ausführungen bei
\name{Weyl
},
\Anmerkung{21}, S.~
162.
}.
3467 Der Begriff des Einzeldings verliert
3468 jede Bestimmtheit. Man kann beliebig abgegrenzte Gebiete
3469 des Feldes herausgreifend betrachten, aber sie sind nicht
3470 anders zu charakterisieren als durch die speziellen Werte
3472 allgemeiner Raum-Zeit-Funktionen in diesem Gebiet. Wie
3473 ein Differentialgebiet einer analytischen Funktion im
3474 komplexen Bereich den Verlauf der Funktion für den
3475 ganzen unendlichen Bereich charakterisiert, so charakterisiert
3476 auch jedes Teilgebiet das gesamte Feld, und man
3477 kann seine metrischen Bestimmungen nicht angeben, ohne
3478 zugleich das gesamte Feld mit zu beschreiben. So löst
3479 sich das Einzelding in den Begriff des Feldes auf, und mit
3480 ihm verschwinden die Kräfte zwischen den Dingen; an
3481 Stelle der
\emph{Physik der Kräfte und Dinge
} tritt die
3482 \emph{Physik der Feldzustände
}.
3484 Wir geben diese Schilderung des Gegenstandsbegriffs
3485 der Relativitätstheorie -- die keineswegs den Anspruch
3486 macht, den erkenntnislogischen Gehalt dieser Theorie zu
3487 erschöpfen -- um die Bedeutung konstitutiver Prinzipien
3488 zu zeigen. Im Gegensatz zu den Einzelgesetzen sagen sie
3489 nicht,
\emph{was
} im einzelnen Fall erkannt wird, sondern
\emph{wie
}
3490 erkannt wird, sie definieren das Erkennbare, sie sagen,
3491 was Erkenntnis ihrem logischen Sinne nach bedeutet.
3492 Insofern sind sie die Antwort auf die kritische Frage: wie
3493 ist Erkenntnis möglich? Denn indem sie definieren, was
3494 Erkenntnis ist, zeigen sie die Ordnungsregeln, nach denen
3495 sich der Erkenntnisvorgang vollzieht, und nennen die
3496 Bedingungen, deren logische Befolgung zu Erkenntnissen
3497 führt; in diesem logischen Sinne ist das
\glqq{}möglich
\grqq{} jener
3498 Frage zu verstehen. Und wir begreifen, daß die heutigen
3499 Bedingungen der Erkenntnis nicht mehr dieselben sein
3500 können wie bei
\name{Kant
}:
\emph{weil sich der Begriff der Erkenntnis
3501 geändert hat, und der veränderte Gegenstand
3502 der physikalischen Erkenntnis auch andere
3503 logische Bedingungen voraussetzt
}. Diese Änderung
3504 konnte nur in Berührung mit der Erfahrung erfolgen, und
3505 daher sind auch die Prinzipien der Erkenntnis durch die
3507 Erfahrung bestimmt. Aber ihre Geltung beruht nicht nur
3508 auf dem Urteil einzelner Erfahrungen, sondern auf der
3509 Möglichkeit des ganzen Systems der Erkenntnis: das ist
3510 der Sinn des Apriori. Daß wir die Wirklichkeit durch
3511 metrische Relationen zwischen vier Koordinaten beschreiben
3512 können, ist so gewiss wie die Geltung der gesamten
3513 Physik; nur die spezielle Gestalt dieser Regeln
3514 ist zu einem Problem der empirischen Physik geworden.
3515 Dieses Prinzip bildet die Basis für die begriffliche Auffassung
3516 der physikalischen Wirklichkeit. Jede bisherige
3517 physikalische Erfahrung, die überhaupt gemacht wurde,
3518 hat das Prinzip bestätigt. Aber das schließt nicht aus,
3519 daß sich eines Tags Erfahrungen einstellen, die wieder
3520 zu einer stetigen Erweiterung zwingen -- dann wird die
3521 Physik abermals ihren Gegenstandsbegriff ändern müssen,
3522 und der Erkenntnis neue Prinzipien voranstellen. Apriori
3523 bedeutet: vor der Erkenntnis, aber nicht: für alle Zeit,
3524 und nicht: unabhängig von der Erfahrung.
3530 Wir wollen diese Untersuchung nicht beschließen, ohne
3531 dasjenige Problem gestreift zu haben, das gewöhnlich in
3532 den Brennpunkt der Relativitätsdiskussion gestellt wird:
3533 die Vorstellbarkeit des
\name{Riemann
}schen Raums. Wir
3534 müssen allerdings betonen, daß die Frage der
\emph{Evidenz
}
3535 apriorer Prinzipien in die Psychologie gehört, und es ist
3536 sicherlich ein psychologisches Problem, weshalb der euklidische
3537 Raum jene eigentümliche Evidenz besitzt, die zu
3538 einer anschaulichen Selbstverständlichkeit seiner sämtlichen
3539 Axiome führt. Mit dem Schlagwort
\glqq{}Gewöhnung
\grqq{}
3540 läßt sich dies nicht abtun, denn es handelt sich hier gar
3542 nicht um ausgefahrene Assoziationsketten, sondern um
3543 eine ganz besondere psychische Funktion, und gerade weil
3544 der Sehraum Verhältnisse aufweist, die von den euklidischen
3545 abweichen, ist jene Evidenz um so merkwürdiger, die uns
3546 etwa die Gerade als kürzeste Verbindung zweier Punkte
3547 erkennen läßt. Dieses psychologische Phänomen ist noch
3548 vollkommen unerklärt.
3550 Aber wir können, ausgehend von dem entwickelten
3551 Erkenntnisbegriff, einige grundsätzliche Bemerkungen zu
3552 dem Problem machen. Wir konnten nachweisen, daß nach
3553 diesem Erkenntnisbegriff der Metrik eine ganz andere
3554 Funktion zukommt als bisher, daß sie nicht Abbilder der
3555 Körper liefert im Sinne einer geometrischen Ähnlichkeit,
3556 sondern der Ausdruck ihres physikalischen Zustands ist.
3557 Es scheint mir psychologisch einleuchtend zu sein, daß wir
3558 für diesen viel tiefergehenden Zweck die in uns liegenden
3559 geometrischen Bilder nicht verwenden können. Was uns
3560 an die euklidische Geometrie so fesselt, und sie so zwingend
3561 erscheinen läßt, ist die Vorstellung, daß wir mit dieser
3562 Geometrie zu Bildern der wirklichen Dinge kommen
3563 können. Wenn es aber klar geworden ist, daß Erkenntnis
3564 etwas völlig anderes ist, als die Herstellung solcher Bilder,
3565 daß die metrische Relation einen ganz anderen Sinn hat,
3566 als die Abbildung in ähnliche Figuren, dann werden wir
3567 auch nicht mehr den Versuch machen, die euklidische
3568 Geometrie auf die Wirklichkeit als notwendige Form anzuwenden.
3570 Als im
15. Jahrhundert die Ansicht sich durchsetzte,
3571 daß die Erde eine Kugel sei, stieß sie zuerst auf großen
3572 Widerspruch, und gewiß ist ihr der Einwand gemacht
3573 worden: es ist anschaulich unvorstellbar. Auch brauchte
3574 man sich ja nur in der räumlichen Umgebung umzusehen,
3575 um festzustellen, daß die Erde
\emph{keine
} Kugel sei. Später
3577 hat man diesen Einwand aufgegeben, und heute ist es
3578 jedem Schulkind selbstverständlich, daß die Erde eine
3579 Kugel ist. Dabei war der Einwand in Wahrheit vollkommen
3580 richtig. Es ist auch gar nicht
\emph{vorstellbar
}, daß
3581 die Erde eine Kugel ist. Wenn wir den Versuch machen,
3582 diese Vorstellung zu vollziehen, so denken wir uns sogleich
3583 eine kleine Kugel, und darauf, mit den Füßen an der Oberfläche,
3584 mit dem Kopf hinausragend, einen Menschen. Aber
3585 in den Dimensionen der Erde können wir diese Vorstellung
3586 gar nicht vollziehen; jene Merkwürdigkeit, daß die Kugel
3587 gleichzeitig für Gebiete unserer Sehweite einer Ebene
3588 gleichwertig ist, die doch erst die sämtlichen beobachteten
3589 Erscheinungen auf der Erde erklärt, können wir nicht
3590 vorstellen. Eine Kugel von der geringen Krümmung der
3591 Erdoberfläche liegt außerhalb unserer Vorstellungsmöglichkeit.
3592 Wir können diese Kugel nur durch eine Reihe sehr
3593 kümmerlicher Analogien irgendwie begreiflich machen.
3594 Wenn wir jetzt behaupten, wir konnten die Erde als Kugel
3595 vorstellen, so heißt das in Wahrheit: wir haben uns daran
3596 gewöhnt, auf die anschauliche Vorstellbarkeit zu verzichten,
3597 und uns mit einer Reihe von Analogien zu begnügen.
3599 Genau so, glaube ich, steht es mit dem
\name{Riemann
}schen
3600 Raum. Es wird von der Relativitätstheorie gar nicht
3601 behauptet, daß das, was früher das geometrische Bild der
3602 Dinge war, nun plötzlich im
\name{Riemann
}schen Sinne krumm
3603 ist. Vielmehr wird behauptet, daß es ein solches Abbild
3604 \emph{nicht gibt
}, und daß mit den Relationen der Metrik etwas
3605 ganz anderes ausgedrückt wird, als eine Wiederholung des
3606 Gegenstandes. Daß für die Charakterisierung eines physikalischen
3607 Zustandes die in uns liegenden geometrischen
3608 Bilder nicht ausreichen, erscheint eigentlich selbstverständlich.
3609 Wir brauchen uns nur daran zu gewöhnen,
3611 nicht daß die Bilder falsch seien, aber daß sie auf die
3612 wirklichen Dinge nicht angewandt werden können -- dann
3613 haben wir das gleiche vollzogen, wie bei der sogenannten
3614 Vorstellbarkeit der Erdkugel, nämlich auf die anschauliche
3615 Vorstellbarkeit endgültig verzichtet. Dann werden wir uns
3616 mit Analogien begnügen, wie der sehr schönen Analogie
3617 von dem zweidimensional denkenden Wesen auf der Kugelfläche,
3618 und glauben, daß sie die Physik vorstellbar machen.
3620 Es muß Aufgabe der Psychologie bleiben, zu erklären,
3621 warum wir die Bilder und Analogien für die Erkenntnis
3622 so nötig haben, daß wir ohne sie das begriffliche Erfassen
3623 gar nicht vollziehen können. Aufgabe der Erkenntnistheorie
3624 ist es, zu erklären, worin die Erkenntnis besteht;
3625 daß wir dies durch eine Analyse der positiven Erkenntnisse
3626 tun müssen, ohne Rücksicht auf die Bilder und Analogien,
3627 glaubt die vorliegende Untersuchung aufgezeigt zu haben.
3632 \chapter{Literarische Anmerkungen.
}
3636 \pagelink{S.
}{3}.
\name{Poincaré
} hat diese Ansicht vertreten. Vgl. Wissenschaft und
3637 Hypothese, Teubner
1906, S.
49--
52. Es ist bezeichnend, daß er für
3638 seine Äquivalenzbeweise die
\name{Riemann
}sche Geometrie von vornherein
3639 ausschließt, weil sie die Verschiebung eines Körpers ohne Formänderung
3640 nicht gestattet. Hätte er geahnt, daß gerade diese Geometrie von der
3641 Physik einmal aufgegriffen würde, so hätte er die Willkürlichkeit der
3642 Geometrie nicht behaupten können.
3645 \pagelink{S.
}{4}. Ich hatte es nicht für nötig gehalten, auf die gelegentlich
3646 auftauchenden Ansichten, daß die
\name{Einstein
}sche Raumlehre sich mit der
3647 \name{Kant
}ischen vereinen ließe, näher einzugehen; denn unabhängig davon,
3648 ob man
\name{Kant
} oder
\name{Einstein
} recht gibt, läßt sich der
\emph{Widerspruch
}
3649 ihrer Lehren deutlich feststellen; aber ich finde zu meiner großen Verwunderung,
3650 daß auch heute noch aus den Kreisen der Kantgesellschaft
3651 die Behauptung aufgestellt wird, die Relativitätstheorie ließe die
3652 \name{Kant
}ische Raumlehre völlig unberührt. E.
\name{Sellien
} schreibt in
\glqq{}Die
3653 erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
\grqq{}, Kantstudien,
3654 Ergänzungsheft
48,
1919:
\glqq{}Da die Geometrie sich ihrer Natur nach auf
3655 die
\glqq{}reine
\grqq{} Anschauung des Raums bezieht, so kann die Erfahrung sie
3656 überhaupt nicht beeinflussen. Umgekehrt, die Erfahrung wird erst
3657 möglich durch die Geometrie. Damit aber wird der Relativitätstheorie
3658 die Berechtigung genommen zu behaupten, die
\glqq{}wahre
\grqq{} Geometrie ist
3659 die nichteuklidische. Sie darf höchstens sagen: Die Naturgesetze können
3660 bequem in sehr allgemeiner Form ausgesprochen werden, wenn wir nichteuklidische
3661 Maßbestimmungen zugrunde legen.
\grqq{} Leider übersieht
\name{Sellien
}
3662 nur eines: wenn der Raum nichteuklidisch im
\name{Einstein
}schen
3663 Sinne ist, dann ist es durch keine Koordinatentransformation möglich,
3664 ihn euklidisch darzustellen. Der Übergang zur euklidischen Geometrie
3665 würde den Übergang zu einer andern Physik bedeuten, die physikalischen
3666 Gesetze würden dann materiell anders lauten, und
\emph{eine
} Physik kann
3667 nur richtig sein. Es gibt hier also nur ein entweder - oder, und man
3668 versteht nicht, warum
\name{Sellien
} nicht die Relativitätstheorie als
\emph{falsch
}
3669 bezeichnet, wenn er doch an
\name{Kant
} festhält. Befremdend erscheint auch
3670 die Ansicht, daß die Relativitätstheorie aus Bequemlichkeitsgründen
3671 von den Physikern erfunden worden sei; ich finde, daß die alte
\name{Newton
}sche
3672 Theorie viel bequemer war. Wenn
\name{Sellien
} aber weiterhin
3673 behauptet, der
\name{Einstein
}sche Raum sei ein anderer als der von
\name{Kant
}
3674 gemeinte, so stellt er sich damit in Widerspruch zu
\name{Kant
}. Freilich läßt
3675 es sich durch keine Erfahrung beweisen, daß ein Raum, den ich mir als
3676 bloß fingiertes Gebilde euklidisch vorstelle, nichteuklidisch sei. Aber
3677 \name{Kants
} Raum ist gerade wie
\name{Einsteins
} Raum derjenige, in dem die
3678 Dinge der Erfahrung, das sind die Gegenstände der
\emph{Physik
}, lokalisiert
3679 werden. Darin liegt die erkenntnistheoretische Bedeutung der
\name{Kant
}ischen
3680 Lehre, und ihre Unterscheidung von metaphysischer Spekulation
3681 über anschauliche Hirngespinste.
3685 \pagelink{S.
}{4}. Es liegt bisher keine Darstellung der Relativitätstheorie vor,
3686 in der diese Zusammenhänge mit hinreichender Schärfe formuliert sind;
3687 denn allen bisherigen Darstellungen kommt es mehr darauf an, zu überzeugen,
3688 als zu axiomatisieren. Am nächsten kommt diesem Ziel, in einer
3689 glücklichen Verbindung von Systematik des Aufbaus und Anschaulichkeit
3690 der Prinzipien, die Darstellung von
\name{Erwin Freundlich
} (Die Grundlagen
3691 der
\name{Einstein
}schen Gravitationstheorie, Verlag von Julius Springer
3692 1920.
4.~Aufl.). In dieser Schrift wird mit großer Klarheit die Unterscheidung
3693 von prinzipiellen Forderungen und speziellen Erfahrungen
3694 durchgeführt. Es kann deshalb für die physikalische Begründung der
3695 Abschnitte
\chapref{II
} und
\chapref{III
} dieser Untersuchung auf die Schrift
\name{Freundlichs
},
3696 besonders auch auf die Anmerkungen darin, hingewiesen werden.
3698 Als eine gute Veranschaulichung des physikalischen Inhalts der
3699 Theorie sei auch die Schrift von
\name{Moritz Schlick
}, Raum und Zeit in der
3700 gegenwärtigen Physik,
3.~Aufl., Verlag von Julius Springer
1920, genannt.
3703 \pagelink{S.
}{6}. Vgl. zu dieser Auffassung des Apriori-Begriffes
\Anmerkung{%
3707 \pagelink{S.
}{9}. A.
\name{Einstein
}. Zur Elektrodynamik bewegter Körper,
3708 Ann. d. Phys.
17,
1905, S.~
891.
3711 \pagelink{S.
}{13}. Wir müssen diesen Einwand auch der
\name{Natorp
}schen Deutung
3712 der speziellen Relativitätstheorie machen, die er in den
\glqq{}Logischen Grundlagen
3713 der exakten Wissenschaften
\grqq{}, Teubner
1910, S.~
402, gibt. Er hat
3714 nicht bemerkt, daß die Relativitätstheorie die Lichtgeschwindigkeit als
3715 prinzipielle Grenze festsetzt, und glaubt, daß sie diese Geschwindigkeit
3716 nur als vorläufig erreichbaren Höchstwert ansieht. Darum kann auch
3717 \name{Natorps
} Versuch, die absolute Zeit zu retten und die Widersprüche
3718 auf die Unmöglichkeit ihrer
\glqq{}empirischen Erfüllung
\grqq{} zu schieben, nicht
3719 als gelungen betrachtet werden.
3723 \pagelink{S.
}{21}.
\name{A. Einstein
}, Die Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie.
3724 Ann. d. Phys.
1916, S.~
777.
3727 \pagelink{S.
}{24}.
\name{Einstein
}, a.~a.~O. S.~
774. Vgl. auch die sehr geschickte Darstellung
3728 dieses Beispiels bei
\name{Bloch
}, Einführung in die Relativitätstheorie,
3729 Teubner
1918, S.~
95.
3732 \pagelink{S.
}{33}.
\name{David Hilbert
}, Grundlagen der Geometrie, Teubner
1913, S.~
5.
3735 \pagelink{S.
}{33}.
\name{Moritz Schlick
}, Allgemeine Erkenntnislehre. Springer
3739 \pagelink{S.
}{41}.
\name{Schlick
}. a.~a.~O. S.~
55.
3742 \pagelink{S.
}{50}.
\name{Kant
}, Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. §~
14, S.~
126
3743 der Originalausgabe.
3746 \pagelink{S.
}{50}. Eine Begründung dieses Prinzips geben meine in
\Anmerkung{%
3747 20} genannten Arbeiten.
3750 \pagelink{S.
}{51}. Dieses Prinzip ist von
\name{Kurt Lewin
} analysiert worden.
3751 Vgl. seine in
\Anmerkung{20} genannten Arbeiten.
3754 \pagelink{S.
}{51}. Eine gute Übersicht über die Entwicklung der physikalischen
3755 Verknüpfungsaxiome gibt
\name{Haas
}, Naturwissenschaften
7,
1919, S.~
744.
3756 Freilich glaubt
\name{Haas
}, hier sämtliche Axiome der Physik vor sich zu
3757 haben, da er die Notwendigkeit physikalischer Zuordnungsaxiome nicht
3761 \pagelink{S.
}{53}. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
43. Es ist nicht recht
3762 einzusehen, warum
\name{Kant
} glaubt, daß diese anderen Wesen nur in der
3763 Anschauung von uns differieren können und nicht auch in den Kategorien.
3764 Seine Theorie würde auch durch diese Möglichkeit nicht gestört.
3767 \pagelink{S.
}{54}. Man wird mir vielleicht den Einwand machen, daß
\name{Kant
} niemals
3768 das Wort Evidenz zur Charakterisierung apriorer Prinzipien benutzt
3769 hat. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß die von
\name{Kant
} behauptete
\emph{Einsicht
3770 in die notwendige Geltung
} apriorer Sätze nichts anderes ist,
3771 als was wir hier und oben als Evidenz bezeichnet haben. Ich gebe zu,
3772 daß das Verfahren
\name{Kants
}, von der Existenz evidenter apriorer Sätze
3773 als einem Faktum auszugehen und nur ihre Stellung im Erkenntnisbegriff
3774 zu analysieren, von manchen Neukantianern aufgegeben worden
3775 ist -- wenn mir auch scheint, daß damit ein tiefes Prinzip der
3777 \name{Kant
}ischen Lehre verloren ging, an dessen Stelle bisher kein besseres gesetzt
3778 wurde -- aber ich will mich in dieser Untersuchung allein auf eine Auseinandersetzung
3779 mit der Lehre
\name{Kants
} in ihrer ursprünglichen Form
3780 beschränken. Denn ich glaube, daß diese Lehre in bisher unerreichter
3781 Höhe über aller andern Philosophie steht, und daß nur sie selbst in ihrem
3782 exakt ausgeführten System der
\name{Einstein
}schen Lehre äquivalent in dem
3783 Sinne ist, daß eine Diskussion fruchtbar wird. Zur Begründung meiner
3784 Auffassung von
\name{Kants
} Aprioritätsbegriff nenne ich folgende Stellen aus
3785 der Kritik der reinen Vernunft (
2.~Aufl., Seiten nach der Originalausgabe):
3786 \glqq{}Es kommt hier auf ein Merkmal an, woran wir sicher ein reines Erkenntnis
3787 von empirischen unterscheiden können. Erfahrung lehrt uns zwar, daß
3788 etwas so oder so beschaffen sei, aber nicht, daß es nicht anders sein
3789 könne. Findet sich also erstlich ein Satz,
\emph{der zugleich mit seiner
3790 Notwendigkeit gedacht wird
}, so ist er ein Urteil apriori (S.~
3). Wo
3791 dagegen strenge Allgemeingültigkeit zu einem Urteile wesentlich gehört,
3792 da zeigt diese auf einen besonderen Erkenntnisquell desselben, nämlich
3793 ein Vermögen des Erkenntnisses apriori (S.~
4). Daß es nun dergleichen
3794 notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin reine Urteile
3795 apriori im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe, ist leicht zu zeigen.
3796 Will man ein Beispiel aus Wissenschaften, so darf man nur auf alle Sätze
3797 der Mathematik hinaussehen; will man ein solches aus dem gemeinsten
3798 Verstandesgebrauche, so kann der Satz, daß alle Veränderung eine Ursache
3799 haben müsse, dazu dienen; ja in dem letzteren enthält selbst der Begriff
3800 einer Ursache so
\emph{offenbar den Begriff einer Notwendigkeit
} der
3801 Verknüpfung mit einer Wirkung und einer strengen Allgemeinheit der
3802 Regel, daß er gänzlich verloren gehen würde, wenn man ihn
\ldots{} von
3803 einer Gewohnheit, Vorstellungen zu verknüpfen, ableiten wollte
\grqq{}
3806 \glqq{}Naturwissenschaft enthält synthetische Urteile apriori als Prinzipien
3807 in sich. Ich will nur ein paar Sätze zum Beispiel anführen, als den Satz,
3808 daß in allen Veränderungen der körperlichen Welt die Quantität der
3809 Materie unverändert bleibe, oder daß in aller Mitteilung der Bewegung
3810 Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander gleich sein müssen. An
3811 beiden ist nicht allein die
\emph{Notwendigkeit, mithin ihr Ursprung
3812 apriori
}, sondern auch daß sie synthetische Sätze sind, klar
\grqq{} (S.~
17).
3814 Und von der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft,
3815 dem Inbegriff der aprioren Sätze dieser Wissenschaften, heißt es:
\glqq{}Von
3816 diesen Wissenschaften, da sie wirklich gegeben sind, läßt sich nun wohl
3817 geziemend fragen,
\emph{wie
} sie möglich sind, denn
\emph{daß
} sie möglich sein
3818 müssen, wird durch ihre Wirklichkeit bewiesen
\grqq{} (S.~
20). Und Prolegomena,
3819 S.~
275 und
276 der Akademieausgabe:
\glqq{}Es trifft sich aber
3820 glücklicherweise,
\ldots{} daß gewisse reine synthetische Erkenntnis apriori
3821 wirklich und gegeben sei, nämlich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft;
3822 denn beide enthalten Sätze, die teils apodiktisch gewiß
3823 durch bloße Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der
3824 Erfahrung, und dennoch als von Erfahrung unabhängig durchgängig
3825 anerkannt werden.
\ldots{} Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher
3826 Sätze hier nicht zuerst suchen, d.\,i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es
3827 sind deren genug, und zwar mit unstreitiger Gewißheit, wirklich gegeben.
\grqq{}
3829 Für die zweite Bedeutung des Apriori-Begriffes, die wohl nicht
3830 bestritten werden wird, brauche ich keine Zitate anzuführen. Ich verweise
3831 dafür vor allem auf die transzendentale Deduktion in der Kritik
3832 der reinen Vernunft.
3836 \pagelink{S.
}{64}. Für eine genaue Begründung dieser wahrscheinlichkeitstheoretischen
3837 Hypothese muß auf die in
\Anmerkung{20} genannten Arbeiten
3838 des Verfassers hingewiesen werden.
3841 \pagelink{S.
}{68}. Kritik der Urteilskraft. Einleitung, Abschnitt~
\chapref{V
}.
3844 \pagelink{S.
}{72}.
\name{Reichenbach
}. Der Begriff der Wahrscheinlichkeit für die
3845 mathematische Darstellung der Wirklichkeit. Dissertation Erlangen
1915
3846 und Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd.~
161,
3847 Barth
1917. -- Die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung,
3848 Naturwiss.
8,
3, S.~
46--
55. -- Philosophische Kritik der
3849 Wahrscheinlichkeitsrechnung, Naturwiss.
8,
8, S.~
146--
153, Springer
1920, --
3850 Über die physikalischen Voraussetzungen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
3851 Zeitschrift für Physik
1920, Bd.~
2. Heft
2, S.~
150--
171.
3853 Die gleiche Arbeitsrichtung verfolgen die wissenschaftstheoretischen
3854 Arbeiten von
\name{Kurt Lewin
}: Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und
3855 Physik und die Darstellung vollständiger Stammbäume, Bornträger,
3856 Berlin
1920, und: Der Ordnungstypus der genetischen Reihen in Physik,
3857 organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte, Bornträger, Berlin
3860 Über die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie
3861 liegt neuerdings eine Arbeit von
\name{Ernst Cassirer
} vor (Zur
\name{Einstein
}schen
3862 Relativitätstheorie, erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin
1920,
3863 B.
\name{Cassirer
}), in der zum ersten Male von einem hervorragenden Vertreter
3864 der neukantischen Richtung eine Auseinandersetzung mit der allgemeinen
3865 Relativitätstheorie versucht wird. Die Arbeit will für die Diskussion
3867 zwischen Physikern und Philosophen eine Grundlage geben. In der Tat
3868 erscheint von neukantischer Seite niemand zur Einleitung der Diskussion
3869 berufener als
\name{Cassirer
}, dessen kritische Auflösung physikalischer
3870 Begriffe von jeher eine Richtung einschlug, die der Relativitätstheorie
3871 nicht fremd ist. Besonders gilt das für den Substanzbegriff. (Vgl. E.
\name{Cassirer
},
3872 Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin
1910. B.
\name{Cassirer
}).
3873 Leider war es mir nicht möglich, auf
\name{Cassirers
} Arbeit einzugehen, da
3874 ich sie erst nach Drucklegung meiner Schrift lesen konnte.
3877 \pagelink{S.
}{73}.
\name{Hermann Weyl
}, Raum-Zeit-Materie. Verlag von Julius
3878 Springer
1918, S.~
227.
\name{Arthur Haas
}, Die Physik als geometrische
3879 Notwendigkeit. Naturwiss.
8,
7, S.~
121--
140. Springer
1920.
3882 \pagelink{S.
}{73} \name{Hermann Weyl
}, Gravitation und Elektrizität. Sitz.-Ber.
3883 der Berliner Akademie.
1918, S.~
465--
480.
3886 \pagelink{S.
}{75}. Vgl. z.\,B. Kritik der reinen Vernunft.
2.~Aufl. S.~
228.
\glqq{}Ein
3887 Philosoph wurde gefragt: Wieviel wiegt der Rauch? Er antwortete: Ziehe
3888 von dem Gewichte des verbrannten Holzes das Gewicht der übrig bleibenden
3889 Asche ab, so hast du das Gewicht des Rauches. Er setzte also als
3890 unwidersprechlich voraus, daß selbst im Feuer die Materie (Substanz)
3891 nicht vergehe, sondern nur die Form derselben eine Abänderung erleide.
\grqq{}
3892 Dieses Beispiel ist zwar chemisch falsch, zeigt aber deutlich, wie konkret
3893 sich
\name{Kant
} die Substanz als wägbare Materie vorstellt.
3896 \pagelink{S.
}{78}. In diesem Sinne muß ich die in meinen früheren Arbeiten
3897 (vgl.
\Anm{20}) aufgestellte Behauptung, daß dieses Prinzip durch Erfahrungen
3898 nicht widerlegt werden könne, jetzt berichtigen. Eine Widerlegung
3899 in dem Sinne einer begrifflichen Verallgemeinerung ist nach dem Verfahren
3900 der stetigen Erweiterung allerdings möglich; aber natürlich hat eine so
3901 primitive Prüfung keinen Sinn, wie sie durch Auszählen einfacher Wahrscheinlichkeitsverteilungen
3902 gelegentlich versucht wird.
3905 \pagelink{S.
}{79}. Vgl. hierzu meine in
\Anmerkung{20} genannte erste Arbeit,
3909 \pagelink{S.
}{80}. Vgl. die in
\Anmerkung{10} genannte Arbeit, S.~
323.
3912 \pagelink{S.
}{82}. Es ist auffallend, daß
\name{Schlick
}, der den Begriff der eindeutigen
3913 Zuordnung in den Mittelpunkt seiner Untersuchungen stellt und
3914 um den Nachweis der Bedeutung dieses Begriffs ein großes Verdienst
3915 hat, die Möglichkeit einer solchen Verallgemeinerung gar nicht gesehen
3916 hat. Ihm ist es selbstverständlich, daß die Zuordnung eindeutig sein
3917 muß; er hält es für eine notwendige menschliche Veranlagung, auf diese
3918 Weise zu erkennen, und meint, daß die Erkenntnis vor einem non possumus
3919 stände, wenn sie einmal mit der eindeutigen Zuordnung nicht mehr
3920 weiter käme (
\Anmerkung{10}, S.~
344). Aber etwas anderes hatte
\name{Kant
}
3921 auch nicht behauptet, als er seine Kategorien aufstellte. Es ist bezeichnend
3922 für
\name{Schlicks
} psychologisierende Methode, daß er den richtigen Teil der
3923 \name{Kant
}ischen Lehre, nämlich die konstitutive Bedeutung der Zuordnungsprinzipien,
3924 mit vielen Beweisen zu widerlegen glaubt und den fehlerhaften
3925 Teil übernimmt, ohne es zu bemerken; die Charakterisierung der Erkenntnis
3926 als eindeutige Zuordnung ist
\name{Schlicks
} Analyse der Vernunft,
3927 und die Eindeutigkeit sein synthetisches Urteil apriori.
3931 \pagelink{S.
}{91}.
\name{Helge Holst
}, Die kausale Relativitätsforderung und
3932 \name{Einsteins
} Relativitätstheorie, Det Kgl. Danske Vidensk. Selskab
3933 Math.-fys. Medd. II,
11, Kopenhagen,
1919.